V Das esoterische Weltbild
Esoterik ist heute ein schillernder Begriff geworden, um den sich viele Missverständnisse ranken. Zu viele Vorstellungen haben sich um diesen Begriff im Laufe der Zeit angesammelt. Dabei heißt Esoterik, wie wir oben gesehen haben, nicht mehr und nicht weniger als: der innere Kreis, der Innenweg, im Gegensatz zum uns allen geläufigen und vertrauten Außenweg, dem exoterischen, den wir als ganz normal und selbstverständlich ansehen.
Für die esoterische Lehre gibt es mehrere Bezeichnungen wie: „Hermetische Philosophie“, „Philosophia perennis“ d.h. „Die ewige Philosophie“, „Die Große Kette des Seins“, oder „Die Große Verschachtelung des Seins.“
Die Frage nach dem Sinn des Lebens
Wir versuchen unser Leben, unseren Alltag auf je eigene Art und Weise zu bewältigen. Unsere Sehnsüchte versammeln sich um den Begriff des Glückes, was immer der Einzelne damit verbindet. Normalerweise ist es Gesundheit, Reichtum, Ansehen, Erfolg, Karriere, beglückende Beziehungen usw.
Nun kann man sich natürlich fragen, warum gelingt es manchen Menschen, sich diese Wünsche zu erfüllen, und warum bleiben sie so vielen versagt? Und hat man diese Ziele mehr oder weniger erreicht, stellen sich neue Fragen: Und was nun? Wie kann ich das Erreichte sichern oder vielleicht noch ein wenig vermehren? Was ist, wenn ich krank werde, was habe ich dann von all dem Erreichten? Und was ist, wenn ich all das Erreichte verlassen, zurücklassen muss, weil meine Lebenszeit sich seinem Ende nähert?
Fragen über Fragen, aber keine befriedigenden Antworten. Gibt es ein Leben nach dem Tod? Hat das Leben überhaupt einen Sinn? Je nachdem in welche Richtung man diese Fragen stellt, bekommt man auch die entsprechenden Antworten. Gibt es überhaupt tragfähige Antworten oder sind alle nur Versuche, uns über unsere Situation hinweg zu trösten?
Nun, ich maße mir nicht an, diese Fragen eindeutig beantworten zu können, schon alleine deshalb nicht, weil es keine Eindeutigkeit gibt. Das Kennzeichen des Lebendigen ist der Widerspruch, ist die Ambivalenz. Man kann alles so oder so sehen, es aus den verschiedensten Blickwinkeln betrachten und je nach Standort werden die Antworten entsprechend ausfallen. Die einen glauben an die Wissenschaft, nachdem sie deren beeindruckenden „Erfolge“ als „Beweis“ für die Richtigkeit dieser Weltanschauung ansehen, die anderen suchen Halt bei ihrer Kirche, wieder andere kehren dieser enttäuscht den Rücken und wenden sich anderen Religionen oder gar Sekten zu, wieder andere machen sich scheinbar überhaupt keine Gedanken über den Sinn des menschlichen Daseins. Aber doch verlangen die meisten Menschen nach Dauer, Sicherheit und Sinn angesichts der fürchterlichen und tragischen Schicksale, die uns täglich umgeben und von den Medien in entsprechenden Bildern ins Haus geliefert werden.
Letzten Endes bleibt, meiner Meinung nach, nur die Religion übrig, nachdem wir die verschiedensten Philosophien und Weltbilder durchforstet haben. Aber welche Religion ist die „richtige“, welche weiß die Antworten auf die gestellten Fragen?
Die menschliche Existenz ist irgendwie angekränkelt, irgendwie gefährdet, irgendetwas stimmt doch nicht mit unseren Wünschen und Vorstellungen überein. Und haben wir irgendwann einen „Zipfel“ vom Glück erhascht, stellt sich vielleicht auch schon wieder die Angst ein, es zu verlieren. Wir lassen uns versichern gegen alle möglichen Eventualitäten des „Schicksals“ und sind froh, wenn wir ohne größere Schicksalsschläge davon kommen. Was ist eigentlich Schicksal? Ist nicht doch alles „Zufall“? Wie kann man negativem Schicksal und blindem Zufall entgehen? Gibt es Gott, oder sind solche Vorstellungen Wunschdenken? Und wenn es ihn gibt, warum hat er nicht eine „bessere“ Welt geschaffen? Wenn uns das Schicksal hart anfasst, dann taucht automatisch die Frage auf: Warum lässt Gott das zu, wenn er doch nur gut ist, wie uns die Kirchen versichern?
Wir könnten endlos so weiter fragen, ohne an ein Ende zu kommen. Dass die entsprechenden Antworten am ehesten doch aus dem religiösen Bereich kommen könnten, spüren wir unbewusst irgendwie.
Diese „Sache mit Gott“, hat schon seine Richtigkeit und wir werden später sehen, dass das Bild, das wir uns von Gott machen, sehr oft mit unserer erfahrenen Lebenswirklichkeit nicht in Deckung zu bringen ist. Es heißt ja schon in der Bibel, dass wir uns von Gott kein Bildnis machen dürfen, wobei darunter am ehesten gemeint sein mag, dass wir uns kein fixes Bild von diesem Gott machen sollen, obwohl uns die Kirche doch einen „persönlichen“ Gott lehrt. Letztlich kommen wir aber doch nicht um irgendeine Gottesvorstellung herum oder wir werden Agnostiker oder Atheisten. Dabei ist es für unser Leben von entscheidender Bedeutung, wie diese Vorstellung ausfällt, welches Gottesbild bzw. welches Weltbild wir zu unserem Eigenen machen. Es bestimmt unser Leben mehr als wir vielleicht glauben und es ist beileibe keine nebensächliche Angelegenheit, für welches Weltbild wir uns entscheiden.
Die Überschrift dieses Kapitels lautet: Das esoterische Weltbild und ich möchte versuchen, dieses Weltbild so verständlich wie möglich darzustellen, ohne irgendjemanden dafür vereinnahmen zu wollen. Vielleicht ist es möglich, diese Ausführungen zunächst einfach als Hypothesen anzusehen und sie so neutral wie möglich zu betrachten. Denn: Esoterik missioniert nicht.
Die Philosophia perennis, die ewige Philosophie
Es handelt sich bei Esoterik um eine uralte Lehre, die bis in die graue Vorzeit zurückreicht und historisch kaum festzumachen ist. Sie ist eine weltumspannende Lehre, die man mit verschiedenen Namen belegen kann, wie oben schon betont wurde. „Hermetische Philosophie“ oder „Die Große Kette des Seins“ oder eben schlicht und einfach – Esoterik.
Diese Philosophia perennis ist eine sich durch alle Zeiten und Kulturen hindurch ziehende Lehre, die nicht etwa – wie man vielleicht glauben könnte – als eine Theorie neben anderen Theorien zu verstehen ist, sondern als eine gemeinsame Erfahrung, die verschiedene Menschen in allen Kulturen und zu allen Zeiten gemacht haben, nachdem sie den esoterischen Weg gegangen sind.
Dazu Ken Wilber in seinem Buch „Naturwissenschaft und Religion“:„Huston Smith, für viele die führende zeitgenössische Autorität auf dem Gebiet der vergleichenden Religionswissenschaften, hat in seinem großartigen Buch Forgotten Truth gezeigt, daß praktisch alle großen Weltreligionen dem Glauben an die Große Kette des Seins anhängen. Mit diesem Befund steht Smith nicht allein.
Von Ananda Coomaraswamy bis René Guénon, von Fritjof Schuon bis Nikolaj Berdjaev, von Michael Murphy bis Roger Walsh, von Seyyed Nasr bis Lex Hixon lautet der Befund einhellig: Der Kern der prämodernen religiösen Welt ist die Große Kette des Seins.
Diese mehr oder weniger universelle Auffassung besagt, dass die Wirklichkeit ein reiches Gewebe ineinandergreifender Ebenen ist, die vom Stoff über den Körper und den Geist zur Seele und zum GEIST reichen. Jede höhere Ebene umfängt ihre niedrigeren Dimensionen in einer Aufeinanderfolge von Verschachtelungen des Seins, so daß alle Dinge und Ereignisse in der Welt mit allen anderen verwoben sind und alles letztlich vom GEIST, von Gott, von der Göttin, vom Dao, von Brahman, vom Absoluten umfangen und in dieses „eingefaltet“ ist.
Wie Arthur Lovejoy in seiner klassischen Abhandlung über die Große Kette ausführlich gezeigt hat, war diese Wirklichkeitsauffassung in der Tat „die vorherrschende offizielle Philosophie des größeren Teils der zivilisierten Menschheit während des größten Teils ihrer Geschichte“. Die Große Kette der Wesen ist die Weltsicht, der „die Mehrzahl der feinsinnigeren spekulativen Denker und der großen religiösen Lehrer (in Ost und West) in ihrer je unterschiedlichen Weise anhingen“. Diese erstaunliche Übereinstimmung tief religiöser Überzeugungen hat Alan Watts zu der folgenden schlichten Feststellung veranlaßt: „Wir sind uns der Eigenartigkeit unserer Haltung gar nicht bewußt und vermögen die schlichte Tatsache nicht einzusehen, daß es einmal einen philosophischen Konsens universeller Reichweite gab. Ihm hingen (Männer und Frauen) an, die von denselben Einsichten berichten und dieselben grundlegenden Lehren verkünden, ob sie heute oder vor 6000 Jahren lebten, in New Mexico im fernen Westen oder in Japan im fernen Osten.“ 1
Alle Kulturen wissen um diese Philosophie und es hat den Anschein, dass ausgerechnet unsere heutige, von der Wissenschaft stark geprägte Kultur, hier die Ausnahme bilden sollte.
Diese der Menschheit gemeinsame Philosophie beinhaltet die Summe allen Wissens, das über diese Welt errungen werden kann. Philosophie bedeutet ja die „Liebe zu Weisheit und Wahrheit“, und da es nur eine Wahrheit geben kann, kann es auch nur eine Philosophie geben, die dieser Wahrheit am nächsten kommt, und das ist die „Hermetische Philosophie“, die „Philosophia perennis“.
Diese Wahrheit wurde niedergeschrieben auf einer Tafel aus grünem orientalischem Korund, die seit langer Zeit verschollen ist und unter dem Namen „Tabula smaragdina“ in die Geschichte eingegangen ist. Dieser Text geht zurück auf Hermes Trismegistos, dem „dreimal großen Hermes.“ Er war Priester und Eingeweihter in Ägypten, seine Biographie ist geschichtlich nicht mehr rekonstruierbar, was aber der Wahrheit des Textes keinen Abbruch tut, weil Wahrheit, wie sich noch zeigen wird, nicht von historischen Fakten abhängig ist.
- Wahr ist es ohne Lügen, gewiß und aufs allerwahrhaftigste.
- Dasjenige, welches Unten ist, ist gleich demjenigen, welches Oben ist: Und dasjenige, welches Oben ist, ist gleich demjenigen, welches Unten ist, um zu vollbringen die Wunderwerke eines einzigen Dinges.
- Und gleich wie von dem einigen Gott erschaffen sind alle Dinge, in der Ausdenkung eines einigen Dinges. Also sind von diesem einigen Dinge geboren alle Dinge, in der Nachahmung.
- Dieses Dinges Vater ist die Sonne, dieses Dinges Mutter ist der Mond.
- Der Wind hat es in seinem Bauche getragen.
- Dieses Dinges Säugamme ist die Erde.
- Allhier bei diesem einigen Dinge ist der Vater aller Vollkommenheit der ganzen Welt.
- Desselben Dinges Kraft ist ganz beisammen, wenn es in Erde verkehret worden.
- Die Erde mußt du scheiden vom Feuer, das Subtile vom Dicken, lieblicherweise, mit einem großen Verstand.
- Es steiget von der Erden gen Himmel, und wieder herunter zur Erden, und empfänget die Kraft der Oberen- und der Unteren-Dinge.
- Also wirst du haben die Herrlichkeit der ganzen Welt. Derohalben wird von dir weichen aller Unverstand. Dieses einige Ding ist von aller Stärke die stärkeste Stärke, weil es alle Subtilitäten überwinden und alle Festigkeiten durchdringen wird.
- Auf diese Weise ist die Welt erschaffen.
- Daher werden wunderliche Nachahmungen sein, die Art und Weise derselben ist hierin beschrieben.
- Und also bin ich genannt Hermes Trismegistos, der ich besitze die drei Teile der Weisheit der ganzen Welt.
- Was ich gesagt habe von dem Werk der Sonnen, daran fehlet Nichts, es ist ganz vollkommen.
In diesen fünfzehn Thesen ist alles Wissen zusammengefaßt, das dem Menschen jemals zugänglich ist. 2
Es ist schwierig, die Bedeutung dieses Textes zu verstehen, aber das Studium der hermetischen Philosophie und ihrer Symbolik kann uns zum Verständnis dieser Weisheit führen. Es ist inhaltlich immer die gleiche Lehre, die sich durch alle Zeiten und Kulturen der Völker hindurchzieht – mit unwesentlichen formalen Unterschieden.
Die Philosophia perennis hat sich inhaltlich noch nie geändert, und wird es auch in Zukunft nicht tun, was man von den wissenschaftlichen Theorien im Verlauf ihrer Geschichte nicht behaupten kann. Natürlich ist letztlich Gott die einzige Wahrheit und Wirklichkeit, aber die Wahrheit, die dem Menschen zug...