Die immerwährende
Reformdiskussion
Blick über den Zaun - Aspekte der Juristenausbildung europäischer Nachbarstaaten1
Erschienen in BayVBl 1991, 328
I. Keine Chancen für deutsche Juristen?
Die Vollendung des EG-Binnenmarkts zum 1. 1. 1993 hat der - nie völlig zur Ruhe gekommenen - Diskussion um eine reformierte Juristenausbildung wieder Auftrieb verliehen. Während allerdings früher die "Verbindung von Theorie und Praxis" die literarische und ausbildungspolitische Auseinandersetzung beherrschte, ist es diesmal die angebliche Chancenungleichheit deutscher Berufsanfänger im internationalen Wettbewerb der Juristen.
In diesem Zusammenhang werden unserer Juristenausbildung, die letztmals mit dem Dritten Gesetz zur Änderung des DRiG vom 25.7.1984 umgestaltet worden ist, vor allem drei Vorwürfe entgegengehalten:
- Die zu lange Dauer im Vergleich zu nahezu allen anderen EG-Mitgliedstaaten;
- die Ausrichtung an dem Ausbildungsziel "Befähigung zum Richteramt", die zur "Justizlastigkeit" und damit zu einer mangelnden Vorbereitung vor allem für den Anwaltsberuf führe;
- die fehlende Berücksichtigung von Kenntnissen ausländischen, vor allem europäischen Rechts.
Der Blick auf Europa und die Wettbewerbssituation deutscher Juristen im EG-Binnenmarkt hat aber auch die Aufmerksamkeit auf die Juristenausbildung unserer Nachbarn gelenkt. So hat beispielsweise das französische Ausbildungssystem in der Diskussion erhebliche Resonanz gefunden; das eine oder andere aus der nicht mehr überschaubaren Zahl in letzter Zeit veröffentlichter, mehr oder weniger origineller "Modelle für eine neue Juristenausbildung" hat deutliche Anleihen in Frankreich genommen. Dabei scheinen sowohl die im Vergleich zur Bundesrepublik Deutschland angeblich beträchtlich kürzere Ausbildung, der Verzicht auf die einheitliche Qualifikation aller Juristen durch getrennte Ausbildungsgänge sowie eine gewisse Flexibilität und Öffnung für ausländische Studien im Mittelpunkt der Bewunderung zu stehen. Der deutsche Jurist, vor allem der deutsche Rechtsanwalt, wird im Wettbewerb mit seinem französischen Kollegen als chancenlos angesehen; das Bild des deutschen "Juristen-Opa", der vor dem Europäischen Gerichtshof dem fulminanten Plädoyer seines 26 Jahre alten, rhetorisch und juristisch glänzenden französischen Gegner hoffnungslos unterlegen ist, taucht vor dem Auge des bestürzten Betrachters auf.
Der Nachweis, dass deutsche Juristen im EG-Binnenmarkt wegen ihrer Ausbildung Wettbewerbsnachteile erleiden, ist allerdings nicht geführt. Vielmehr genießt die deutsche Juristenausbildung im Ausland. gerade auch in Frankreich, durchaus einen guten Ruf. Die positive Einschätzung deutscher Juristen beruht, was die Gegner des Einheitsjuristen geflissentlich übersehen, vor allem auch auf der breiten und umfassenden Ausbildung in der Bundesrepublik Deutschland.
Allerdings wird - nicht zu Unrecht – gefragt, ob nicht die behauptete längere Ausbildungsdauer dazu führt. dass die deutschen Juristen einfach "zu spät auf den Markt kommen". die Ausbildungssysteme anderer EG-Mitgliedstaaten also wegen ihres im Vergleich geringeren Zeitaufwandes Vorteile bieten. Schließlich beträgt die durchschnittliche Ausbildungszeit in Bayern - dort studiert man allerdings schneller als in anderen Ländern der Bundesrepublik und es bestehen auch keine Wartezeiten für die Aufnahme in den Vorbereitungsdienst - ohne Prüfungszeiten acht, mit Prüfungszeiten immerhin knapp neun Jahre. Der deutsche Jurist ist bei Eintritt in das Berufsleben häufig oder sogar überwiegend bereits 30 Jahre alt.
II. Juristenausbildung europäischer Nachbarn - Vorbilder in jeder Hinsicht?
In anderen EG-Mitgliedstaaten sind die Berufsanfänger überwiegend jünger oder werden in der Diskussion "jünger gemacht". Obwohl die Dauer der Ausbildung nur einer von mehreren Gründen für ein hohes Berufseintrittsalter ist, gerät sie stets in den Mittelpunkt des Interesses. Leider wird hier häufig recht pauschal argumentiert. Genaue vergleichende Untersuchungen zum Studienbeginnalter, zur tatsächlichen Dauer und zum Erfolg der Ausbildung, zum Berufseintrittsalter usw. existieren kaum. Eine dankenswerte Zusammenstellung des Bundesministers der Justiz aus dem Jahre 1989 gibt wenigstens eine grobe Übersicht über die Ausbildungsdauer. Sie zeigt, dass - gemessen an der Mindestdauer - die deutsche Juristenausbildung erheblich kürzer ist als die vieler anderer europäischer Staaten. Vergleicht man die tatsächliche Ausbildungszeit, so wandelt sich dieses Bild allerdings; die Überschreitung der vorgesehenen Ausbildungszeiten schlägt zwar auch bei anderen Ländern, vor allem aber bei der Bundesrepublik Deutschland zu Buche.
Hieraus bereits Schlussfolgerungen für unsere Juristenausbildung zu ziehen, ist voreilig: Jede Berufsausbildung ist mit dem zugrunde liegenden Bildungssystem samt allen Vorzügen und Nachteilen so verbunden, dass vor isolierter Betrachtung nur gewarnt werden kann. Das Berufsbild des Juristen und die Ausbildungsziele variieren; erhebliche Unterschiede in den Rechtsordnungen, das differierende Verständnis von der Studier- und Berufsfreiheit und eine Vielzahl weiterer Faktoren können zu Ausbildungsgängen führen, die ihren eigenen Charakter besitzen und möglicherweise weder insgesamt noch teilweise übertragbar erscheinen. Was im Ausland zu guten Erfolgen führt, kann sich unter den hiesigen Bedingungen als unbrauchbar erweisen.
Versucht man anhand der eher spärlichen Quellen die Ausbildungswege einiger unserer europäischen Nachbarn mit groben Strichen nachzuzeichnen, so wird man möglicherweise die eigene Juristenausbildung mit ihren Vor- und Nachteilen besser bewerten können.
Die deutschen Studenten sind bei Studienbeginn durchschnittlich 21,3 Jahre alt und damit etwas jünger als ihre niederländischen (21,5 Jahre) und ihre italienischen Kollegen (21,9 Jahre), jedoch beträchtlich älter als Studenten in Frankreich (18-19 Jahre) und Großbritannien (18 Jahre). Die Altersangaben beziehen sich allerdings nicht speziell auf das Studium der Rechtswissenschaft, sondern auf alle Studiengänge.
Der juristische Beruf, auf den die Ausbildung in Großbritannien ausgerichtet ist, ist der in "barrister" (vereinfacht: ein Spezialanwalt, der vor höheren Gerichten auftritt) und in "solicitor" zweigeteilte Anwaltsberuf. Alle anderen juristischen Berufe rekrutieren sich vorwiegend aus dem Kreis der "barrister" und der "solicitor". Die Besonderheit der Juristenausbildung in Großbritannien besteht darin, dass ein einheitliches abgeschlossenes rechtswissenschaftliches Studium nicht obligatorischer Bestandteil der Ausbildung ist; auch Bewerber aus anderen Studiengängen können nach einer Art Aufbaustudium zur Anwaltsausbildung zugelassen werden.
In Großbritannien ist der Studienanfänger nicht über 21, sondern nur 18 Jahre alt: während in der Bundesrepublik Deutschland ca. 15% bis 19% eines Altersjahrganges die Hochschulreife erwerben, sind es in Großbritannien lediglich 7%. Die Hälfte der Studienberechtigten wird durch einen totalen numerus clausus von den Universitäten ferngehalten; die Universitäten können sich ihre Studenten selbst aussuchen. Durchschnittlich renommierten juristischen Fakultäten in England sollen beispielsweise bis zu 2000 Bewerbungen für 200 Studienplätze vorliegen. Die Forschung ist an den Universitäten weitgehend zugunsten der Lehre zurückgedrängt; die Ausbildung ist verschult, in den Jahresabschlussprüfungen wird vor allem die Reproduktion des Vorlesungsstoffs verlangt, problembezogenes und problemlösendes Denken besitzt nach übereinstimmenden Berichten nicht den Stellenwert wie in der deutschen Universitätsausbildung. Die britischen Jura-Studenten überschreiten ihre Mindeststudienzeit von drei Jahren nur unwesentlich; sie benötigen durchschnittlich 3,4 Jahre bis zum "Bachelor of Law".
Die weitere Ausbildung obliegt den Standesorganisationen der englischen Anwälte, der "Law Society" (solicitors) und der "Bar" (barrister): Vor der Zulassung als solicitor ist zunächst die "Lall' School" der "Lall' Society" zu besuchen; nach einem Jahr wird die theoretische Ausbildung mit dem "Final Examination" abgeschlossen (7 Pflichtklausuren). Anschließend muss der Bewerber eine (bezahlte) Anwärterzeit von zwei Jahren absolvieren („serving under articles").
Der künftige barrister wird ein Jahr intensiv durch eine Schule der "Bar", die von den vier "Inns of the Court" getragen wird, auf seinen Beruf und das abschließende "Bar Examination" (4 Pflicht-, 2 Wahlfachklausuren) vorbereitet ("Vocational stage"). Die Einschreibe-, Vorlesungs- und Examensgebühren von etwa 5.000,- DM werden von den ca. 900 Kursteilnehmern als Investition in ihre berufliche Zukunft angesehen. Nach dem Examen muss auch der angehende barrister eine Anwärterzeit von einem Jahr ("pupillage") auf sich nehmen.
Die englische Juristenausbildung berücksichtigt in der Phase der Stationsausbildung ("pupillage" und "articles"), aber auch in der" Vocational stage" des angehenden barristers, stärker als in der Bundesrepublik die Entwicklung nicht-juristischer Fähigkeiten. So wird z.B. auch auf Rhetorik und Verhandlungsführung Wert gelegt. Die deutschen Rechtsreferendare hingegen werden, was juristisches Wissen betrifft, umfassender und gründlicher ausgebildet als ihre englischen Kollegen.
Während Großbritannien unter den hier vorgestellten Ländern mit knapp über fünf bzw. sechs Jahren wohl die kürzeste Juristenausbildung besitzen dürfte, scheint der Weg zum Rechtsanwalt in Österreich und Italien besonders langwierig zu sein:
In Italien beginnt der Student allgemein (Angaben für Rechtswissenschaft fehlen auch hier) sein Studium mit 21,9 Jahren; die Mindeststudiendauer von vier Jahren wird wesentlich überschritten; durchschnittlich sollen die Rechtsstudenten 6,7 Jahre für ihre universitäre Ausbildung, die mit der "laurea" abschließt, benötigen.
Auch in Italien ist das Rechtsstudium bedeutend weniger als in der Bundesrepublik auf problemorientiertes Lernen ausgerichtet; es geht vor allem darum, den Stoff genau bezeichneter Lehrbücher und Vorlesungen möglichst umfassend aufzunehmen. Hierauf und auf das isolierte Abfragen von Definitionen und Begriffen beschränken sich nach Berichten auch die mündlichen Teilprüfungen ("esami"); die Studenten sind gezwungen, die umfangreichen Lehrbücher mehrfach durchzuarbeiten und in einzelnen Passagen sogar auswendig zu lernen. Die Erfolgsquote im Studium soll unter 20% liegen.
An das Studium schließt sich ein Praktikum von zwei Jahren für die Zulassung als Prozessbevollmächtigter an; allerdings muss erst ein Anwalt gefunden werden, bei dem man praktizieren kann. Ausbildungsbegleitende Arbeitsgemeinschaf...