Gespräch am 29. Mai 1993
György Ligeti und Manfred Stahnke
STAHNKE: Ich gratuliere nicht zu Ihrem Geburtstag, aber ich denke an Sie, und ich möchte einige Fragen stellen. Es gibt im Augenblick eine Manierismus-Diskussion in Musik-Texte.85
LIGETI: Also, ich muss sagen, ich habe Herrn Mahnkopf nicht gut verstanden. Ich bin zu einfach, um das richtig zu verstehen.
S.: Ich habe 1970 in Freiburg das erste Mal diese Sprache gehört, und sie ist so geblieben in etwa.
L.: Es ist ein Jargon wie ein politischer Jargon. Schließlich hat die Darmstädter serielle Schule auch einen Jargon gehabt, mit solchen Wörtern wie "Ereignisdichte" und "Entropie" und "Parameter". Wenn man die Texte aus den 50er Jahren liest, "die reihe" z.B.: das ist dermaßen imponierend, hochgestochen. Nur weiß ich nicht, ob in der Musik die Musik nicht wesentlicher ist als der discours.
S.: Ich denke an Ferneyhough, der den Manierismus positiv sieht.
L.: Kann man wohl, sicher. So hat Gustav René Hocke über Manierismus gedacht aufgrund von Ernst Robert Curtius, der sein Lehrer war und sich mit der italienischen Renaissance auf so tiefe Weise beschäftigt hat.86
Eine Sache sind Fakten in der Wissenschaft: Das und das existiert. Das andere ist dann die Wertung, wo plötzlich eine Richtung, eine Schule, ein ästhetischer Standpunkt höher bewertet wird als ein anderer: reine Auffassungssache oder Ideologie.
Ich denke zum Beispiel an den Anfang des 19. Jahrhunderts in England: Plötzlich die Überbewertung der Gotik und überhaupt des Mittelalters. Der Romanschriftsteller Walter Scott, und in Frankreich Victor Hugo: sein Notre-Dame-Roman. Hier wurde alles Mittelalterliche sehr überbewertet. Ich denke dann an die Stiländerung mit den Präraffaeliten. Plötzlich ist Mittelalter out und Frührenaissance in. Das sind augenblickliche Moden. Ich denke an die französische Poesie im 19. Jahrhundert: Einmal herrscht totaler Klassizismus, das sind die Parnassiens. Und dann kommt - oder parallel damit - Symbolismus: Mallarmé. Oder dann später im 20. Jh. existieren gleichzeitig die surrealistischen und konstruktivistischen Ideologien, total gegensätzlich. Dabei denke ich jetzt nicht an die ideologischen Clubs, an André Breton. Ich nehme den größten surrealistischen Maler Salvador Dalí. Dalí können Sie nicht in einen Topf werfen mit dem Konstruktivismus, Le Corbusier zum Beispiel: inkompatibel. Ja, wer hat recht?
S.: Ich habe bei Ferneyhough erlebt, wie er vom Graphischen kam. Er malte seine Partituren ganz penibel in Schwarz, in Weiß, ja auch mit Deckweiß. Das Kalligraphische war bei ihm sehr wichtig. Damals war es Cassandra's Dreamsong. Das Kalligraphische der Partituren, der Augenschein des Komplexen, ist bis heute in Freiburg wichtig geblieben. Derselbe Zustand besteht dort jetzt 20 Jahre.
Wenn ich das bedenke, kommt meine Frage: Warum wäre solch ein Stehenbleiben für Sie, Herr Ligeti, undenkbar? Es muss bei Ihnen eine innere Notwendigkeit der Antithesenbildung geben.
L.: Für mich bedeutet Komponieren so etwas wie die wissenschaftliche Arbeit: Es gibt bestimmte Probleme, die auftauchen. Man sucht, diese Probleme zu lösen. Ich denke an solche Bereiche der Mathematik wie Optimierung, kombinatorische Optimierung. Das sind Aufgaben, die nicht eine eindeutige, einfache Lösung haben, sondern verschiedene Strategien erfordern. Es sind Annäherungsversuche. Es ist eigentlich ein Vorgang wie in der geographischen Forschung, als es noch Gegenden in der Welt gab mit weißen Flecken. Dann sind Leute z.B. in die Antarktis gegangen oder früher in den brasilianischen Regenwald, um noch weiter zu erforschen, die Landkarte zu ergänzen.
Das ist doch der große Unterschied zwischen Wissenschaft einerseits und Ideologien oder Lehrgebäuden oder großen zusammenhängenden philosophischen Systemen auf der anderen Seite: Ein Philosoph oder ein Ideologe, ein Religionsstifter, der Autor einer zusammenhängenden Lehre oder Weltanschauung, der will an sich alle Dinge der Welt durch ein System erklären. Ich denke an die Philosophen im vorigen Jahrhundert wie Fichte oder Hegel, Schopenhauer. Hier gibt es einen Anspruch von Allumfassendheit, oft in totalen Dilettantismus abgleitend. Ich denke an Rudolf Steiner. An seiner Anthroposophie hängt so sehr Vieles, wie Architektonisches: das Goetheanum, Pädagogisches: die Waldorfschulen - eine ganze Lebensauffassung. Das ist nicht Wissenschaft. Es ist in dem Fall auch nicht Philosophie. Es ist eine Lehre von allen Dingen. Der Marxismus ist etwas Ähnliches, mit Einschränkungen auch die Psychoanalyse, wobei Freud doch einem Wissenschaftler näher steht.
Meine Einstellung zum Komponieren ist zwar nicht wissenschaftlich, hat aber viele Analogien mit der wissenschaftlichen Denkweise. Ein Wissenschaftler, der in einem Bereich arbeitet, beansprucht nie, alles zu erklären. Er sagt: Ich stelle mir ein Detailproblem und versuche, dazu eine plausible Theorie zu finden, die den Fakten entspricht. Und wenn Fakten auftauchen, die der Theorie widersprechen, werde ich meine Theorie modifizieren. Hier sehe ich den grundsätzlichen Unterschied zwischen Wissenschaft - nicht nur den Naturwissenschaften, sondern auch zum Beispiel der Soziologie - und Ideologie.
In den Wissenschaften ist es sehr selten, dass eine Auffassung total negiert wird. Es geht meistens um Modifikationen, Ergänzungen. Nehmen wir die Physik: Einstein hat Newtons Mechanik nicht ungültig gemacht, nur ergänzt für Phänomene im Bereich von großen Geschwindigkeiten.
Nun sind aber Kunst und Wissenschaft sehr verschiedene Gebiete des Geistes. Und man soll wissenschaftliche Modelle nicht auf die Kunst projizieren. Ich werfe Xenakis z.B. vor, dass er ohne weiteres Kalküle, sehr oft ungesicherte und etwas naive mathematische Manipulationen, appliziert hat. Er glaubte, dass das, was als Algorithmus einen Sinn hat, auch musikalisch einen Sinn haben müsse.
S.: Und John Cage, seine Zufallsmanipulationen?
L.: Ja, ich sehe darin auch eine Attitüde. Es ist eine Weltanschauung. Man kann ein Stück von Cage nicht nach denselben Kriterien betrachten wie ein Haydn-Streichquartett. Man muss es betrachten als das, was es ist, eben ein Nicht-Werk. Und zu Cages Einstellung gehört: Alles ist eigentlich beliebig. Wenn ich dies als Kunstwerk bezeichne, kann alles ein Kunstwerk sein. Ob es Musik ist oder Graphik - eigentlich austauschbar. Auch alltägliche Objekte und Situationen gehören dazu. Diese Auffassung geht übrigens auf Marcel Duchamp zurück.
Ich muss jetzt einen Schritt weiter gehen - und das gibt jetzt ein Werturteil: Ich neige dazu, es nicht zu akzeptieren oder zu lieben, wenn ein Künstler eine künstlerische Theorie aufstellt, und die Werke entsprechen dieser Theorie. Das waren meine Schwierigkeiten schon mit Stockhausen, bei Boulez nur mit Structures Ia. Boulez ist dann sehr schnell davon weggekommen.
Es wird ein Axiomensystem aufgestellt, und daraus dann eine Arbeitsweise abgeleitet. Auf irgendeine Art ist das die Stockhausensche und auch die Boulezsche Serialität, auch die Cagesche Methode nach I-Ging oder nach Zufallsmanipulationen. Die Resultate sind - darüber habe ich schon oft geschrieben - verblüfend ähnlich: Sie ergeben eine mehr oder weniger gleichmäßige Verteilung von Elementen innerhalb einer Zeitspanne.
Noch einen Schritt weiter: Ich fühle mich allzu arrogant, wenn ich mich gegen Ferneyhough und seine Schule wende. Ich habe trotzdem eine kritische Einstellung bezüglich des Freiburger Kreises. Ich habe so den Eindruck: Da wird ein großes gedankliches Gebäude ausgearbeitet. Die Musikstücke sind fast nur Nebenprodukt. Aufgrund des gedanklichen Gebäudes werden Partituren hergestellt. Sie schauen sehr imponierend aus.
Es stellt sich die Frage: Entspricht das, was erklingt, der Komplexität der Partitur? In der Mathematik kann man Systeme bauen. Es gibt z.B. das "Erlanger Programm" von Felix Klein,87 ein Entwurf, die ganze Mathematik aufgrund einer Sichtweise aufzubauen. Ein anderes Beispiel ist Bourbaki.88 Das ist in dem Fall kein einzelner Mensch, sondern eine Gruppe von französischen Mathematikern. Bourbaki baut die ganze Mathematik aufgrund der Mengenlehre als ein großes zusammenhängendes Gebäude auf.
S.: Ich denke an Bertrand Russell und die Auseinandersetzung mit seinem System durch Douglas R. Hofstaedter: die notwendige Löcherigkeit jedes zusammenhängenden Systems.89
L.: Es gibt auch andere Arten von Anschauungen in der Mathematik, die sich mit Bourbaki dann nicht vereinbaren lassen.
Das, was Ferneyhough und seine Schule, auch Xenakis machen, ist für mich ein bisschen wie Bourbaki. Es ist ein Programm. Es ist eine Art, die Sachen zu sehen. Man muss alles untermauern durch eine allgemeine Theorie. Die Werke sind dann mehr oder weniger fast nur Beispiele dieser Theorie. Das war schon bei Stockhausen und Boulez in den 50er Jahren ähnlich.
Meine Einstellung ist eine ganz andere. Ich habe ganz bestimmte Vorstellungen, Probleme, die ich löse für jetzt - und provisorisch. Und wenn ich sie gelöst habe, ergeben sich - so wie in der Wissenschaft - hunderte neue Probleme. Neue Ideen werden aufgeworfen. Und deswegen ändere ich dauernd meine Musiksprache. Wenn ich etwas gemacht habe - sagen wir, ich habe bestimmte mikrotonale Intervallverhältnisse in meinem Doppelkonzert für Flöte und Oboe versucht, das war 1972 - dann hatte ich ein Ergebnis. Einiges empfand ich als provisorisch richtig, es entsprach meiner Vorstellung, anderes fand ich schwach. Und jetzt kommen die nächsten Überlegungen. Da kommen verschiedene Einflüsse, z.B. die Kenntnis von verschiedenen ethnischen Kulturen, und Sie haben mich sehr beeinflusst mit Ihren Überlegungen zu verschiedenen Stimmungen, und dann komme ich zu einer nächsten Idee, das ist mein Violinkonzert. Aber es ist eine partikuläre Idee, es ist keine allgemeine Theorie.
S.: Vielleicht darf ich noch einen Schritt zurückgehen: Es gibt ja doch einen einheitlichen Ligeti. Auf eine Weise sind alle Stücke sehr verbunden miteinander. Ich wollte eine Frage anschließen: Es hätte einen Komponisten geben können, der ausgegangen wäre von einem hörpsychologischen Komponieren, etwa im Zustand Atmosphères, wo Summeninformationen gegeben werden und der Hörer sich bestimmte Dinge herausfiltert. So sind Sie ja nie oder nicht ausschließlich weiter vorgegangen. Zwar haben Sie letzten Endes immer das Hören in den Mittelpunkt gestellt. Ich will mal behaupten, das Hören sei Ihnen das Wichtige: neue Wege sozusagen aufzutun, damit man das, was Musik einmal war, auf eine ganz andere Weise wahrnehmen könnte.
L.: Andere Hörkonzepte zu finden, würde ich sagen.
S.: Wenn ich z.B. Vasarély nehme, der irgendwo solch ein Künstler für mich war in einem Kästchen "Psychologisieren": Sie haben das ja eigentlich nie gemacht. Sie haben jeweils neue Schichten nach und nach dazugenommen, eigentlich eine Zwiebel gebaut. Der Kern ist geblieben.
L.: Einverstanden. Ja, es ist derselbe Mensch. Aber gemacht habe ich verschiedene Dinge. Und zwar, weil ich mich nicht wiederholen wollte. Es gibt schon jeweils eine Serie von Werken. Wenn Sie Atmosphères und Lontano nehmen, oder Atmosphères und Volumina, das sind schon Varianten derselben Formel. Aber z.B. nach Lontano habe ich das aufgegeben. Ja, da war noch das Cellokonzert, aber dann habe ich diesen total statischen Gestus aufgegeben und etwas anderes gesucht.
S.: Lontano ist aber doch ein wesentlicher Schritt weg von Atmosphères. Es ...