Die Logotherapie in der Praxis
Wenn Frankl sich zu seiner logotherapeutischen Praxis äußert, dann tut er das eingedenk seines Verständnisses der Logotherapie als einer Ergänzung bereits etablierter Verfahren mit dem Hinweis, "weder lässt sich jede Methode in jedem Falle mit den gleichen Erfolgsaussichten anwenden noch kann jeder Therapeut jede Methode mit der gleichen Wirksamkeit handhaben."147 Eines aber ist in jedem Falle unverzichtbar: der Ausschluss organischer Erkrankungen auf dem Wege einer gründlichen Untersuchung - und das bereits als Teil der Therapie. Denn so viel ist klar: "Es muss, soll von Neurose überhaupt die Rede sein können, ... eine psychophysische Affektion vorliegen."148 Und so gilt: "Man kann eine Neurose, bei der Vielfalt ihre Strukturmomente, grundsätzlich an verschiedenen Stellen... therapeutisch angehen: Man kann medikamentös vorgehen, man kann psychologisch vorgehen... und man kann schließlich... eine Neurose das eine oder andere Mal auch vom Geistigen her durchleuchten und behandeln. Genauso, wie wir die im konkreten Falle zu wählende Methode der Individualität des Kranken anzupassen haben, genauso haben wir sie entsprechen zu lassen unserer eigenen Persönlichkeit."149
Das eigentliche Agens psychoanalytischer Behandlungsmaßnahmen ist allerdings die menschliche Begegnung; alle Psychotherapie hat deshalb das klassische Gespräch von Mensch zu Mensch, den sokratischen Dialog, zum Vorbild. Das schließt die Suggestion ausdrücklich ein, als sie "die Artikulation einer mit- und zwischenmenschlichen Beziehung darstellt, wie sie letzten Endes aller Psychotherapie zugrunde liegt, so zwar, dass durch das Medium der gegenseitigen Begegnung von Arzt und Krankem hindurch auf Seite des letzteren ein Urvertrauen zum Dasein wiederhergestellt wird, das den Erfolg einer Psychotherapie auf Grund noch so divergenter Schulen und Richtungen entscheidet und ausmacht."150
"Solche Therapie ist keine symptomatische; im Gegenteil: sie kümmert sich nicht viel um das Symptom, sondern wendet sich an die Person des Patienten - so zwar, dass sie um eine Änderung seiner Einstellung zum Symptom bemüht ist."151 Das beginnt schon bei der Anamnese: Bereits die bloße Aussprache "lässt den Patienten das Symptom objektivieren und gleichzeitig sich selbst vom Symptom distanzieren."152 So ist gerade die Logotherapie eine ausgesprochene Kurzzeittherapie; immer wieder bringt Frankl entsprechende Belege bei; bereits eine Statistik von 1955 weist 75,7% Heilungen und Besserungen aus - Besserungen in einem Ausmaß, die jede Weiterbehandlung erübrigen. Dabei kommen - abhängig davon, wie lange ein Patient schon krank war - akute Fälle, die nur wenige Wochen bis Monate zurückreichen, mit vier bis zwölf Sitzungen aus, während Patienten mit einer mehrjährigen Krankengeschichte durchschnittlich zwei Sitzungen wöchentlich über sechs bis zwölf Monate hinweg benötigen.
Die Arbeitslosigkeitsneurose
Kristallisationskern der Logotherapie ist die von Frankl sogenannte Arbeitslosigkeitsneurose; er beobachtet sie während der Weltwirtschaftskrise in den 1920iger Jahren, die auch an Österreich nicht vorübergegangen ist. Da erlebt der Arbeitslose die Unausgefülltheit seiner Zeit als innere Unausgefülltheit. "Er fühlt sich unnütz, weil unbeschäftigt. Weil er keine Arbeit hat, meint er, sein Leben habe keinen Sinn."153 Ausschlaggebend dafür ist die fälschliche Identifizierung von Beruf und Lebensaufgabe. Periodisch wiederkehrend stellt sich die Arbeitslosigkeitsneurose als Sonntagsneurose dar, findet sie sich doch bei Menschen, die "nur Arbeitsmensch, nichts als Arbeitsmensch" sind und vor dem ganzen Leben ins Berufsleben flüchten. So befällt sie Menschen, die der Inhaltsleere ihres Lebens bewusst werden, wenn am Sonntag das Arbeitstempo der Arbeitswoche fortfällt und die Sinnarmut großstädtischen Alltags deutlich wird. "Und man hat bei allem Tempo den Eindruck, als ob der Mensch, der um kein Ziel im Leben weiß, den Weg des Lebens deshalb mit höchstmöglicher Geschwindigkeit liefe, damit er die Ziellosigkeit nicht merke."154 Die Arbeitslosigkeitsneurose in Permanenz ist die von Frankl so genannte Pensionistenkrise; hier führt das Erlebnis anhaltender Sinn- und Inhaltslosigkeit des Daseins aufgrund des Ausscheidens aus dem Arbeitsleben oft genug auch zu organischen Verfallserscheinungen bis hin zu einem frühen Tod.
Dabei ist Berufstätigkeit nicht alles, "sie ist weder ein zureichender noch ein notwendiger Grund, um das Leben mit Sinn zu erfüllen."155 Trotzdem wird sie immer wieder überschätzt und "vergötzt". Damit bezeichnet Frankl die Verabsolutierung eines einzigen Wertes, das alleinige Geltenlassen einer einzigen Möglichkeit, dem Dasein einen Sinn zu verleihen. Und er weist auf den Zusammenhang zwischen einer solchen Verabsolutierung und der Verzweiflung hin: Wer etwas, das nur bedingt wertvoll ist, das nur relativen Wert hat, zum absoluten Wert erhebt, der muss darüber verzweifeln, wenn ihm dieser Wert - sei es vorübergehend, sei es auf Dauer - nicht erreichbar ist, so "dass jede Vergötzung sich durch die Verzweiflung nicht nur verrät, sondern auch rächt."156
Aber innere Unausgefülltheit - Frankl spricht in diesem Zusammenhang von einem existentiellen Vakuum - gibt es sowohl ohne Arbeit als auch mit Arbeit, manchmal sogar durch Arbeit, denn "Die natürliche Beziehung des Menschen zu seiner beruflichen Arbeit als dem Felde möglicher schöpferischer Wertverwirklichung und einzigartiger Selbsterfüllung erleidet durch die herrschenden Arbeitsverhältnisse vielfach eine Verbiegung."157 Die Begründung, die Frankl dafür gibt, ist nun weder eine gewerkschaftliche noch eine politische, sondern einmal mehr eine philosophische. Er erinnert sich: "Seit Kant wusste das europäische Denken um die eigentliche Würde des Menschen Klares auszusagen: Kant selbst hatte in der zweiten Formulierung seines kategorischen Imperativs gesagt, jedes Ding habe seinen Wert, der Mensch aber seine Würde - der Mensch dürfe niemals ein Mittel zum Zweck werden. Doch schon in der Wirtschaftsordnung der letzten Jahrzehnte waren die arbeitenden Menschen größtenteils zu bloßen Mitteln gemacht worden, entwürdigt zu Mitteln des wirtschaftlichen Lebens. Nicht mehr war die Arbeit ein Mittel zum Zweck - ein Lebens-Mittel, vielmehr der Mensch und sein Leben, seine Lebenskraft, seine Arbeitskraft waren das Mittel zum Zweck."158 Das aber ist für Frankl nicht nur nicht hinnehmbar, sondern auch Verpflichtung zum Handeln. Zwar kann er als Psychotherapeut keine Revolution machen; was er aber beeinflussen kann, ist "die Einstellung des Kranken zu seinem sozialen Schicksal; eine Umstellung wird den Patienten aber gewiss nicht nur in seinem persönlichen Leben, sondern auch in seiner politischen Haltung aktivieren."159 Denn "Der blinde Glaube an den automatischen Fortschritt ist eine Angelegenheit des satten Spießbürgers geworden - heute wäre dieser Glaube reaktionär. Heute wissen wir, wessen der Mensch fähig ist. Und wenn es einen grundlegenden Unterschied gibt zwischen der Auffassungsweise vergangener Zeiten und derjenigen der Gegenwart, dann lässt er sich vielleicht am besten folgendermaßen kennzeichnen: Früher einmal war Aktivismus mit Optimismus gekoppelt, während heutzutage der Aktivismus einen Pessimismus zur Voraussetzung hat. Denn heute kommt jeder Antrieb zur Tat aus dem Wissen darum, dass da kein Fortschritt ist, auf den man sich vertrauensselig verlassen könnte; wenn wir heute die Hände nicht in den Schoß legen dürfen, dann gerade deshalb, weil es von jedem einzelnen unter uns abhängt, was und wie weit etwas 'fortschreitet'."160
Die noogene Neurose
Systematisiert und in einen weiteren Zusammenhang gestellt hat Frankl seine Beobachtungen zur Arbeitslosigkeitsneurose unter dem Stichwort "noogene Neurose". Damit geht Frankl zugleich weit über den bislang angesprochenen Zusammenhang des Erwerbslebens hinaus; denn wie bereits erwähnt gibt es das auch trotz, manchmal sogar durch Arbeit, dass immer mehr Menschen mit einem Sinnlosigkeitsgefühl konfrontiert werden, "das dem von Alfred Adler beschriebenen Minderwertigkeitsgefühl, was die Entstehung von Neurosen anlangt, den Rang abläuft."161
Dieses Gefühl des verlorenen Daseinssinns und Lebensinhalts geht mit einem Leeregefühl einher, das Frankl als "existentielles Vakuum" bezeichnet. Es markiert eine Situation, in der der Mensch aus seinem Willen zum Sinn heraus noch weiß, dass er sollen will. "Aber vielfach weiß er um nichts mehr, das er wollen soll; mit anderen Worten, er weiß nicht mehr um den Sinn selbst."162 Unter Frankls österreichischen Hörern betrifft dies in den 1960er Jahren 40 Prozent, unter seinen amerikanischen Hörern sogar 81 Prozent - mit stetig steigender Tendenz. Das liegt daran, dass in der Wohlstands- und Überflussgesellschaft zunächst in den USA, dann aber auch im Nachkriegseuropa weite Teile der Bevölkerung zwar genug haben, wovon sie leben können, ihr Leben aber kein Wozu hat. "Denn die Industriegesellschaft befriedigt praktisch alle Bedürfnisse des Menschen... Nur ein Bedürfnis geht leer aus, und das ist das Sinnbedürfnis des Menschen - das ist sein Wille zum Sinn. Er wird unter den gesellschaftlichen Bedingungen von heute eigentlich nur frustriert."163
Dieses existentielle Vakuum kann nun sowohl manifest werden als auch latent bleiben. Latente Formen existentieller Frustration begegnen etwa unter dem klinischen Bild der Managerkrankheit - da wird der frustrierte Wille zum Sinn kompensiert vom Willen zur Macht, aber auch im Rückzug auf bloße Glücksgefühle,...