Für eine neue Freiheit 1
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Für eine neue Freiheit 1

Kritik der politischen Gewalt: Staat und Krieg

  1. 220 Seiten
  2. German
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Für eine neue Freiheit 1

Kritik der politischen Gewalt: Staat und Krieg

Über dieses Buch

»Lassen Sie uns überlegen, was die staatliche Verwaltung von allen anderen Organisationen in der Gesellschaft unterscheidet. … Zuerst erhält jede andere Gruppe ihr Einkommen durch freiwillige Zahlungen … Nur der Staat erlangt sein Einkommen durch Zwang und Gewalt. … Ein zweiter Unterschied ist, dass, von Kriminellen abgesehen, nur der Staat seine Mittel dazu nutzen kann, gegen seine eigenen oder irgendwelche andere Menschen Gewalt anzuwenden.« Murray N. Rothbard. 1973 erschien die erste Ausgabe von »For A New Liberty«, verfasst durch den Ökonomen und politischen Aktivisten Murray N. Rothbard (1926-1995). Mit diesem Werk ist die anarchistische Theorie gleichsam erwachsen geworden. Polemisch und leichtfüßig im Ton, auf sehr us-amerikanische Weise verwurzelt in radikaler liberaler »konservativer« Tradition und zugleich erkennbar Kind des neulinken antiautoritären Aufbruchs in kulturelle Freiheit und in Engagement gegen den Krieg, liegt Rothbards Werk doch eine bedeutende theoretische Anstrengung zugrunde: Es schweißt die moralische Ablehnung von Zwang, Gewalt und Krieg mit der ökonomischen Kritik an Eingriffen in die Freiwilligkeit zusammen zu der Konzeption des »neuen Libertarismus«. Der vorliegende erste Band, die Kapitel 1 bis 3 sowie 14 und 15 des Originals, enthält die ethische Kritik der politischen Gewalt, die unabhängig von Erwägungen der Nützlichkeit und Durchführbarkeit Gültigkeit beansprucht. Er reflektiert auf seine spezifische Weise die Tradition liberaler (»konservativer«), anarchistischer und antimilitaristischer Kritik. Der parallel erscheinende zweite Band, die Kapitel 4 bis 13 des Originals, untersucht die Möglichkeit, das gesellschaftliche Leben ohne Staatsgewalt sinnvoll und besser zu organisieren.

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Information

1. Friedlicher Austausch: Das libertäre Credo

Das Nichtaggressions-Axiom
Die libertäre Überzeugung beruht auf dem einen zentralen Axiom, dass kein Mensch und keine Gruppe von Menschen andere Menschen oder deren Eigentum angreifen dürfe. Dieses Axiom können wir das »Nichtaggressions-Axiom« nennen. »Aggression« ist dabei als die Verwendung von physischer Gewalt oder die Drohung mit ihr gegen eine andere Person oder deren Eigentum definiert. Aggression ist daher gleichbedeutend mit »Invasion«.
Wenn niemand einen anderen angreifen darf, wenn jede Person das absolute Recht hat, »frei« von Aggression zu sein, dann folgt daraus einerseits, dass der Libertäre grundsätzlich für die allgemein als »Bürgerrechte« bekannten Rechte eintritt: für die Freiheit der Rede, der Veröffentlichung und der Versammlung sowie für die Freiheit, »Verbrechen ohne Opfer« wie etwa Pornographie, Prostitution oder vom Normalen abweichende sexuelle Handlungen zu begehen (die der Libertäre nicht als »Verbrechen« ansieht, denn er definiert als »Verbrechen« bloß eine gewaltsame »Invasion« in den Körper oder in das Eigentum eines Menschen). Weiterhin hält er die Wehrpflicht für Sklaverei auf breiter Front. Und weil Kriege, besonders moderne Kriege, massenhaftes Abschlachten von Zivilisten nach sich ziehen, hält der Libertäre Kriege für Massenmord und damit für vollkommen illegitim.
All diese Positionen werden auf der heutigen ideologischen Skala als »links« eingestuft. Weil der Libertäre aber auf der anderen Seite gegen Attacken auf persönliche Eigentumsrechte Stellung bezieht, bedeutet das, dass er genauso nachdrücklich gegen alle staatliche Invasionen in das Eigentum oder in die Marktwirtschaft durch irgendwelche Kontrollen, Regulierungen, Subventionen oder Verbote eintritt. Wenn jedes Individuum ein Recht darauf besitzt, über sein Eigentum zu verfügen, ohne dessen aggressive Beeinträchtigung fürchten zu müssen, dann hat es auch das Recht, dieses Eigentum ohne Hindernisse wegzugeben (durch Testament oder Geschenk) oder es gegen das Eigentum von anderen einzutauschen (durch eine freie Übereinkunft in einer freien Marktwirtschaft). Der Libertäre vertritt das unbeschränkte Recht auf freies Eigentum und auf freien Austausch, also ein System des »laissez-faire-Kapitalismus «.
In der modernen Terminologie würde die libertäre Position zu Eigentum und Wirtschaft »extrem rechts« genannt werden.2 Aber der Libertäre sieht keinen Widerspruch darin, zu einigen Themen »linke« und zu anderen Themen »rechte« Positionen zu vertreten. Er sieht ganz im Gegensatz dazu seine eigene Position als die einzige unwidersprüchliche Position an, unwidersprüchlich im Namen der Freiheit jedes einzelnen Individuums. Denn wie kann ein Linker einerseits gegen die Gewalt von Krieg und Wehrpflicht sein, andererseits aber die Gewalt von Besteuerung und staatlicher Kontrolle unterstützen? Und wie kann ein Rechter behaupten, Anhänger von Privateigentum und freiem Unternehmertum zu sein, wenn er gleichzeitig Krieg und Wehrpflicht sowie das Verbot von Handlungen gutheißt, die zwar niemandem schaden, die er aber für »unmoralisch« hält? Und wie kann ein Rechter nach freiem Markt rufen und zugleich nichts Falsches an Subventionen, Eingriffen sowie unproduktiver Ineffizienz finden, die verbunden sind mit dem Militärisch-Industriellen Komplex?
Gegen jeden individuellen oder kollektiven Angriff auf die Rechte einer Person und ihr Eigentum in Opposition, erkennt der Libertäre, dass es durch die ganze Geschichte hindurch bis zum heutigen Tag einen zentralen, mächtigen und überlegenen Aggressor gegen alle diese Rechte gab: den Staat. Im Gegensatz zu allen anderen Denkern, gehören sie zur Rechten, zur Linken oder zur Mitte, erteilt der Libertäre dem Staat nicht das moralische Recht, Handlungen auszuführen, die fast jeder für unmoralisch, illegal und kriminell halten wird, sobald eine einzelne Person oder eine private Gruppe sie begeht. Der Libertäre besteht nun, kurz gesagt, darauf, das moralische Gesetz auf jeden anzuwenden, und macht da keine Ausnahmen für irgendwen. Wenn wir aber den Staat einfach so betrachten, wie er ist, dann sehen wir, dass ihm Dinge erlaubt sind, die selbst Nichtlibertäre für Verbrechen halten. Der Staat begeht gewohnheitsmäßig Massenmord, den er »Krieg« oder manchmal »Abwehr von Subversion« nennt, der Staat nimmt eine Versklavung in seinen Streitkräften vor, die er »Wehrpflicht« nennt, und er lebt vom gewaltsamen Raub, den er »Besteuerung« nennt. Der Libertäre bleibt dabei, dass auch Zustimmung einer Mehrheit der Bevölkerung diese Handlungen ihrer Natur nach nicht »wandelt«: Krieg ist Massenmord, Wehrpflicht ist Sklaverei, Besteuerung ist Raub. Hier gleicht der Libertäre fast dem Kind im Märchen, das darauf beharrt, dass der Kaiser keine Kleider anhabe.
Die Jahrhunderte hindurch hatte der Kaiser eine Reihe von Pseudokleidern an, die ihm durch die jeweilige intellektuelle Kaste der Nation zur Verfügung gestellt wurden. In vergangenen Jahrhunderten sagten die Intellektuellen der Öffentlichkeit, dass der Staat oder seine Herrscher göttlich wären oder zumindest mit göttlicher Autorität versehen. Deshalb zeige sich in dem, was einem naiven und ungeübten Auge wie Despotismus, Massenmord und Diebstahl großen Ausmaßes erscheint, das »Wesen« Gottes, das gütig und geheimnisvoll in Gestalt der Politik wirkt. In letzter Zeit galt die göttliche Rechtfertigung als etwas abgedroschen, die Hofintellektuellen des Kaisers ersannen aufwändigere Rechtfertigungen: Der Öffentlichkeit wurde erzählt, dass alles, was die Regierung tue, dem »Gemeinwohl« und der »öffentlichen Wohlfahrt« diene, dass der Prozess von Besteuerung und öffentlichen Ausgaben auf mysteriöse Weise als »Multiplikator« wirke und die Wirtschaft in einem gleichmäßigen Fahrwasser halte. Außerdem könnten viele staatliche »Dienstleistungen« gar nicht von freiwillig auf dem freien Markt oder in Gesellschaft handelnden Bürgern erbracht werden. All das bestreitet der Libertäre: Die verschiedenen Argumente sind bloß betrügerische Versuche, öffentliche Unterstützung für die Herrschaft des Staates zu erlangen. Er insistiert darauf, dass alle Dienstleistungen, die der Staat erbringt, effizienter und moralisch gerechtfertigter durch privates und gemeinschaftliches Handeln erbracht werden könnten.
Deshalb sieht der Libertäre als sein wichtigstes Erziehungsziel es an, die Entmystifizierung und die Entheiligung des Staates bei seinen arglosen Bürgern zu befördern. Er zielt darauf ab, immer wieder und eindringlich zu zeigen, dass nicht bloß der Kaiser, sondern dass auch der »demokratische« Staat ohne Kleider sei, dass jede Regierung bloß durch die Ausbeutung der Bevölkerung überlebe und dass eine solche Herrschaft objektiv nicht notwendig wäre, im Gegenteil. Er bemüht sich zu zeigen, dass schon die Existenz von Staat und Besteuerung unausweichlich zur Klassenteilung zwischen den ausbeutenden Herrschenden und den besteuerten Beherrschten führt. Er versucht nachzuweisen, dass es immer zur Aufgabe der Intellektuellen, die den Staat unterstützten, gehörte, ein Netz aus Mystifikationen zu weben, um die Öffentlichkeit dazu zu bringen, die staatliche Herrschaft zu akzeptieren, und dass diese Intellektuellen im Gegenzug einen Teil der Macht erhalten, die die Herrschenden den getäuschten Menschen genommen haben.
Betrachten wir zum Beispiel die Institution der Besteuerung, von der die Etatisten behauptet haben, dass sie in einem bestimmten Sinne »freiwillig« sei. Jeder, der wirklich an die »freiwillige« Natur der Besteuerung glaubt, sollte die Zahlung der Steuern verweigern und sehen, was mit ihm geschieht. Wenn wir die Besteuerung analysieren, sehen wir, dass unter allen Institutionen und Personen einer Gesellschaft nur die Regierung ihre Einnahmen mit Zwangsgewalt eintreibt. Jedes andere Mitglied der Gesellschaft erhält sein Einkommen entweder als Geschenk oder durch den Verkauf von Waren oder Dienstleistungen, die freiwillig von Konsumenten gekauft werden. Wenn irgend jemand neben der Regierung Steuern erheben würde, würde das als klarer Fall von Zwang und wenig verstecktem Banditentum angesehen werden. Heute haben die mystischen Verzierungen der »Souveränität« den Prozess so weit verschleiert, dass bloß noch die Libertären die Besteuerung als das bezeichnen können, was sie ist: als einen groß angelegten legalisierten und organisierten Raub.
Eigentumsrechte
Das zentrale Axiom der libertären Überzeugung ist das Verbot der Aggression gegen andere Personen und deren Eigentum. Wie gelangt man zu diesem Axiom, was ist seine Grundlage, wodurch wird es gestützt? In dieser Frage unterscheiden sich die Libertären untereinander sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart deutlich. Es gibt grob gesprochen drei Typen der Grundlegung des libertären Axioms, die mit drei Typen der Moralphilosophie in Zusammenhang stehen: den emotivistischen, den utilitaristischen und den Naturrechtsstandpunkt. Die Vertreter des Emotivismus behaupten,3 dass sie Freiheit oder Nichtaggression aus rein subjektiven, gefühlsmäßigen Gründen als Prämisse benutzen. Das eigene starke Gefühl kann vielleicht als zwar gültige Basis für ihre politische Philosophie erscheinen, schwerlich aber dazu dienen, andere zu überzeugen. Dadurch, dass sie sich selber aus dem Gegenstandsbereich des rationalen Diskurses ausschließen, sorgen sie dafür, dass ihre Ideen keinen allgemeinen Erfolg haben können.
Die Vertreter des Utilitarismus4 folgern aus ihrer Analyse der Konsequenzen der Freiheit im Vergleich zu alternativen Systemen, dass die Freiheit sicherer zu weithin anerkannten Zielen führe: zu Harmonie, Frieden, Wohlstand usw. Niemand wird bezweifeln, dass die relativen Folgen analysiert werden müssen, um die Vorzüge und Nachteile verschiedener Konzeptionen bewerten zu können. Doch es spricht einiges dagegen, uns auf eine utilitaristische »Ethik« zu beschränken. Einerseits setzen die Utilitaristen voraus, dass wir auf der Basis von guten oder schlechten Konsequenzen zwischen Alternativen abwägen und zwischen politischen Handlungen entscheiden können. Wenn es aber legitim ist, Werturteile auf Konsequenzen von X anzuwenden, warum ist es nicht gleichfalls legitim, diese auch auf X selber anzuwenden? Könnte es nicht an einer Handlung selber etwas geben, das als »gut« oder »böse« zu bezeichnen wäre?
Ein weiteres Problem mit dem Utilitaristen liegt darin, dass er selten ein Prinzip als absoluten und konsistenten Maßstab für die unterschiedlichen konkreten Situationen der realen Welt verwendet. Er wird ein Prinzip im besten Fall bloß als vage Richtlinie verwenden, als eine Tendenz, über die er sich jederzeit hinwegsetzen kann. Das war der wesentliche Mangel der englischen Radikalen des 19. Jahrhunderts, die den Standpunkt des laissez-faire der Liberalen des 18. Jahrhunderts übernahmen, das angeblich »mystische« Konzept des Naturrechts aber durch den angeblich »wissenschaftlichen« Utilitarismus als Grundlage ihrer Philosophie ersetzten. So kamen die laissez-faire-Liberalen des 19. Jahrhunderts dazu, das laissez-faire nur noch als vage Tendenz anstatt als lupenreinen Maßstab zu benutzen und damit die libertäre Überzeugung zunehmend fatalen Kompromissen zu opfern. Wenn man den Utilitaristen nicht »vertraut«, dass sie die libertären Prinzipien in jedem speziellen Fall befolgen, mag das hart klingen, es trifft aber den Punkt. Ein bemerkenswertes aktuelles Beispiel dafür ist der marktwirtschaftliche Ökonom Milton Friedman,5 der, wie seine Vorgänger in der klassischen Ökonomie, die Freiheit von staatlichen Interventionen als allgemein richtige Tendenz ansieht, in der Praxis allerdings eine Vielzahl verheerender Ausnahmen zulässt. Das sind Ausnahmen, die das Prinzip fast völlig entwerten, besonders in den Feldern von Polizei und Militär, von Bildung, Besteuerung, Wohlfahrt, »Externalitäten«, Kartellgesetzen sowie Geld und Bankwesen.
Lassen Sie uns ein krasses Beispiel betrachten: Nehmen wir eine Gesellschaft an, die inbrünstig glaubt, alle Rothaarigen seien Agenten des Teufels und müssten deshalb getötet werden, wo immer man sie antreffe. Weiter nehmen wir an, dass es in jeder Generation nur eine kleine Gruppe Rothaariger gibt, so wenige, dass ihre Anzahl statistisch unbedeutend ist. Der utilitaristische Libertäre könnte folgern: »Obwohl der Mord an den einzelnen Rothaarigen bedauerlich ist, ist doch die Anzahl der Exekutionen gering; die übergroße Mehrheit der Menschen, die keine Rothaarigen sind, erfährt durch die öffentliche Exekution von Rothaarigen enorme psychische Befriedigung. Die sozialen Kosten sind zu vernachlässigen, der soziale und psychische Nutzen für den Rest der Gesellschaft ist groß, demnach ist es für die Gesellschaft als gut und richtig anzusehen, die Rothaarigen zu exekutieren.« – Der naturrechtlich argumentierende Libertäre, der darauf besteht, die Handlung selber müsse gerecht sein, wird mit Grauen reagieren und standhaft und unmissverständlich gegen die Exekutionen als vollkommen ungerechtfertigten Mord und als Aggression gegen nichtaggressive Personen auftreten. Die Konsequenz davon, jenes Morden zu unterbinden, dass auf diese Weise der Mehrheit der Gesellschaft ein großes »Vergnügen« abgeht, wird einen derartigen Libertären, einen gleichsam »absoluten« Libertären, nicht im geringsten beeinflussen. In seiner Idee von Gerechtigkeit und logischer Konsistenz gibt der naturrechtlich fundierte Libertäre freudig zu, »doktrinär« zu sein, also jemand, der seinen eigenen Doktrinen folgt.
Gehen wir jetzt zur naturrechtlichen Grundlage libertärer Überzeugung über, wie sie in der einen oder anderen Form von fast allen Libertären in Vergangenheit und Gegenwart geteilt wird. Die »Menschenrechte« sind das Fundament einer politischen Philosophie, die in die größere Struktur des »Naturrechts« eingebettet ist.6 Die Naturrechtstheorie basiert auf der Einsicht, dass wir in einer Welt mit mehr als einer – genau genommen mit einer sehr großen Zahl von – Entitäten leben, und dass jede Entität eigene und spezifische Eigenschaften besitzt, eine eigene »Natur«, die der Mensch mit seiner Vernunft, also durch seine Sinne und seinen Verstand erkennen kann. Kupfer hat eine bestimmte Natur und verhält sich in einer bestimmten Weise, genauso wie Eisen, Salz usw. Die Gattung Mensch hat genauso eine spezifische Natur wie die Welt, die sie umgibt, und die verschiedenen Arten der Wechselwirkung zwischen ihnen. Um es in übermäßiger Kürze zu sagen: Die Aktivität jeder organischen oder anorganischen Entität ist durch ihre eigene Natur und durch die Natur der anderen Entitäten, mit denen sie in Kontakt kommt, bestimmt. Während nun das Verhalten von Pflanzen und mindestens von niedrigen Tieren durch ihre biologische Natur oder vielleicht durch ihre »Instinkte« festgelegt wird, ist die Natur des Menschen derart, dass jede einzelne Person, um überhaupt handeln zu können, ihre eigenen Ziele wählen muss und ihre eigenen Mittel, um diese Ziele zu erreichen. Da er keine automatischen Instinkte besitzt, muss jeder Mensch sich selber und seine Umwelt begreifen, seinen Verstand gebrauchen, um sich Werte zu setzen, Ursachen und Folgen zu verstehen und zielgerichtet zu handeln, damit er sich selber erhalten und seine Lebensumstände verbessern kann. Weil die Menschen bloß als Individuen denken, fühlen, bewerten und handeln können, ist es notwendig für das Überleben und Wohlergehen jedes Einzelnen, dass er frei ist zu lernen, sich zu entscheiden, seine Fähigkeiten zu entwickeln und nach seinem Wissen und seinen Werten zu handeln. Das ist der notwendige Weg der menschlichen Natur; in ihn einzugreifen und diesen Prozess mit Gewalt zu behindern, ist gegen das Überleben und den Wohlstand der Menschen gerichtet. Damit ist ein gewaltsamer Eingriff ins Lernen und in die Entscheidungen eines Menschen »antihuman« – er verletzt das natürliche Gesetz der menschlichen Bedürfnisse.
Individualisten ist von ihren Feinden oft ein »Atomismus« unterstellt worden, also die Behauptung, jedes Individuum lebe in einer Art »Vakuum« und denke und entscheide sich ohne Beziehung zu anderen Mitgliedern der Gesellschaft. Das ist ein argumentativer Popanz; wenige Libertäre waren je Atomisten, wenn es überhaupt welche gab. Im Gegenteil, es ist einsichtig, dass Individuen immer voneinander lernen, miteinander kooperieren und interagieren und dass das notwendig für das Überleben eines Menschen ist. Wesentlicher Punkt lautet, dass jedes Individuum die letzte Entscheidung trifft, welche Einflüsse es aufnimmt und welche es verwirft, oder welche es primär aufnimmt und welche sekundär.7 Den Prozess des freien Austauschs und der freien Kooperation zwischen frei handelnden Individuen begrüßt der Libertäre. Dagegen verabscheut er den Gebrauch von Gewalt, die eine derartige freie Kooperation behindert und die andere dazu bringt, sich anders zu entscheiden und anders zu handeln, als es ihnen ihr eigener Verstand sagt.
Die beste Methode, die naturrechtliche Position der Libertären zu erklären, besteht darin, sie in ihre Teile zu zerlegen und mit dem Basisaxiom des »Eigentums an sich selber« zu beginnen. Das Recht auf Eigentum an sich selber behauptet das absolute Recht jeder Person als menschlichem Wesen, ihren eigenen Körper zu »besitzen«, diesen Körper also frei von Zwangseinflüssen zu kontrollieren. Weil alle Individuen denken, lernen, bewerten und sich für Zwecke und Mittel entscheiden müssen, um zu überleben und zu gedeihen, gibt das Recht auf »Eigentum an sich selber« jedem Einzelnen das Recht, diesen Aktivitäten nachzugehen, ohne dass sie dabei durch Zwang eingeschränkt und behindert werden.
Betrachten wir, welche Konsequenzen es nach sich zieht, wenn jedem Menschen das Recht auf Eigentum an seiner eigenen Person verweigert wird. Dann gibt es nur zwei Alternativen: entweder hat (1) eine bestimmte Klasse A von Menschen ein Recht auf Eigentum an einer anderen Klasse B; oder (2) jeder Mensch hat das Recht auf Eigentum an einem bestimmten Anteil von jedem anderen Menschen. Die erste Alternative impliziert, dass der Klasse A das Recht zusteht, Mensch zu sein, während die Mitglieder der Klasse B in der Realität Untermenschen sind und kein solches Recht haben. Weil sie aber tatsächlich menschliche Wesen sind, widerspricht die erste Alternative sich selber, indem sie einer Gruppe von Menschen die natürlichen Menschenrechte8 vorenthält. Vor allem aber wird der Klasse A, wie wir sehen werden, mit dem Zugeständnis des Eigentums an Klasse B auch erlaubt, diese auszubeuten und damit parasitär auf deren Kosten zu leben. Dieses Parasitentum verletzt die wesentliche wirtschaftliche Voraussetzung für das Leben: Produktion und Austausch.
Die zweite Alternative, die wir »partizipatorische Gemeinsch...

Inhaltsverzeichnis

  1. Schriftenreihe
  2. Über den Autor
  3. Inhaltsverzeichnis
  4. Einleitung
  5. 1: Friedlicher Austausch: Das libertäre Credo
  6. 2: Staatsgewalt
  7. 3: Kriegspolitik
  8. 4: Eine Strategie der Freiheit
  9. 5: Das libertäre Erbe: Die amerikanische Revolution und der klassische Liberalismus
  10. Impressum