Klamme Kälte schlug Marie entgegen, als sie die Haustür öffnete. Für einen Oktobermorgen ungewöhnlich. Sie fror, eine Gänsehaut überzog ihren Körper. Einen Moment verharrte sie auf den Stufen und zog die dünne Baumwollweste noch enger um sich.
Langsam ließ sie den Blick über den Garten wandern, in dem noch immer die Rosen blühten. Nur vereinzelt lagen Blätter auf dem Boden. Später, so nahm sie sich fest vor, würde sie die Rosenblätter aufsammeln und die Stauden stutzen.
Oma Elaines Passion war nach Opas Tod einzig und allein die Gartenpflege gewesen, so hatte es zumindest den Anschein erweckt. Marie konnte ihre Leidenschaft verstehen, jedoch teilte sie diese nicht annähernd. Allein die Tatsache, dass sie und ihre Mutter nach der berühmten Rosenzüchterin Marie Josèphe Rose Taser de la Pageri benannt waren, hielt sie für übertrieben. Ein Name mit französischer Tradition wäre eher nach ihrem Geschmack gewesen. Dennoch hatte sie sich mittlerweile damit arrangiert, was blieb ihr auch anderes übrig.
So fügte sie sich der Tradition und führte die Rosenzucht fort.
Sie ärgerte sich, dass sie nicht schon längst die Triebe gekürzt hatte. Die Tage vorher waren weitaus milder und besser dafür geeignet gewesen als dieses ungemütliche Herbstwetter. Zudem hatte Marie in den letzten Wochen an nichts Interesse gehabt, weshalb der Wetterumschwung für sie nun umso überraschender kam.
Der Herbst bereitete ihr Angst. Aber nun war er da und mit ihm war auch der Nebel gekommen. Wie ein Schleier legte er sich über die Wiesen. Manche fanden dieses Naturereignis faszinierend, doch für Marie war es einfach nur bedrohlich.
Sie stieß einen Seufzer aus und ging die Stufen hinunter. Bald würde der Frost sie mit gefährlicher Glätte überziehen. Auch vor dem Winter graute ihr.
Zögerlich ging sie den schmalen Weg zum Briefkasten am Zaun. Allmorgendlich waren es dieselben Schritte und stets machte sich ein ungutes Gefühl in ihr breit, je näher sie ihm kam. »Bitte lass es keine weitere Rechnung sein.«
Flehend richtete sie den Blick zum Himmel und hoffte inständig, dass ihre Bitte dort oben Gehör fand.
Während sie sich dem Zaun näherte, überkamen sie aber sofort wieder Zweifel. »Lächerlich!« Wütend kickte sie einen Stein mit ihrem Fuß weg. »Er wird mir ja wohl kaum ein Säckchen mit Geld herunterwerfen.«
Die Steine knirschten unter ihren Füßen und erinnerten sie daran, in welch marodem Zustand sich der Weg befand. In demselben war auch das Haus, das sie vor zwei Jahren geerbt hatte und in dem sie mit José hatte alt werden wollen. Beim Gedanken an ihn fröstelte es sie noch mehr und sie verschränkte die Arme vor der Brust zum Schutz vor der Kälte.
Er hatte es nach und nach renovieren und zu einem kleinen Schmuckstück umbauen wollen. Von dem schmucken Heim war aber an dem Tag, als er sie Hals über Kopf verließ, nichts zu sehen gewesen. Zurückgelassen hatte er ihr eine einzige Baustelle, die zwar bewohnbar, aber nicht gemütlich war. Trotzdem weigerte sie sich beharrlich, dieses Haus zu verkaufen. Es steckten so viele Erinnerungen darin, die für sie einen größeren Stellenwert als alles Geld der Welt besaßen.
Ihre Mutter hätte nicht gewollt, dass sie es nun verscherbelte. Genauso wenig wie ihre Oma und die Generation davor.
Schon als kleines Kind wünschte sie sich, einmal hier mit ihren eigenen Kindern zu wohnen, um die Tradition fortzuführen. Tradition, so wurde ihr beigebracht, war von großer Bedeutung in ihrer Generation. Nur so konnte auch in der Zukunft ein Teil der Vergangenheit weiter bestehen.
Und auch wenn José das Weite gesucht hatte, dachte sie nicht daran, deswegen ihre Pläne aufzugeben. Aus diesem Funken Zuversicht schöpfte sie neuen Mut. Widerwillig, aber was blieb ihr anderes übrig, griff sie in den Briefkasten nach den Umschlägen und Prospekten, die sie auf dem Rückweg wie immer sofort entsorgen würde. Es gab Dinge im Leben, die waren einfach überflüssig - Werbeblätter zum Beispiel. Zumindest war Marie dieser Meinung. Doch nicht alle überflüssigen Sachen ließen sich so einfach entsorgen wie dieses bunt bedruckte Papier.
Da war zum einen der Schmerz, den sie täglich empfand. Oder die Wut, die sie überkam, wenn sie an José dachte. Schon allein der Klang seines Namens ließ ihr einen Seufzer entgleiten. Aus ihrer Sicht gab es keinen Grund für die plötzliche Trennung. Bis zu diesem Tag war sie sogar der Ansicht, dass sie eine glückliche Beziehung führten. Etwas altmodisch in manchen Dingen, aber Marie genoss die Routine, die eine feste, langjährige Bindung mit sich brachte. Doch er empfand es wohl anders.
Als sie sich umdrehte, um den Rückweg anzutreten, verharrte sie nach wenigen Schritten erneut und ihr Blick verweilte auf dem alten Haus.
Der Putz bröckelte an allen erdenklichen Stellen. Auch die verrosteten Fenstergitter hatten dringend einen neuen Anstrich nötig und die Farbe der Holzfassade war stark ausgeblichen. Früher hatte sie einmal in einem satten Apricot gestrahlt, jetzt aber erinnerte die Farbe an die Schale einer verfaulten Orange.
Ihr Blick glitt weiter zu dem kleinen Garten, der sich direkt an das alte Haus anschloss. Im Sommer nach Josèphes Tod hatten José und sie angefangen, ihn von Unkraut zu befreien und sämtliche Rosenstauden zu schneiden.
Ihre Mutter hatte Rosen geliebt. Und sie hatte ihre Mutter geliebt. Sie war eine wunderschöne Frau gewesen, liebevoll und warmherzig. Doch sie hatte auch etwas Geheimnisvolles an sich gehabt. Die Aura, die sie umgab, verzauberte Marie schon als kleines Kind.
Als Marie zur jungen Dame herangewachsen war und ihr Interesse plötzlich nicht mehr nur ihren Puppen galt, hatte sie gemerkt, welche Anziehung Josèphe auf die Männerwelt ausübte. Mit den pechschwarzen Haaren, die ihr leicht gelockt bis über die Schultern reichten, war sie eine richtige Augenweide gewesen. Sogar mit über vierzig war ihre Haut noch samtweich gewesen, und die Falten, die sich langsam mehrten, hatten ihr einen interessanten Ausdruck verliehen.
Ja, gelebt hatte sie wirklich. Auch wenn Maries Mutter um Vieles ein Geheimnis machte, beteuerte sie immer, glücklich zu sein.
Bei dem Gedanken an die schönen gemeinsamen Momente löste sich eine Träne und rollte über Maries Wange. Der kalte Wind, der ihr ins Gesicht blies, trocknete sie aber sogleich wieder und von einer Sekunde auf die nächste war das einzig sichtbare Zeichen ihrer Trauer verschwunden.
Die Arme noch immer verschränkt, die Briefe fest in der Hand, entdeckte Marie plötzlich ihre Nachbarin, die sich ihrem Tor näherte. Nach Mutters Tod hatten sie sich manchmal gegrüßt, doch Marie hatte nicht die Kraft gehabt, ihr mehr Beachtung zu schenken. Sie merkte, dass der älteren Frau das Gehen schwerfiel, deshalb ging Marie ihr die wenigen Meter, die sie noch trennten, entgegen.
»Guten Morgen, Marguerite.« Ihre Stimme war um Fröhlichkeit bemüht, was ihr aber nicht so recht gelingen wollte.
»Guten Morgen, Marie.« Kaum hatte die Nachbarin die Worte ausgesprochen, hielt sie sich mit einer Hand am Zaun fest, mit der anderen umklammerte sie ihren Gehstock.
Marguerite war die beste Freundin ihrer Großmutter gewesen und nach deren Tod eine wichtige Stütze in Mutters und damit auch in ihrem Leben. Trotzdem oder gerade deswegen hatte Marie die letzten Wochen einen großen Bogen um sie gemacht. Zu einfach wäre sie zu durchschauen gewesen und damit hätte sie sich ihren Ängsten stellen müssen. Sie löste ihre verkrampfte Haltung und berührte mit einer Hand die der alten Dame. Dabei huschte ein aufmunterndes Lächeln über deren Gesicht. »Es geht vorbei, alles geht irgendwann vorbei.«
Traurig senkte Marie den Kopf. So recht Marguerite auch hatte, so nachdenklich machte sie die Bedeutung ihrer Worte.
»Ich will aber nicht, dass es Vergangenheit ist.« Trotz lag in ihrer Stimme und die Wut überkam sie erneut.
»Es ist doch aussichtslos.« Mit dem Kinn zeigte Marie Richtung Haus.
»Ohne José schaffe ich es einfach nicht, die laufenden Rechnungen zu bezahlen, geschweige denn, das Haus zu renovieren.«
Marie war überrascht, wie leicht es ihr fiel, ihren Gefühlen Ausdruck zu verleihen.
»Aber mein Kind, du wirst es doch nicht ...«, das letzte Wort wagte die ältere Frau offenbar nicht auszusprechen, aber ihr entsetzter Blick sprach Bände.
»Von wollen kann keine Rede sein, aber was wird mir denn anderes übrig bleiben?«, verteidigte Marie sich.
»Keine Ahnung, wie meine Mutter das all die Jahre allein geschafft hat. Ich wünschte, ich wäre nur ein einziges Mal so stark wie sie.«
Marguerite tätschelte ihre Hand, die noch immer auf dem Gartenzaun ruhte. »Du frierst ja, Kind.«
Tatsächlich zitterte Marie am ganzen Körper. Und obwohl sich ihr Körper nach der Wärme im Haus sehnte, bevorzugte sie in dem Moment die Herzenswärme, die von ihrer Nachbarin ausging. Marguerite schien ihre Gedanken zu erraten, denn sie beugte sich leicht vor und flüsterte ihr ins Ohr:
»Meine Türen stehen immer offen für dich. Und bei all dem Schmerz, der dir widerfährt, vergiss bitte nicht, dass es für alles eine Lösung gibt. Für wirklich alles.«
Dann drückte sie ihr die Hand und trat langsam den Rückweg an. Eine Weile schaute Marie ihr nach, dann überwog die Kälte und sie ging zurück ins Haus.
Die Begegnung mit der alten Frau hinterließ Spuren und einen Hauch von Unbehagen bei Marie, das sie nicht einfach abschütteln konnte. Selbst als sie sich bereits einige Zeit im warmen Haus befand, durchzog sie ein Frösteln bei dem Gedanken an die Worte, die Marguerite anscheinend mit viel Bedacht wählte.
Die Briefe, die sie zuerst gedankenverloren beiseitegelegt hatte, erregten nun aber wieder ihre Aufmerksamkeit. Zögernd griff sie danach und ließ sich auf dem Stuhl am Küchentisch nieder. Der morgendliche Kaffee war bereits kalt. Trotzdem sog sie ihn gierig in sich auf, als würde das Koffein die Nachrichten der Briefe verdaulicher machen.
Ein Glas des edlen Lilet Rosé, den Mutter im Keller gelagert hatte, wäre wirkungsvoller, dachte sie. Marie war wirklich drauf und dran, sich einen Schluck zu genehmigen, zog es dann aber doch vor, die Sache nüchtern zu betrachten.
Sorgfältig begann sie schließlich, die Briefe zu öffnen. Die Umschläge legte sie zur Seite. Den Buchstaben schenkte sie keinerlei Aufmerksamkeit, vielmehr waren es die Zahlen, die ihr großes Unbehagen bereiteten.
Schon seit Wochen erhielt sie Mahnungen über Mahnungen und sie wusste, obwohl sie die Fristdaten nicht genau im Kopf hatte, dass es nun kurz vor Schluss war. Resignierend lehnte sie sich zurück. Mit den Händen bearbeitete sie nervös das Papier und dachte angestrengt nach. Doch sie wusste nicht, mit welchen Mitteln sie die ausstehenden Rechnungen begleichen sollte.
Nach Josèphes Tod kümmerte sich Josè um den Papierkram. Er verdiente gut als Leiter einer Bankfiliale. Sie musste sich in dieser Zeit keine Gedanken darüber machen, wie hoch der finanzielle Aufwand war, um dieses kleine Erbstück in Schuss zu halten. Erst die letzten Wochen begriff sie das ganze Ausmaß, das die Trennung mit sich brachte.
Sie nahm die Briefe, stand auf und legte sie zu den anderen in die alte Schublade. Beim Schließen wackelte diese verdächtig.
»Was habe ich mir nur dabei gedacht, das Erbe anzunehmen? Vielleicht war es doch falsch«. Nachdenklich stammelte sie die Worte vor sich hin und starrte dabei durch das Fenster, von dem aus man einen wunderbaren Blick auf das Grundstück hatte.
Es war alles so einfach gewesen, als sie noch ein kleines Mädchen war. Marie hatte es geliebt, im Garten zu toben und zu schaukeln. Jetzt erinnerten nur noch zwei verrostete Eisenvorrichtungen an die Stelle, an der einmal die massive, selbst gezimmerte Schaukel stand.
Der Garten war bis auf die Rosen karg und ohne Leben. Dieser Anblick und die Trostlosigkeit, die er ausstrahlte, versetzten ihr erneut Stiche ins Herz.
»Es wird schon werden«, den gleichen Satz hatte ihre Mutter immer vor sich hingemurmelt, wenn etwas nicht so gelaufen war, wie sie es sich vorgestellt hatte. Jetzt sprach ihn Marie laut aus, um sich damit selbst Mut zu machen. Und auch wenn sie die Probleme stets vor ihr zu verbergen versuchte, schaffte sie es damit immer, eine beruhigende Atmosphäre zu erzeugen.
Nun da sie selbst die Lasten tragen musste, die ihre Mutter all die Jahre bewältigte, begriff sie erst, welch eine starke Frau sie war. Kaum vorstellbar, wie Josèphe es finanziell, körperlich und auch seelisch geschafft hatte, das Haus, ihren Beruf als Floristin und Marie, ihre einzige Tochter, unter einen Hut zu bringen. »Sie wurde meinen Wünschen und Bedürfnissen immer gerecht«, stellte Marie bewundernd fest. Kein einziges Mal hatte sich ihre Mutter in ihrer Gegenwart beschwert oder gar gejammert. Im Gegenteil, sie war immer fröhlich gewesen und sprühte nur so vor Energie.
»Du fehlst mir«, voller Wehmut dachte Marie an die Zeit mit ihr zurück.
Sie konnte sich noch gut an einen Sonntagmorgen erinnern. Dieser Morgen war ihr deshalb so sehr in Erinnerung geblieben, weil sie Josèphe an diesem Sonntag nicht in ihrem Bett vorgefunden hatte. Es war zu einem Ritual geworden, dass sie ihre Mutter immer sonntags weckte, um anschließend gemeinsam zu frühstücken. Doch das Himmelbett mit den unzähligen weißen und roséfarbenen Kissen fand sie an diesem Tag unberührt vor.
Verwundert ging sie die knarzende Treppe hinunter und füllte an derselben Stelle, wo sie jetzt gerade stand, das Kaffeepulver in die Maschine. Durch das Fenster konnte sie sehen, wie ein Auto direkt vor der Einfahr...