IV.
Die 114 Verse des THOMAS-EVANGELIUM
(Eine Liste der Verse finden Sie am Ende des Buches ab Seite →
Worte des Lebens
0: Dies sind die geheimen Worte, die Jesus, der Lebendige, sprach und die Didymos Thomas aufgeschrieben hat.
Das Thomas-Evangelium beginnt mit diesen einleitenden und auf den Kern des inneren Christentums hinweisenden, zum Leben führenden Worten.
Der Beiname „Didymos“, d. h. „Zwilling“, wird Thomas auch im Johannes-Evangelium (11, 16; 20; 24, 29 + 21, 2) gegeben. Die Erläuterung dazu findet sich in den apokryphen „Thomas-Akten“, in denen Thomas der Zwillingsbruder Jesu genannt wird, was wohl im übertragenden Sinne gemeint ist und besagen soll, dass Thomas, neben Johannes, zu den von Jesus am tiefsten in seine Lehre Eingeführten und Eingeweihten zählt.
Im gleichen Johannes-Evangelium (16, 12) sagt Jesus, dass er den Jüngern noch viel zu sagen habe, dass sie es aber noch nicht zu tragen und zu begreifen vermögen. Gleichzeitig und später hat er jedoch Thomas und auch anderen Jüngern Teile der verborgenen Gottesweisheit enthüllt und ihnen damit die nötigen geistigen Hilfen gegeben, für die eigene Höherentwicklung und Selbstvollendung, wie auch Vers 13 zeigt.
Wenn Thomas von „geheimen Worten Jesu“ spricht, so im gleichen Sinne, wie dies im Markus-Evangelium (4, 11) geschieht, wo Jesu Wort an den engeren Kreis der eingeweihten Jünger angeführt wird, „Euch ist’s gegeben, das Geheimnis des Reiches Gottes zu wissen; denen aber draußen widerfährt es alles durch Gleichnisse“, deren Sinn den noch Unerwachten nach dem Grade ihrer seelischen Ansprechbarkeit und Erweckbarkeit aufgeht.
Die Sinndeutung dieser Gleichnisse vermittelte Jesus im engeren, inneren Kreis den Jüngern, die dafür schon aufgeschlossen waren, wie Markus (4, 33 f.) weiter ausführt: „Durch viele solcher Gleichnisse sagte er ihnen das Wort so, dass sie es hören konnten“. Das heißt, er führte sie zum Vernehmen des Wortes in ihrem Inneren.
„Und ohne Gleichnisse redete er nichts zu ihnen; aber insonderheit legte er’s seinen Jüngern alles aus.“
In diesem inneren Kreis der eingeweihten Jünger wurden die im Thomas-Evangelium wiedergegebenen Herrenworte aufgezeichnet, mit deren Erläuterungen ich nun beginnen möchte:
Die große Verheißung
1: Und er sprach: „Wer die Deutung dieser Worte findet, wird den Tod nicht schmecken.“
Wer die Worte des Vollendeten in besinnlicher Meditation in sich lebendig werden lässt und ihren verborgenen Sinn erkennt, der erlangt unmittelbare Gewissheit, vor allem die Gewissheit des ewigen Lebens. Er wird hellhörig für das innere Wort, hellsichtig für das innere Licht und seiner inneren Führung bewusst. Er wird Christus, den Auferstandenen, der den Tod überwunden und die Pforten des Reiches Gottes für alle geöffnet hat, in sich finden und damit, wie Christus, über den Tod triumphieren und der Unvergänglichkeit seines göttlichen Selbst’ sicher sein. Mit Christus geeint, ist er dem Wahn und Weh der Weltgebundenheit enthoben. –
Thomas konnte so sprechen, erschien Christus nach seiner Auferstehung doch einmal nur seinetwegen (Joh. 20,24 f.). Er konnte auf Grund seiner eigenen Einweihung und Erleuchtung (Vers 13) bestätigen, was auch die anderen Evangelisten (Mark. 9, 1; Matth. 16, 28) verhießen, nämlich „dass etliche von denen, die hier stehen, den Tod nicht schmecken werden, bis dass sie das Reich Gottes in voller Macht kommen sehen“, das Reich Gottes, das sich nicht irgendwann in Zukunft mit großer Pracht vom Himmel auf die Erde niedersenkt, sondern das innen ist und darauf wartet, dass jeder seiner Gegenwart bewusst werde.
Den zu ihm Erwachenden ist die esoterische Bedeutung des Christus-Wortes aufgegangen: Sie haben Christus und mit ihm das Reich Gottes in sich gefunden und sind ihrer Todlosigkeit sicher. Im Gegensatz zu den noch in tiefem Seelenschlaf gefangenen, nur dem äußeren Dasein zugewandten Menschen sind sie zur höheren Wirklichkeit der Innenwelt und zum Gewisssein ewigen Lebens erwacht.
Die gleiche Wahrheit wiederholt Johannes (8, 52): „So jemand mein Wort hält, wird er den Tod nicht schmecken ewiglich“, weil er, wenn das innere Wort sein Halt ist, zum wirklichen, ewigen Leben jenseits des vergänglichen bloßen Daseins erwacht ist.
Nach dieser einleitenden Verheißung weist der nächste Spruch sogleich auf das Wesentliche hin: die Wendung des Wahrheitssuchers nach innen.
Gottsucher sind von Gott Gesuchte
2: „Wer sucht, höre nicht auf zu suchen bis er findet. Und wenn er findet, wird er verwirrt werden, und wenn er verwirrt ist, wird er sich wundern, und er wird herrschen über das All.“
Die im Matthäus-Evangelium (7, 7) gegebene Verheißung, „Suchet, so werdet ihr finden!“, erfährt eine Vertiefung in Vers 2 des Thomas-Evangeliums, der offenbar tiefen Eindruck machte, da er auch von anderen Seiten wiederholt wird, so in den in Oxyrhynchus in Ägypten aufgefundenen Evangelien-Fragmenten und Christusworten, in denen sich (II, 1) der fast gleiche Spruch findet: „Wer sucht, soll nicht ruhen bis er findet. Wenn er aber gefunden hat, wird er staunen; staunend wird er das Reich erlangen, und hat er es erlangt, wird er Ruhe finden.“
Inmitten der Unruhe, Hast und Haltlosigkeit des äußeren Lebens können wir erfahren, dass im Innersten Ruhe ist: Der Friede Gottes. Rastlosigkeit und Verwirrung gehören dem Äußeren an und entspringen der Furcht vor dem Leben, während im Mittelpunkt des kreisenden „Rades des Weltgeschehens“ Unbeweglichkeit und All-Geborgenheit herrschen.
Selig alle, die die Unruhe des Herzens treibt, solange mit der Suche fortzufahren, die letztlich eine Selbst-Suche ist, bis im Sturm und Wellengang des Lebensmeeres die rettende Insel des Friedens, die Stätte der Stille, gefunden ist. –
Die Schlussworte von Vers 2 finden sich auch in dem aus Zitaten der Kirchenväter, vor allem Hieronymus und Clemens von Alexandrien, bruchstückweise bekannten Hebräer-Evangelium: „Wer sich wundert, wird das Reich erlangen; und wer darin herrscht, wird ruhen.“
Seine Seele Schreitet, weil sie dem Wunder des Lebens aufgeschlossen und dem Wesentlichen zugewandt ist, durch das Tor des Staunens aus dem Dunkel ins Helle, erwacht zum Licht der Wahrheit, erkennt in diesem Lichte die innere Heimat, das Reich Gottes, gelangt im Bewusstsein ihrer All-Geborgenheit zur Gelassenheit und wird (all-)mählich zum Bild und zum Träger der Ruhe des Ewigen, den sie in sich weiß.
Wer so in allem das Wesentliche sucht und festhält, bis in den letzten, den göttlichen Grund hinabtaucht und dabei das, was nicht Gott ist, von sich weist, der findet in allem Gott, und zugleich geht ihm, dem Gottsucher auf, dass er in Wahrheit ein von Gott Gesuchter war, dass Gott mit jedem Schritt den er zu IHM hin tat, ihm zwei Schritte entgegenkommt, bis der in Gott erwachte Mensch und der Mensch gewordene Gott nicht mehr zwei sind, sondern einer.
Doch gilt es hier, wie überall, Wachsamkeit und Vertrauen walten zu lassen, worauf ein anderes, von Hieronymus zitiertes Wort Christi von der Verwirrung hinweist:
„Es gibt eine Verwirrung, die zum Tode führt, und es gibt eine Verwirrung, die zum Leben führt.“
Der Unerwachte wird durch eine jähe Wandlung gar leicht im Bewusstwerden der eigenen Ohnmacht und der Übermacht des Schicksals in den Abgrund der Furcht, des Erschauerns und Grauens gerissen und erkennt nicht, dass die Verwirrung seinen Sehkreis erweitern und ihm die nahende Entwirrung sichtbar machen will. So wird er nur rat- und hilfloser und stürzt vom Zweifel in die Verzweiflung, wo er himmelwärts steigen sollte. –
Auch der Erwachende kennt das Erschauern, das die Verwirrung begleitet; doch sein Vertrauen lässt ihn nicht ängstlich erstarrt stocken, sondern mutig weiterschreiten zum Staunen, vom Staunen zur Hingabe und weiter zum Durchbruch aus dem Halbwachsein in die hellwache Bewusstheit der größeren Wirklichkeit, die sich vor ihm eröffnet.
Das ist die Verwirrung, die zum Leben führt: zum Leben aus dem Geiste und im Gewisssein der Geborgenheit in Gott.
Insgesamt erweitert Christus mit diesem Wort die schon von Plato getroffene Feststellung, dass alle Weisheitsliebe und Wahrheitssuche mit dem Staunen über das So-Sein der Dinge beginnt und, über die staunende Bewunderung und Ehrfurcht gegenüber den Wundern der Schöpfung, zur Erkenntnis führt.
Am Beginn allen Findens stehen Verwirrung und Staunen ob der Wunder des inneren Lebens. Aus der Verwunderung erwächst die Erhebung in die geistige Welt, die Inbesitznahme des „Reiches, das seit Anbeginn der Welt für die Kinder Gottes bereitet ist“ (Matth. 25, 34), die kosmische Bewusstheit und Herrschaft, die größer ist als aller Erdenbesitz und alle irdische Macht.
Und von diesem göttlichen Reich handelt der nächste Spruch:
Das innere Reich
3: Jesus sprach: „Wenn eure Anführer euch sagen: ‚Seht, das Königreich ist im Himmel’, dann werden die Vögel des Himmels euch zuvorkommen. Wenn sie sagen: ‚Es ist im Meere’, werden die Fische euch zuvorkommen. – Aber das Königreich ist inwendig in Euch und außerhalb von euch. Wenn ihr euch erkennt, dann werdet ihr erkannt werden, und ihr werdet wissen, dass ihr die Söhne des lebendigen Vaters seid. Wenn ihr euch aber nicht erkennen werdet, dann seid ihr in Armut und ihr seid die Armut.“
Diese Worte weisen auf den Kern des inneren Christentums: Das Reich Gottes ist nicht „im Himmel“, das heißt, am äußeren Firmament, wie es nicht im Meere ist oder sonst wo draußen. Es ist kein Ort, sondern ein Sein, zu dem jeder erwachen soll und kann. Es ist, wie es auch bei Lukas (17, 21) Ausdruck findet, im Innersten des inneren Menschen. Anders gesagt: Jeder Mensch gehört seiner äußeren Erscheinung nach der Welt an, seinem innersten Wesen nach dem Reiche Gottes, wie auch spätere Worte klarstellen.
Durch den Menschen, der außen und innen lebendig ist, ist auch das Reich Gottes nicht nur in uns sondern auch außerhalb von uns gegenwärtig, soweit er es durch rechtes Denken und Handeln in seiner Umwelt offenbart und verwirklicht: als Liebe, Güte, Duldsamkeit, Wohlwollen, Barmherzigkeit, Gerechtigkeit, Hilfsbereitschaft, Licht, Erkenntnis und Weisheit, also in dem Maße seines Tuns im Äußeren und am Nächsten, als Ausdruck seiner Selbstverwirklichung, die zugleich Sinnerfüllung seines Lebens ist.
So ist das Reich Gottes sowohl verborgen als auch offenbar. Es ist überall und jederzeit; es offenbart sich allen, die innerlich für die Wirklichkeit wach werden und manifestiert sich durch sie auch im Äußeren.
Hierauf weist der zweite Teil des Spruches hin, der von der Erkenntnis des göttlichen Selbst handelt, als Erbe des Reiches Gottes für alle, es gleichermaßen in sich und um sich zu verwirklichen: „Wenn ihr euch erkennt, werdet ihr erkannt werden“ und zwar dreifach: von Gott als der Sohn, von der Welt als Träger des Lichtes, der Liebe und Weisheit Gottes und von den Erwachten als Ihresgleichen und als Hüter des Grals. Dann wisst ihr, dass ihr „Söhne des lebendigen Vaters seid“ und Eigner der Fülle Gottes.
Paulus gibt in seinem Brief an die Galater (4, 9) der gleichen Wahrheit Ausdruck: „Nun ihr aber Gott erkannt habt, ja vielmehr von Gott erkannt seid“. Ebenso im 1. Korinther-Brief (13, 12): „Dann werde ich erkennen, wie auch ich erkannt bin“, womit die volle Gott-Selbst-Erkenntnis gemeint ist. Wo diese Selbsterkenntnis, die zugleich Erkenntnis Gottes und seines Reiches im Innern ist, hingegen fehlt, da herrschen noch Bedürf...