1. Einleitung - Problematik
1.1 Ziel und Anspruch dieser Arbeit
Diese Arbeit ist ein wissenschaftlicher Beitrag zur Fachdidaktik Musik, wobei ich Didaktik hier als die theoretische und soziale Erforschung von organisierten Lehr- und Lernprozessen betrachte.1 Folgende Schwerpunkte bilden den Anspruch und die Ziele meiner Arbeit:
- Ich will die Wirklichkeit der Herangehensweisen an Rhythmus von Solfeo und TaKeTiNa möglichst vielseitig erfassen. Deswegen werde ich die Methoden, Rhythmuslehrende und Rhythmuslernende recht ausbalanciert betrachten und Lebensgeschichten besonders berücksichtigen.2
- Leser sollen über Unterschiede der Lehrziele, der Unterrichtsorganisationen, der Entstehungsgeschichten, des Unterrichtsvorganges sowie über Gedanken und Erfahrungen der Teilnehmer informiert werden.
- Eine Wirklichkeitsverzerrung in der Darstellung soll durch pädagogische, soziologische, philosophische und psychologische Betrachtung möglichst vermieden werden.
- Schüler und Lehrer sind musizierende Menschen, die ihr Bemühen sinnfällig aufeinander beziehen. Die Bedeutungen ihres Bemühens für die Musik, mit den vielfältigen fachlichen und sozialen Beziehungen, sollen in meiner wissenschaftlichen Betrachtung in den Vordergrund treten.
Zum empirischen Teil gehören Protokolle, Erfahrungsberichte und Interviews.3 Die gewonnenen Daten betrachte ich als subjektive Wirklichkeitsausschnitte von Spezialisten und Nutzern der Methoden in ihren alltäglichen Lebenszusammenhängen. Das gesamte Forschungsmaterial wird im Anhang vorgestellt und vorher unter den Aspekten „Gebrauch der Stimme“, „Körperbewegungen“ und „Disziplin“ erörtert. Meine Schlussgedanken setzen sich mit den Bildungs- und den Erziehungsbeiträgen der traditionell-geistigen Herangehensweise des Solfeo und der experimentell-körperlichen Herangehensweise des TaKeTiNa auseinander. TaKeTiNa und Solfeo sollen als neue Praxisfelder der Musikpädagogik aufgehellt werden, Interaktionismus symbolisch begriffen und die Ergebnisse für neues pädagogisches Handeln in Schule und Unterricht zur Verfügung gestellt werden. Diese Arbeit richtet sich also an alle, die sich für eine Kombination unterschiedlicher Methoden in der Musikausbildung interessieren und dabei das Aufeinandertreffen von Gegensätzlichkeiten als fruchtbar empfinden. Leser dieser Arbeit, die sich vor allem für das Phänomen Rhythmus interessiert, werden vielleicht ent - täuscht werden, wenn sie von dieser Arbeit die Darstellung und Reflexion zweier Rhythmusmethoden erwarten, deren einziges pädagogisches Ziel es ist, nur allgemein Rhythmus zu lernen oder zu erfahren. Natürlicherweise ist Rhythmus ein Phänomen, das in Verbindung von Musik nur als ein Teil auftritt. Es handelt sich bei Solfeo und TaKeTiNa also um zwei Methoden, deren musikpädagogisches Ziel über die Rhythmusausbildung hinausgeht.
1.2 Ein traditioneller und ein experimenteller Weg in der Musikausbildung?
In den Musikschulen, die im Verband deutscher Musikschulen zusammengeschlossen sind, sollen zwei verschiedene Wege des Musikunterrichts eingeschlagen werden, die in den Präambeln so formuliert sind:
„Für die Gestaltung des Anfangsunterrichts bieten sich zunächst zwei Möglichkeiten an. Erstens der traditionelle Weg: Ausgehend von glatten, möglichst sauberen und geräuscharmen Haltetönen führt er über kleine diatonische Tonfolgen zu Liedern, kleineren Vortrags- und Übungsstücken usw. unter Verwendung entsprechender Schulwerke und Literatur. Zweitens der experimentelle Weg: Hierbei werden auf experimentell improvisatorische Weise die Möglichkeiten der Klangerzeugung des Instruments erkundet und zugleich die Sinne und speziell die Ohren für musikalische Strukturen und Prozesse geschult. Von frei definierten, eventuell auch graphisch notierbaren Vorgängen ausgehend, werden schrittweise auch die Töne unseres diatonisch-chromatischen Systems und deren – auch rhythmische – Notierung sowie entsprechende Musik und Übungsstücke einbezogen.“4
Dieser Vorschlag eines experimentellen Weges der Musikausbildung beruht auf freier Improvisation mit dem Instrument und schrittweiser Heranführung an „unser“ westliches „diatonisch-chromatischen System“ sowie deren „rhythmische Notierung“. Die oben beschriebenen Wege der Musikausbildung erscheinen dem Verband deutscher Musikschulen e. V. kombiniert am wirksamsten und werden so als dritter Weg den Musiklehrkräften der Grundstufe empfohlen. Für diesen „Kombiweg“ aus traditionellen und neuen Werten wird besonders hervorgehoben: „Kinder sehen die Notwendigkeit technischer Übungen zunächst nicht ein. Für Kinder ist das Instrument lediglich Mittler einer musikalischen Darstellung im besten Sinne des Wortes.“5 Häufig wird auch der Kombiweg von Lehrern mit harten Pflastern aus der „Erarbeitung gewisser Übungen“ verschult.6 Dabei werden die Möglichkeiten der freien musikalischen Entwicklung des Kindes aufgegeben. Die unterschiedlichen Vorgehensweisen eines experimentellen und eines traditionellen Weges widersprechen sich also so sehr, dass der „Kombiweg“ nur schwer vorstellbar ist Die Streiter der Musikpädagogik bewegen sich zwischen zwei Fronten. Es ist die starke Mauer des „fachlich Musikalischen“ und die hoffnungsvolle „Nebelwand“7 des „Musischen“. Während Adorno (1991)8 die Trennung „musikalischer Subjektivität der Schüler“ und „Objektivität musikalischer Wahrheit“ mit „Geist“ verbinden möchte, versuchen hingegen Scheller, Meyer und Stroh9 mit schulpraktischem szenischen Spiel unsere „gestaltenden Kräfte zu wecken“.10 Peter Mraz sammelte und ordnete in seiner Dissertation leitende Lehrziele und suchte nach Möglichkeiten ihrer Legitimation. Dazu analysierte er auch aktuelle Lehrpläne. Er stieß dabei ebenfalls auf zwei grundsätzliche Ausrichtungen: „Die Auseinandersetzung mit der musikalischen Objektwelt und Beeinflussung des Lerners in Richtung Musik, sogenannte ‚Erziehung zur Musik‘ und die Auseinandersetzung mit der übrigen Objektwelt, Beeinflussung des Lerners in Hinblick auf außermusikalische Anwendungsmöglichkeiten, sogenannte ‚Erziehung durch Musik‘.11 Ein experimenteller Weg in der Musikausbildung sollte meiner Meinung nach von ganzheitlichen Methoden und einer sozial-gesellschaftlichen Basis ausgehen. So können Schüler Interesse für die Musik entwickeln und die Wirkung der Musik empfinden lernen. Eine freie Erfahrung der Musik hat keine institutionellen Zwänge. Sie braucht Möglichkeiten, die Grundelemente der Musik, vor allem Rhythmus, hautnah zu erfahren. Ansprüche des Lehrers, Ratschläge der Eltern, Sanktionsmöglichkeiten des Schulsystems stören dabei. Ein traditioneller Weg zeichnet sich, wie zum Beispiel beim spanischen Solfeo, durch eine ordentliche Musikausbildung mit formulierten Lehrzielen, mit einfachen Übungsmethoden und mit Disziplinierung der Schüler aus. Auserwählte Schüler sollen im traditionellen Sinne zu Musikern erzogen werden. Besonders deutlich veranschaulicht das auch der Strukturplan des Verbandes der deutschen Musikschulen: Musikbegabte sollen schon ab dem viertem Lebensjahr aufgespürt werden und können, wenn sie wollen, eine Karriere zum Laienmusiker oder zum Berufsmusiker durchlaufen.12
Ein Ziel meiner Magisterarbeit sehe ich folglich darin, die Vorteile einer experimentellen und einer traditionellen Rhythmusmethode wiederzufinden und gegenüberzustellen. Lehrkräfte können sich so über diese Methoden vielseitig informieren und TaKeTiNa als einen neuen experimentellen, erprobten Weg zum Rhythmus und Solfeo als eine traditionsreiche Herangehensweise der Musikerziehung kennenlernen.
1.3 Selbsterfahrung der zwei Herangehensweisen durch mein Musikstudium in Palencia und Oldenburg
Durch mein Auslandsstudium in Spanien hatte ich die glückliche Gelegenheit, die Unterschiede beider Methoden selbst zu erfahren. Durch mein Solfeostudium am Konservatorium in Palencia wurde ich mit einer rigorosen, harten Weise des Rhythmusunterrichts konfrontiert. Kurz nach dem Auslandsstudium machte ich dann in der Carl von Ossietzky Universität in Oldenburg eine eindrucksvolle Erfahrung mit Flatischlers TaKeTiNa, ein für mich experimenteller Weg, Rhythmus und Musik zu erfahren. Die „alte Schule“ des Solfierens vermischte sich mit Flatischlers „experimenteller“ Herangehensweise. Ich merkte, wie mir mein durch Solfeo erlerntes Wissen half, die rhythmischen Bewegungen von Beinen, Füßen, Händen und Stimme beim TaKeTiNa zu koordinieren. Die vielen Klangeindrücke der Trommeln und Rasseln, des Stampfen der Füße, des Klatschens und der Stimmen, öffneten mein Bewusstsein. Rhythmische Bewegungsabläufe, die mir vorher nie gelangen, was ich immer auf mangelnde Musikalität zurückführte, liefen nun mit und ohne gedanklicher Reflexion. Ich durchschaute die rhythmischen Bewegungen, ich konnte mich in den Kreis einfügen und das Angenehmste war, dass ich viele Fehler erkennen konnte, ohne mich darüber aufzuregen. Die Verbindung eines traditionellen und eines experimentellen Weges, wie es auch die Präambel der Musikschulen empfiehlt, verhalf mir zu einer realistischeren Selbsteinschätzung meiner musikalischen Fähigkeiten. Sie vergrößerte die Leichtigkeit aller rhythmischen Bewegungen und damit den musikalische Genuss. Auch mein Gitarrespiel wurde rhythmisch genauer. Ich konnte, ohne mit dem Instrument zu üben, im Bassschlüssel vom Blatt spielen, und es gelang mir viel besser als vorher, im Ensemble Musik zu machen. Musizieren hatte für mich durch beide Erfahrungen eine viel größere Bedeutung, mehr Lebensfreude bekommen.