Die Anfänge des filmischen Erzählens
Im weitesten Sinne beginnt der Film als Medium zum Geschichtenerzählen mit der Laterna magica, einer im 18. Jahrhundert bekannten und verbreiteten Projektionstechnik. Zauberer und Schausteller bieten auf Jahrmärkten dem Publikum zur Unterhaltung mechanische Abfolgen von beleuchteten Bildern auf einer Leinwand an. Dazu werden Geschichten erzählt.
Mit der Entdeckung des stroboskopischen Effekts wird es möglich, auch Bewegungen darzustellen. Dreht man eine Scheibe, auf der am Rand Bilder in fortlaufenden Handlungsphasen aufgemalt sind, so erscheinen die Abfolgen der Einzelbilder als kontinuierlicher Fluss. Damit kann sich die Erzählung mittels Bildern vollziehen.
Während die Bilder zu Anfang gezeichnet oder gemalt sind, kommt als weiterer Baustein die Fotografie hinzu.
Mit der Erfindung des Zelluloids ist die materielle Basis für den biegsamen Endlosstreifen des Films bereitgestellt. Im sogenannten Kinetoskop wird ein Zelluloidfilm per Elektromotor in Bewegung gesetzt und in einer Endlosschleife einem Betrachter, der dazu durch ein Okular blicken muss, vorgeführt.
Ab den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts gibt es in den verschiedenen Ländern eine Vielzahl von Apparaturen, die "lebende Bilder" zeigen. Herauszuheben ist das Bioskop von den Brüdern Max und Emil Skladanowsky. Bekannt geworden ist ihr Film Das boxende Känguru (1895).
Auguste u. Louis Lumière 1862-1954/1864-1948
Mehr Aufmerksamkeit erheischt aber der Kinematograf der Brüder Auguste und Louis Lumière. Die Lumières bieten am 28. Dezember 1895 in Paris eine öffentliche Filmvorführung zum Eintrittspreis von einem Franc an. Gezeigt werden kurze Filme mit Szenen aus dem alltäglichen Leben, z. B. Arbeiter, die eine Fabrik verlassen (Arbeiter verlassen die Lumière Werke / La Sortie de I’Usine Lumère à Lyon von 1895), Die Ankunft des Zuges (Die Ankunft eines Zuges auf dem Bahnhof in La Ciotat / L’Arrivée d’Un train en Gare de la Ciotat von 1896), eine Barke, die den Hafen verlässt, ein Baby, das gefüttert wird oder Kinder, die von einem Steg ins Wasser springen.
Obwohl die Gebr. Lumière auch Filme drehen, in denen sie Ereignisse - meist komischer Art - inszenieren, wie zum Beispiel in Der Begossene Rasensprenger / L’ Arroseur arrosè von 1896, sehen sie den Entwicklungsweg des Films nicht in dem Erzählen von Geschichten. Sie beschränken sich auf die möglichst perfekte Wiedergabe der Wirklichkeit. Ihre Filme haben rein zeigenden Charakter. Grob entspricht es dem, was wir heute unter dem Dokumentarfilm verstehen.
Zu den Anfangsjahren des Films gibt es aber noch eine andere Tendenz, und zwar vertreten durch Méliès.
Georges Méliès 1861 - 1938
George Méliès, der in Paris ein kleines Theater betreibt, ersetzt in seinen Filmen die Reproduktion der Wirklichkeit durch Fantasie und Zauber. Bei ihm gibt es Geister, Teufel, fantastische Bilder, dargestellt von kostümierten Schauspielern, die in Studios vor Kulissen auftauchen, wobei Szenen nach einem Drehplan künstlerisch angeordnet werden und einer narrativen (erzählerischen) Dramaturgie folgen. So entsteht das erste Drehbuch. Méliès macht seine Aufnahmen in einer "Werkstatt". Es ist das erste Filmatelier.
An Stelle der Lumièreschen Reportage und des „Ertappens“ der Natur auf frischer Tat tritt bei Méliès die Fiktion. Méliès begnügt sich also nicht mehr mit dem Material, das sowieso vorhanden ist, sondern er will Geschichten erfinden und erzählen. Dazu arrangiert er das Material nach einer zugrunde liegenden Idee und strukturiert es nach den Erfordernissen von Spannung und Emotion. Es ist das, was wir unter dem fiktionalen Film verstehen.
Während der Dokumentarfilm das real stattfindende, nonfiktionale Leben dokumentiert und dabei die Wirklichkeit zum Maßstab nimmt; formt der fiktionale Film die Wirklichkeit neu.
Der fiktionale Film ist der Spielfilm oder das Fernsehspiel.
Mit seinem ersten Langfilm erschafft Méliès den ersten echten Höhepunkt des narrativen Filmgeschichtenerzählens. Es ist der Film Die Reise zum Mond / Le Voyage dans la Lune von 1902.
Die Reise zum Mond
Le Voyage dans la Lune
Erscheinungsjahr: 1902
Drehbuch: Georges Méliès, Jules Verne, H. G. Wells
Regie: Georges Méliès
Die Geschichte des Films ist in enger Anlehnung an die literarischen Vorbilder Von der Erde zum Mond von Jules Verne und Die ersten Menschen auf dem Mond von H. G. Wells entstanden.
• Handlung
Auf einem Kongress der Astronomischen Gesellschaft stellt Professor Barbenfouillis den Plan vor, mit einer von einer gigantischen Kanone abgeschossenen Kapsel zum Mond zu fliegen. Zwar erheben Wissenschaftler Einspruch, doch fasst man den Entschluss zu der Reise und beginnt mit den Vorbereitungen.
Sechs Wissenschaftler besteigen die Kapsel. Nach dem feierlichen Hissen der französischen Trikolore wird die Lunte an der Kanone angezündet und die Kapsel abgeschossen. Sie landet im rechten Auge des Mondgesichts. Die Wissenschaftler verlassen die Kapsel und bewundern die bizarre Mondoberfläche und den Anblick der aufgehenden Erde.
Erbost über die Eindringlinge schicken Sterne und Planeten einen Schneeschauer. Vor der Kälte fliehen die Reisenden in eine Grotte. Hier wachsen riesige Pilze, und als Professor Barbenfouillis seinen Regenschirm in den Boden rammt, verwandelt der sich in einen immer größer werdenden Pilz. Dann tauchen plötzlich Mondbewohner auf und greifen die Reisenden an. Die Wissenschaftler werden von einer Überzahl überwältigt und in den Palast des Herrschers geführt und angeklagt. Da gelingt es Professor Barbenfouillis, seine Fesseln zu zerreißen. In dem folgenden Gerangel können die Wissenschaftler fliehen, zur Kapsel zurückkehren und den Heimweg antreten. Mit an Bord ist ein Mondbewohner.
Die Kapsel stürzt in den Ozean und sinkt auf den Meeresgrund, steigt dann aber wieder zur Oberfläche auf, wo sie in den nächstgelegenen Hafen geschleppt wird. In der Stadt werden die Wissenschaftler wie Helden empfangen und begeistert gefeiert. Der Bürgermeister verleiht den Heimkehrern den Ritterorden der Mondfahrt, der gefangene Mondbewohner wird in fragwürdiger Kolonialmanier an einer Leine vorgeführt und zum Tanzen gezwungen. Abschließend tanzen alle Ringelreihen um eine Statue, die Barbenfouillis und der Wissenschaft zu Ehren errichtet wurde.
• Analyse
– Prämisse
Was wäre, wenn sich eine Gruppe französischer Astronauten auf den Weg zum Mond machen und dort auf Mondbewohner treffen würden, die ihnen feindlich gesinnt wären und in Gefangenschaft nehmen würden, wovon sie sich aber befreien und zur Erde zurückkehren könnten?
– Struktur
Aus dem verschachtelten Satz lässt sich die besondere Art und Weise der Erzählung ablesen. Es betrifft die formale Leitlinie, die nicht stringent verfolgt wird, was an dem nicht eindeutig definierten Ziel liegt. Dabei hat die Handlung schon viel mit einer dramatischen Geschichte zu tun und es ist mehr als nur erstaunlich, dass gerade einmal sieben Jahre nach der ersten Filmvorführung eine derart komplett erzählte Geschichte den Weg auf die Leinwand findet.
Bei einer Filmlänge von vierzehn Minuten genügt es nicht mehr, die Geschichte mit der Kamera auf einer einzigen Rolle abzudrehen. Es müssen mehrere Filmstreifen zusammengeschnitten werden. Auch deshalb gibt es ein Drehbuch, das die Handlung in mehrere Szenen (14) unterteilt.
Held der Geschichte ist Professor Barbenfouillis. Eventuell handelt es sich auch um einen Pluralprotagonisten, weil die sechs französischen Wissenschaftler alle dasselbe Ziel verfolgen.
Die Geschichte lässt sich in Anfang, Mittelteil und Ende gliedern, die Aufteilung ist aber nicht zwingend - und genau hier liegt der Knackpunkt. So lässt sich die Frage, worum es in dem Film geht, nicht eindeutig bestimmen. Geht es um die Reise zum Mond, oder um den Aufenthalt auf dem Mond, deren Bewohner feindlich gesinnt sind? Die Ungeklärtheit verhindert die klare Dreiteilung – zugunsten einer Vierteilung mit einem eindeutigen Mittelpunkt.
Das Problem des fehlenden klaren Ziels und der Unbestimmtheit der Frage, worum es eigentlich geht, erstreckt sich über den kompletten zweiten Teil. Es wäre einfach gewesen, den Astronauten die Aufgabe zu geben, irgendetwas vom Mond zurückzubringen, zum Beispiel einen Mondbewohner. Dann hätte die dramatische Frage am PlotPoint 1 geheißen: „Werden die Abenteurer es schaffen, einen Mondbewohner zur Erde zu bringen?“ Und der PlotPoint 2, der Punkt, an dem die Frage beantwortet worden wäre, wäre entsprechend das Ende des zweiten Teils gewesen. Im ersten Teil steht hingegen die Frage im Raum: „Werden sie es schaffen, den Mond zu erreichen?“ Im zweiten Teil geht es darum, ob sie wieder zurückkommen. Beide Teile sind ungefähr gleich lang, was die Existenz eines Mittelpunkts fördert.
Der Film basiert auf literarischen Vorbildern, was eine epische Ausrichtung nahelegt. Tatsächlich wird man sich über die besondere Art der Erzählung keine großen Gedanken gemacht haben. Es reicht Méliès, die Zuschauer mit fantastischen, nie gesehenen Bildern in Erstaunen zu versetzen. Noch steht die „Schau“ im Vordergrund, nicht das Erzählen. Es überwiegt die Begeisterung über das bewegte Bild und die Tricks, die das neue Medium ermöglicht, weswegen eine klare formale Leitlinie nicht angestrebt ist.
– Spannung
Das Problem mit der formalen Leitlinie betrifft auch die Spannung. Von einer durchgehend aufsteigenden Zielspannung kann nur mit ...