1 Vorwort
„Passioniert für Alsterdorf“ habe ich als Titel für diese Zusammenstellung deshalb ausgewählt, weil ich als Zeitzeuge die Einrichtung darstellen möchte, in der ich 28 Jahre engagiert gearbeitet habe. Aus einer Innenperspektive kann ich Sachverhalte berichten und Materialien bereitstellen, um ein einseitig gefärbtes Bild aus meinem Blickwinkel zu ergänzen. Denn am 20. März 2018 wurde ein Film unter dem Titel „Die Alsterdorfer Passion“ der Öffentlichkeit vorgestellt, in dem zwar auch Interviews von Zeitzeugen einen wichtigen Bestandteil bilden, dazu gehörten urspünglich – bzw. zwischenzeitlich – auch Pastor Alfred Lampe und ich. Allerdings waren die Beiträge, die auch von zahlreichen anderen Personen erfragt wurden, so ausgewählt und so zusammengestellt, dass sich insgesamt ein negatives Bild der Einrichtung ergibt, das nicht der Wirklichkeit der Zeit ab 1970 entspricht, die ich selbst erlebt habe. Der Filmtitel „Alsterdorfer Passion“ sollte wohl im Sinne von „Leiden in Alsterdorf“ verstanden werden. So hat es etwa die Evangelische Zeitung auch als Hauptbotschaft des Films in einem sehr unkritischen Beitrag dargestellt.1 Pastor Lampe und ich haben deshalb über einen Rechtsanwalt gebeten, unsere Interview-Beiträge aus dem Film wieder herauszunehmen.
Dass es auch Leid in Alsterdorf sowohl für Menschen mit Behinderungen als auch für diejenigen gab, die ihnen zur Seite standen, steht außer Frage. Aber es gab auch viele leidenschaftliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie deren Familien, für die es gilt, das Bild zurechtzurücken, das der Film zeichnet. Dadurch werden zwar die damaligen Schattenseiten in Alsterdorf nicht „wegargumentiert“, aber es kommt hoffentlich ein realistischeres Gesamtbild zustande.
Wenn ich versuche, jetzt einen Einblick aus meiner Perspektive zu geben, so kann es auch nicht vollkommen „objektiv“ geschehen. Aber für diejenigen, die zwar in der Zeit in Alsterdorf wohl Vieles mit erlebt haben, wie etwa meine Angehörigen, kann ich Sachverhalte durch die Dokumente belegen, was ihnen sonst nur vom Hörensagen oder z.T. nur aus Tischgesprächen, also ggf. aus der Angehörigen-Perspektive bekannt ist. Auch für andere Interessierte wird es leichter sein, ein historisch ausgewogeneres Bild zu gewinnen, als es aus manchen Veröffentlichungen aus Alsterdorf sowie durch den Film „Alsterdorfer Passion“ erscheint.
Ich werde dazu auch versuchen, meinen eigenen Werdegang und Blickwinkel zu beschreiben, um auch die zeitlichen Dimensionen der Veränderungen und Bezugsgrößen in meiner Biografie kenntlich zu machen. – Die ersten Vorarbeiten für eine eigene Darstellung sind schon im April 2018 entstanden, als ich all die Dinge noch einmal gesichtet hatte, die von mir für das Film-Interview zusammengestellt worden waren und die ich auch dem Rechtsanwalt zur Information über den Sachverhalt vorgelegt habe. Alfred Lampe und ich haben daneben gegenseitig weiteres Material ausgetauscht. U.a. habe ich von ihm auch die vielen Quellentexte für seine frühere Publikation zu „Kirchgebäude in den Alsterdorfer Anstalten“ in digitaler Form erhalten, die ich so am Computer zu Hause studieren konnte.2 Vieles Alte habe ich im letzten halben Jahr auf diese Weise auch über die Alsterdorfer Anstalten (= AA) neu gelesen bzw. was die Geschichte vor meiner Dienstzeit betrifft und sich etwa in zahlreichen Heften der „Briefe und Bilder aus den Alsterdofer Anstalten“ (= BuB) findet, die Pastor Lampe alle noch hatte. Aber auch die anderen periodischen Berichte (wie „Wir helfen“ oder „Umbruch“) aus meinem eigenen Bestand waren mir z.T. sehr nützlich, um etwa Jahreszahlen genauer zu bestimmen, die in meinem Gedächtnis nicht so genau abgelegt waren, wie sie sich zum Teil schwarz auf weiß gedruckt finden. So ist der Umfang dessen, was ich beschreiben möchte, immer weiter angewachsen. Im Herbst ist glücklicherweise ein engerer Kontakt mit Uwe Gleßmer zustande gekommen, der mir dann auch geholfen hat, alles zur vorliegenden Dokumentation in Word-Dateien mit Bildern so zusammenzufügen, dass es druckbar wurde. Außerdem hat er mir auch noch bei der weiteren Recherche nach Texten geholfen. Deren Quellen finden sich jetzt in zahlreichen zusätzlichen Fußnoten. Bei manchen meiner Textblöcke hat er mir Vorschläge zur Veränderung und ggf. Einfügung bereitgestellt. Diese bilden für die am Schluss in Kapitel 5 von mir artikulierte Abgrenzung von der Geschichtsdarstellung, wie sie der Film von 2018 bietet, eine wichtige Vorarbeit.
Mit Alfred Lampe und Uwe Gleßmer, die sich ja bereits zuvor intensiv mit Fragen zur Alsterdorfer Geschichte befasst hatten, konnten außerdem viele inhaltliche Fragen an Vorversionen des Textes diskutiert und verbessert werden, um auch für Außenstehende – hoffentlich – von meinem persönlichen Erleben verständlich zu berichten. Insgesamt sind es zwar meine „Passioniert-für-Alsterdorf-Texte“, aber ohne das Zusammenwirken hätte ich es wohl nicht geschafft, bis zum 80. Geburtstag alles zum Abschluss zu bringen, wie ich es mir vorgenommen hatte.
Auch meinem alten Freund Willi Eckloff bin ich besonders dankbar, dass er geholfen hat, eine größere Anzahl von älteren Dia-Originalen in digitale Form zu überführen, die wir jetzt an manchen Stellen mit abbilden können. Nicht zuletzt meiner Familie möchte ich besonders dafür danken, dass alle mich entlastet haben, als mir im Frühjahr 2018 der emotianale Pegel in Kombination mit unseren gesundheitlichen Problemen zu sehr zu schaffen machte.
Manche Dinge habe ich auch aus Platz- und Zeitgründen nicht beschrieben, für die sich in meinen Unterlagen noch weitere Details finden. Ich möchte diese auf einer DVD zusammenstellen, damit Ihr gelegentlich die originalen Papiere entsorgen könnt und Euch nicht damit zu belasten braucht…
2 Biografische Vorgeschichte
Am 6. April 1939 wurde ich als ältester Sohn von vier Kindern geboren; meine Schwester Mechthild (1941), mein Bruder Gotthard (1943) und mein Bruder Friedrich Michael (1950). Wir Geschwister nannten ihn nur Michael und nicht Friedrich. Ob wir den Namen nicht so schön fanden – oder, ob es so war, damit kein Missverständnis entstand, wenn unser Vater gemeint war?
Mechthild wurde Krankenschwester und lebt als Ehefrau von Keith Johnson mit drei Kindern in England. Sie hatte ihren Mann Keith im Rahmen der Evangelischen Jugendarbeit in Wandsbek anlässlich einer Jugendreise kennen und lieben gelernt. Gotthard, der zunächst als Missionar in Äthiopien und später aus dortigen politischen Gründen als Pastor in Deutschland tätig war, lebt seit seiner Pensionierung mit Ehefrau Renate, geb. Scheffler, in Hermannsburg, Kreis Celle. Aus der Ehe gingen acht Kinder hervor.
Aus Hermannsburg kommen auch die Vorfahren unserer Mutter. Der Gründer der Hermannsburger Mission, Ludwig Harms (1808-1865) war ihr Großonkel.
Vater: Fritz Schade
(1905-1972)
Wappen: Schade ∞ Ruschenbusch3
Mutter: Anna,4
geb. Ruschenbusch
(1907-1982)
Friedrich, genannt Michael, wurde Erzieher, danach Dipl. Sozialpädagoge und Sonderschullehrer. Von 1983 an war er einige Jahre in den Alsterdorfer Anstalten in der von mir gegründeten Erwachsenenbildung unter der Leitung der Heilerzieherin A. Maibauer tätig, später als gewählter Vorsitzender der Mitarbeitervertretung (MAV). Heute ist er im Ruhestand und engagiert sich insbesondere für Migranten im Stadtteil Harburg. Im Hamburger Abendblatt ist am 12.11.2016 ein ausführlicher Artikel unter dem Titel „Michael Schade ist der Erfinder des Refugio“ erschienen.5 Ihm ist auch der Stolperstein mit zu verdanken, der für die Cousine der Mutter in Hermannsburg als Opfer der NS-T4-Aktion gesetzt wurde:
„Irmgard (1896-1942) litt leider an einer unheilbaren psychischen Krankheit. Sie wurde während der Herrschaft des Nationalsozialismus von verbrecherischen Ärzten in der Nervenheilanstalt Hadamar umgebracht.“6
Von diesem Sachverhalt wusste ich allerdings jahrzehntelang nichts. Durch meinen Bruder Michael und andere Familienmitglieder sind jedoch vor einigen Jahren die Details in Erfahrung gebracht, sowie das Gedenken an das 45-jährige Opfer, das zuvor 20 Jahre in Lüneburg in einer Klinik lebte, veranlasst worden. Ob meine Eltern über die Ahnungen der Verwandtschaft und die damalige Familien-Trauerfeier etwas gewusst haben, ist leider noch nicht klar. Als meine Mutter 1982 starb, war die Verstrickung der AA in die T4-Aktion noch nicht aufgearbeitet, was ja erst 1987 erfolgt ist, und ich damals mit großer Betroffenheit gelesen habe.7 Vor dem Tod der Mutter war das Thema noch nicht ein Gesprächsanlass, um darüber mit ihr zu sprechen.
2.1 Elternhaus
Wir Kinder sind sehr dankbar dafür, dass wir solche Eltern hatten und in solch einem Elternhaus groß werden durften. Geboren wurden wir alle in Ochsenwerder. Ochsenwerder ist ein Dorf in den Hamburger Vier- und Marschlanden, wo unser Vater, Friedrich (genannt Fritz), als Gemeindepastor für die St. Pankratiuskirche tätig war.8
Wir wurden christlich erzogen und mit Sicherheit dadurch auch für das Leben geprägt. Unsere Eltern waren laut vielen Zeitzeugen als Pastorenehepaar authentisch und glaubwürdig. Unser Haus war ein offenes Haus für alle, für die sogenannten „Brüder der Landstraße“, für Freunde der Familie und später nach dem Krieg für etwa 10 Flüchtlinge, die mit im Pfarrhaus wohnten.
moderne Aufnahme des Pfarrhauses von 2011 durch den Fotografen Flamenc aus Valencia.
Nach dem Wechsel unseres Vaters 1952 in seine Heimat Wandsbek an die Kreuzkirche waren auch immer mal wieder Bewohner aus den Alsterdorfer Anstalten am Mittagstisch. Sie kamen mit Frau Ziegler. Sie besuchte und betreute die Bewohner Franz Joseph, Harry und Herbert ehrenamtlich in den Alsterdorfer Anstalten. Frau Ziegler, eine fromme Frau, war eine Freundin des Hauses und die Witwe des damaligen Bürgermeisters von Wandsbek, Dr. Friedrich Ziegler (1887-1952).9 Durch Frau Ziegler hatten wir Kinder, inzwischen Jugendliche, schon früh Kontakt mit Menschen aus den Alsterdorfer Anstalten.
Am Mittagstisch in Ochsenwerder, später in Wandsbek, waren es in der Regel 10 bis 15 Personen, die von unserer Mutter bekocht wurden. Vor dem Essen war es üblich, dass wir zunächst alle hinter den a...