1. Abwehrmechanismen
Für andere alles zu machen, macht andere schuldig. Ist das ein guter Dienst?
Man ist erwachsen, wenn man niemandem mehr gefallen will.
Das Überflüssige muss weg, damit man das Wesentliche sieht.
Sensationen sind reizvoll, wenn sie selten sind. Zwei am Tag sind eine schiere Plage.
Gut und Böse sind nicht immer blanke Gegensätze. Je nachdem aus welcher Perspektive man sie betrachtet, erscheinen sie zuweilen als dasselbe.
Die Neigung, sich selbst zu entwerten, ist oft ein Introjekt abwertender Botschaften aus dem Umfeld. Als Introjektion (lateinisch das Hineingeworfene) bezeichnet man die unüberlegte Übernahme fester Denk- und Bewertungsmuster von außen.
Grundprinzip
Durch die Verengung des Weltbilds auf einen kontrollierten Ausschnitt der Wirklichkeit wird die Angst vor der Ungewissheit des Daseins aus dem Bewusstsein beseitigt. Statt ohne Wenn und Aber in der Welt zu stehen, richtet sich das Ego in einem Ausschnitt persönlicher Sichtweisen ein. Dort kann es glauben, dass es nicht mehr an sich zweifeln muss und über seine Welt verfügen kann. Fühlbare Angst wird von einer Illusion der Sicherheit verdeckt.
Angst und Weltbild
Weder die Außenwelt noch die Dynamik seiner Seele ist dem Menschen geheuer. Beide Elemente der Wirklichkeit erschrecken ihn durch ein bedrohliches Netzwerk an Kräften. Deren Übermacht fühlt er sich ausgeliefert. Darauf reagiert er mit Angst.
Der Angst, abgeleitet von indoeuropäisch angh = eng, folgt der Impuls, in eine schützende Enge zu flüchten. Um die Angst zu mindern, versucht das Ego, ein beruhigendes Weltbild zu schaffen. Beruhigend wirkt ein Weltbild, wenn man es überblicken kann; und wenn es die Illusion vermittelt, man könne die Wirklichkeit so kontrollieren, dass es keinen Grund mehr zum Fürchten gibt. Dazu benutzt das Ego Werkzeuge: Abwehrmechanismen.
Coping-Strategie oder Abwehrmechanismus
Zwischen Coping-Strategien (englisch to cope = bewältigen) und Abwehrmechanismen gibt es Ähnlichkeiten und Unterschiede. Beide dienen der Bewältigung unerwünschter Erlebnisqualitäten.
Während der Abwehrmechanismus ein Grundmuster im Umgang mit alltäglichen Widrigkeiten darstellt, kommt die Coping-Strategie bei konkret belastenden Einzelerlebnissen zum Einsatz. Dabei greift sie oft gleichzeitig auf verschiedene Abwehrmechanismen zurück.
Abwehrmechanismen sind psychische Manöver, durch die man ein überschaubares Weltbild aufrechterhält. Was ein überschaubares Weltbild stören könnte, blenden Abwehrmechanismen aus. Dazu gehören Fakten, die man nicht wahrhaben will ebenso wie Gefühle und Handlungsimpulse, vor denen man sich fürchtet.
Die Palette der Abwehrmechanismen ist breit gefächert. Zum Teil gehen sie ineinander über. Oder sie überlappen sich. Obwohl jeder bestimmte Muster bevorzugt, gibt es niemanden, der sich nicht verschiedener bedient.
Abwehr oder Problemlösung
Die Grenzen zwischen Abwehr und Problemlösung sind fließend. Nehmen wir an, Sie langweilen sich. Sie entschließen sich, ins Netz zu gehen und herumzusurfen. Durch Zufall landen Sie auf dieser Seite. Ist das nun eine kreative Lösung des Problems oder wehren Sie durch Ablenkung gefürchtete Impulse ab, die hinter der Langeweile auf Sie warten?
Ob ein Verhalten Abwehr oder kreative Gestaltung ist, ist objektiv kaum zu beurteilen. Das gleiche Verhalten kann mal das eine, mal das andere sein. Entscheiden kann man nur, wenn man die Details der jeweiligen Situation beachtet und das Motiv, das hinter dem Verhalten steckt, erkennt.
Wichtige Abwehrmechanismen
Die Definition der Abwehrmechanismen gehört zu den Konzepten der Psychoanalyse. Den Grundstein legten Sigmund Freud (1915) und seine Tochter Anna (1936). Spätere Vertreter der analytischen und tiefenpsychologischen Schulen haben die ursprünglichen Konzepte ausgebaut (Vaillant 1992, König 1996). Neben der folgenden Liste kann alles als Abwehrmechanismus benannt werden, was der Stabilisierung des Welt- und Selbstbilds bei der Konfrontation mit der Wirklichkeit dient. Als Beispiel sei die Betäubung durch Suchtmittel genannt. Süchtiger Substanzkonsum kann aber auch als chemisch unterstützte Variante der Verdrängung aufgefasst werden.
Abwertung
Abwertung spielt als Abwehrmechanismus eine herausragende Rolle. Dabei werden Aspekte der Realität als bedeutungslos oder unwert betrachtet um das bestehende Welt- und Selbstbild gegen eine Infragestellung durch die abgewerteten Elemente abzuschirmen. In der Fabel vom Fuchs, der die Trauben, die zu hoch für ihn hängen, für sauer erklärt, ist der Mechanismus bildhaft dargestellt.
Abwertung kann sich gegen sämtliche Wirklichkeitsaspekte richten, durch die man sich verunsichert fühlt.
- Technomusik ist nichts anderes als Zombiegestammel.
- Das neue Betriebssystem ist der letzte Scheiß.
- Chinesisches Essen schmeckt nach gegrillten Kakerlaken.
Besonders abträglich ist der Mechanismus, wenn er sich gegen Personen wendet.
- Nachdem Ines seine Einladung zum Essen abgelehnt hatte, hielt Marvin sie für eine dumme Ziege.
- Mit ihren Computerkenntnissen will sich die Neue beim Chef bloß wichtigmachen.
Selbstabwertung
Ein verbreitetes Übel ist die Selbstabwertung. Abwertende Urteile über sich selbst können verschiedene Funktionen haben:
- Sie bremsen expansive Impulse aus, um gefürchtete Rivalitäten und Konflikte zu vermeiden.
- Eine graue Maus wie ich hat auf der Party nichts zu suchen.
- Ines behandelt mich herablassend, weil ich mal wieder was Blödes gesagt habe. Da kann ich nicht verlangen, dass sie anders mit mir umgeht.
- Sie dienen dazu, sich als Reaktion auf die Abwertung mehr ins Zeug zu legen: Ich Idiot habe den dritten Satz vermasselt.
Abwertungen ganzer Menschengruppen bringen sich als sexistische, rassistische, konfessionelle oder nationalistische Sichtweisen zum Ausdruck. Wer nicht das gleiche glaubt, wie wir, ist des Teufels.
Die Abwertung von Bezugspersonen kann im Stillen vollzogen werden. Dann dient sie vorrangig dem eigenen Selbstwertgefühl. Sie ist ein pathologischer Heilungsversuch narzisstischer Zweifel.
- Samuel sieht verdammt gut aus... aber eigentlich ist er ein Schwachkopf.
Eine nützliche Übung
Wer andere abwertet, macht es unbewusst auch mit sich selbst. Achten Sie darauf, wann und warum Sie abwerten. Formulieren Sie stattdessen kreative Kritik; oder erkennen Sie, wodurch Sie sich selbst entwertet fühlen.
Wird Abwertung offensiv ausgetragen, entsteht, was man als Mobbing bezeichnet. Dann dient sie zusätzlich sozialer Konkurrenz.
Affektisolierung
Bei der Affektisolierung wird die emotionale Reaktion auf ein Ereignis ausgeblendet. Man könnte auch sagen: Das Gefühl wird in Quarantäne geschickt. Somit vermeidet man, sich die emotionale Komponente eigener Handlungsmotive einzugestehen. Man erlebt sich als ausführendes Organ einer nüchternen Notwendigkeit. Man handelt so, als habe man mit den eigenen Gefühlen nichts zu tun.
- Als Petra ihm von ihrer Affäre mit Bernd erzählte, blieb Sven völlig gefasst. Er packte wortlos seine Sachen und ging.
- Richter Besenrein hat nichts gegen den Angeklagten. Das Gesetz muss aber in aller Strenge angewendet werden.
- Als Martha ihre Tochter verdrosch, spürte sie weder Wut, Schuld noch Reue. Eine Tracht Prügel hat Kindern noch nie geschadet.
Von Gefühlen, die man nicht bewusst durchlebt, wird man besessen.
Die Affektisolierung geht oft mit einer Rationalisierung der eigenen Motive einher; zum Beispiel dem Argument, Prügel führten Kinder auf den rechten Weg. Sie führt jedoch nicht zu einer Befreiung des Verhaltens vom störenden Einfluss ungesteuerter Emotionen. Vielmehr wird man erst recht durch den ausgeblendeten Affekt bestimmt. So steckt hinter Svens Schweigen womöglich der Impuls, Petra durch scheinbare Gleichgültigkeit zu strafen und Richter Besenrein weiß nichts von seinem Neid auf jene, die es sich im Gegensatz zu ihm erlauben, Regeln bei Bedarf zu übertreten.
Dem Anderen nützt nicht nur, dass man ihn mit Kuchen füttert. Es nützt ihm auch, dass man eine Grenze hat. Einem selbst nützt das ebenfalls.
Hinter einer Abtretung steckt oft die Erwartung besonderer Dankbarkeit. Aus einem Ich tue das doch gerne für Dich wird ein Ich habe doch so viel für Dich getan. Altruismus und Egoismus bilden dann ein unübersichtliches Gemenge, das eine Beziehung regelrecht vergiften kann.
Der pathologische Altruist versucht, sein Ego aufzuwerten, indem er es abwertet.
Altruistische Abtretung
Bei der altruistischen Abtretung werden eigene Interessen verleugnet. Stattdessen gilt aller Einsatz ähnlichen Interessen anderer, für die sich der Altruist dann um so hemmungsloser einsetzt. Der Anspruch auf die Erfüllung von Bedürfnissen wird abgetreten. Typische Vertreter abgetretener Interessen sind...
- das Mitglied des Betriebsrats, das sich für jede Forderung unzufriedener Kollegen der Firma gegenüber in die Nesseln setzt
- Eltern, die sich, wenn es um ihre Kinder geht, in Raubtiere verwandeln; während sie, was eigene Bedürfnisse betrifft, zögerlich sind
- der Sozialberufler, der Klienten jeden Wunsch erfüllt. Mit fünfzig braucht er eine Reha.
- die Nonne, die im Dienst am Guten auf alles Eigene verzichtet
Die altruistische Abtr...