TEIL 1 - DAS SOLLTEN SIE WISSEN
Auch im ersten Band von »Ein Paar sein und bleiben« gab es bereits einen Theorieteil. Der wird hier nicht wiederholt, aber einige Aspekte werden aufgegriffen und weiter vertieft, weil Sie einfach so wichtig sind.
PAARE HABEN KONFLIKTE!
Schauen Sie doch mal etwas genauer auf das, was Sie Ihrem Partner beziehungsweise Ihrer Partnerin vorwerfen, an ihm oder ihr kritisieren, als zu viel oder mangelhaft erleben. Fast jeder oder jede, der das tut, kann vermutlich erkennen, dass das, was hier zum Thema geworden ist, auch schon früher im eigenen Leben eine Bedeutung hatte. Das, was Sie am Gegenüber bemängeln, haben Sie auch schon vorher erlebt und vermutlich reichen Ihre Erinnerungen zurück in Zeiten, in denen die aktuelle Beziehung noch gar nicht bestand.
Nicht jeder kann sich sofort an seine Kindheit erinnern, aber da, wo das problemlos geht, lässt sich der rote Faden der Vorgeschichte bis zu dieser Zeit zurückverfolgen. Das gerade beklagte Leiden - unter zu wenig Beachtung, Mangel an Wertschätzung et cetera - ist also nicht erst in der Beziehung entstanden, sondern ist ein Import in die Beziehung - mitgebracht aus längst vergangenen Tagen. Dabei lässt sich beobachten, dass immer genau dann, wenn so ein mitgebrachtes Thema im Geschehen mitspielt, sehr schmerzhafte Krisen entstehen. Eigentlich banale Probleme werden dadurch zu Sprengstoff-Themen.
Wenn der Partner zum Beispiel seine Sachen nicht wegräumt, obwohl man schon mehrfach deutlich gemacht hat, dass es einem nicht gefällt, dass sein Zeug überall herumliegt, kann man das schnell auch als persönliche Missachtung übersetzen. Das stehengelassene Glas nimmt man dann persönlich. Meist geschieht so etwas nicht bewusst, sondern unbewusst. Das gebrauchte Glas auf dem Wohnzimmertisch wird unbewusst als fehlende Beachtung der eigenen Wünsche und damit als Kränkung erlebt. Genauso unbewusst schaltet das eigene Gehirn dann um und ohne es zu merken befindet man sich mitten in den kränkenden Erlebnissen der Kindheit. Wenn dann der Partner nicht sofort schuldbewusst das Glas wegräumt, sondern vielleicht noch über die Zwanghaftigkeit des anderen argumentiert, bestätigt er der eigenen Psyche, dass die heutige Welt genauso strukturiert ist wie die damalige. Die eigene Psyche nimmt sich noch mehr die Erlaubnis, die alten Erfahrungen als Bezugspunkt zu nehmen. In der Folge entsteht ein nicht mehr steuerbarer Streit. Im schlechtesten Fall kommt in einem der ganze Frust aus der Kindheit hoch und entlädt sich jetzt und hier. Natürlich erlebt das Gegenüber das als ungerecht und ungerechtfertigt und greift dann sehr schnell - für ihn/sie ebenfalls vollkommen unbemerkt - auf eigene entsprechende Kindheitserfahrungen zurück. Wenn es ganz schlecht läuft, sind beide dann intensiv dabei, einander die Fehler der eigenen Eltern vorzuwerfen und geraten dabei immer tiefer in die Auseinandersetzung.
Dabei ist es vollkommen egal,wie banal der Ausgangspunkt ist. Ob es um den ungeleerten Mülleimer, den offenen Toilettendeckel, den ungetätigten Einkauf oder ähnliche Kleinigkeiten geht, tatsächlich debattiert man - ohne es zu wissen - Fragen von grundsätzlicher Wichtigkeit. Solche wie: »bin ich wichtig?«, »bin ich liebenswert?«, »kann ich dir vertrauen?«, »vertraust du mir?« et cetera. Weil es um solche grundlegenden Fragen geht, kochen auch die Emotionen so hoch.
Keiner der Beteiligten weiß etwas von der unbewusst hinein gestrickten Kindheitsthematik. Aber weil Vergangenheit und Gegenwart so vermengt sind, werden die Angriffe des anderen als gegen die eigene Person gerichtet verstanden und als verletzend, ungerecht, unangemessen und ähnlich erlebt. Alles wird zum Treibstoff für eigene Angriffe beziehungsweise Verteidigung und zur Bestätigung, dass das eigene Handeln jetzt vollkommen angemessen ist. Dieser Prozess funktioniert in einer sich selbst verstärkenden Weise; je länger er abläuft, umso intensiver wird der Konflikt. So etwas kann sehr laut werden, aber auch ganz still ablaufen. Manche schlucken die Verletzungen herunter, manche schreien sie hinaus. Manche beenden in so einem Moment die Beziehung, bei anderen bröckelt zumindest ein Stück von der gegebenen Liebe ab.
Der Partner ist nicht die Ursache
In den letzten Sätzen steckt eine sehr wichtige Botschaft: Die gegenwärtigen Probleme entstehen nicht, weil Sie den falschen Partner gewählt haben oder beide unfähig sind, miteinander gut umzugehen oder Sie einander nicht wirklich lieben, sondern weil es irgendwann in der Vergangenheit nicht so gut gelaufen war und zwar bei beiden Beteiligten.
Die Beziehungsrealität des Paares liefert nur Stichworte, ist aber nicht die Ursache. Das Paar-Unglück wird von dem bestimmt, was beide an persönlichen Themen aus der Kindheit mitgebracht haben. Wenn man dies nicht weiß, hat man nicht die geringste Chance, aus den Problemkreisen herauszukommen. Sie werden sich immer weiter und immer in genau derselben Weise entfalten. Und mit jedem weiteren unangenehmen Ablauf wird die Liebe beiderseits wieder etwas mehr abgebaut, bis Sie sich vielleicht endgültig voneinander verabschieden.
Das muss aber nicht sein. Gegen diese Importe aus anderen Zeiten kann man etwas tun. Ein großartiges Mittel dafür bekommen Sie in diesem Buch. Es ist der Schlüssel zur Psyche.
Unbewusste Steuerung
Wieso spielen die Lasten der Kindheit auch noch Jahre später so eine bedeutende Rolle? In Band 1 wurde schon angedeutet, warum Themen und Lösungen der Kindheit bis ins Erwachsenenleben erhalten bleiben. Der wichtigste Grund ist ökonomischer Natur. Die Trägerin des Bewusstseins, die Großhirnrinde, braucht sehr viel Energie. Die unbewussten Systeme verbrauchen weniger. Für alles, was die Routine im Großhirn übersteigt, muss der Organismus neue Netzwerke anlegen, in Sekundenschnelle Botenstoffe und Signalkaskaden hochfahren und andere Körperfunktionen dafür drosseln. In einer schwierigen Prüfung versinkt alles um einen herum, die Füße werden kalt, die Hände klamm. Das Gehirn saugt alle Energie ab. Bewusstsein ist Luxus.
Um die Aktivität des Bewusstseins so gering wie nötig zu halten, arbeiten andere, tiefer liegende Instanzen und das so oft wie möglich. Wer einmal Fahrradfahren gelernt hat, verschwendet keinen Gedanken mehr an das Fahrrad oder seine Balance. Die unbewussten Routinen sind also sehr leistungsfähig und bevor das Bewusstsein überhaupt auf den Plan gerufen wird, wird gecheckt, ob es für die vorliegende Situation nicht schon Erfahrungswerte gibt. Wenn ja, werden diese herangezogen und das Bewusstsein wird nicht bemüht. Von diesem Geschehen bekommt das Bewusstsein nichts mit. Es ist allerdings so konstruiert, dass es meist in der Illusion lebt, selber Entscheidungsträger zu sein.
Die eigene Vergangenheit dient als Orientierung
Um Energie zu sparen, wird die Umgebung immer zunächst nach Bekanntem durchsucht. Wird Bekanntes entdeckt, wird auf die zu diesem Kontext bereits gespeicherten Erinnerungen zurückgegriffen und der Rest an Sinneseindrücken ignoriert. Die bereits vorhandenen Erinnerungen sind daher innere Orientierung und Maßstab für alles was kommt. Unser Gehirn hat eine sich selbst bestätigende Haltung und genau deshalb hat die Kindheit eine so zentrale Bedeutung für das weitere Leben. Denn am Anfang des Lebens ist der »Datenspeicher« für Lebenserfahrungen noch leer. Ab jetzt entstehen die Grundstrukturen der individuellen Psyche. Grundlegende Verhaltens- und Erlebensweisen werden geprägt, dabei haben auch vorgeburtliche Erfahrungen bereits einen Einfluss. Die ersten Erfahrungen haben eine vergleichbare Bedeutung wie beim Hausbau das Fundament für Größe und Form des späteren Hauses. Alles, was nachher errichtet wird, baut auf diesen Grundlagen auf.
Was ein Mensch in dieser Zeit lernt, hängt wesentlich von den Mitmenschen und der Lebenssituation ab. Am stärksten ist der Einfluss der Eltern beziehungsweise deren Ersatzpersonen und der Menschen, die zum nahen Lebensumfeld eines Kindes gehören. Genetische Ausstattung, körperliche Gegebenheiten und die herrschende Kultur sind ebenfalls wesentlich, aber inzwischen weiß man, dass Gene sehr viel plastischer sind als lange Zeit vermutet wurde; das macht den Einfluss der sozialen Bedingungen, etwa der persönlichen Eigenschaften der Eltern, umso bedeutender.
Die besondere Rolle von negativen, belastenden Erfahrungen
Belastende Erfahrungen in der Kindheit haben einen besonderen Stellenwert für die Lenkung durch die unbewusste Psyche. Das ist so, weil wir die Belastungen der Kindheit eben nicht einfach nur aushalten oder hinnehmen, sondern daraus auch etwas lernen. Belastungen der Kindheit sind Lernstoff, sie werden sehr genau betrachtet und ausgewertet. Jedes Kind fragt sich - mehr oder weniger bewusst - was diese Lasten denn für es selbst bedeuten. Es zieht daraus Schlussfolgerungen und probiert neue Verhaltensweisen aus. Alles, was sich bewährt, bleibt erhalten. Die Lasten der Kindheit erzeugen einen langen Schweif an Folgen, der sich bis hinein in das Erwachsenenleben auswirkt. Wenn jemand in der Kindheit zum Beispiel unter fehlender Zuwendung leidet, wird er auch als Erwachsener mit Sicherheit damit zu tun haben. Diese fehlende Zuwendung wird vom Kind als unangenehm erlebt und es wird versuchen, etwas dagegen zu tun. Vielleicht macht es auf sich aufmerksam, indem es besonders still, fleißig oder brav wird oder, wenn das nichts nutzt oder nicht in Frage kommt, wird es vielleicht besonders laut, schwierig oder anderweitig unangenehm auffällig. Es probiert vieles aus und wird das, was sich am besten bewährt, auch später immer wieder anwenden, wenn es darum geht, Zuwendung zu bekommen. Zu jedem Verhaltensmuster, welches ein Mensch lernt, gehören immer auch spezifische Weisen zu denken und zu fühlen. Vielleicht hat das Kind irgendwann »verstanden«, dass es die gewünschte Zuwendung deshalb nicht bekommt, weil es nicht gut genug ist und dazu passend wird es sich körperlich vielleicht etwas zusammenziehen, sich kleiner machen, den Kopf einziehen, mit leiser Stimme reden, nur wenig sagen oder ähnliches. Gleichzeitig wird es mit sehr viel Aufmerksamkeit die Menschen in seiner Umgebung betrachten, um zu erfahren, was es tun muss beziehungsweise wie es sein muss, um ihnen zu gefallen. Weil sich niemand gerne als nicht gut genug erlebt, wird es vielleicht die Wahrnehmung der eigenen Gefühle unterdrücken - dabei hilft bereits die auf die Umgebung gerichtete Aufmerksamkeit.
Gesamtpaket: Denken, Fühlen, Verhalten, Wahrnehmen
Wann immer das Kind in sein altes in der Kindheit gelerntes Verhaltensmuster hinein rutscht, werden alle Komponenten aktiv: Das Verhalten von damals (zum Beispiel: brav sein), das Denken über sich selbst (ich bin nicht gut genug), die Weise zu fühlen (eigene Belange weniger spüren) und auch die Weise, sich auf andere zu beziehen (besonders aufmerksam sein). Weil es in unserem Gehirn so läuft, dass alles als umso wichtiger eingeordnet wird, je öfter es aufgerufen wird, führt dies dazu, dass dieses einmal gelernte Verhalten auch noch viele Jahre später sehr schnell aufgerufen wird und unverändert abläuft.
Unsere Psyche ist von ihrer Konstruktion her also konservativ, einmal Gelerntes kann für das ganze Leben innere Leitlinie bleiben. Deshalb verändern sich die Eigenarten eines Menschen in ihrer grundsätzlichen Erscheinung im Laufe des Lebens kaum. Ein ängstlicher Mensch bleibt ein ängstlicher Mensch, und wer einmal lernt, dass sein Platz nicht sicher ist, wird sich wahrscheinlich immer unsicher fühlen.
Scheinlösungen
Die Lösungen, die von Kindern als Antwort auf die Belastungen ihrer Lebenswelt gefunden werden, sind keine echten Lösungen. Kein Kind kann schwierige Bedingungen in der Ursprungsfamilie beseitigen oder einen wesentlichen Mangel im Beziehungsgefüge durch sein Tun auflösen! Damit meine ich jedoch ausdrücklich nur jene Lösungsversuche, die das Kind selber unternimmt. Lösungen, die von den beteiligten Erwachsenen ausgehen, haben ein ganz anderes Potenzial. Macht ein Elternteil beispielsweise eine Psychotherapie oder treten ganz neue (für das Kind von Herzen offene und zur Liebe fähige) Menschen in das Leben des Kindes, kann dies die Lebensbedingungen in der Familie so verändern, dass der bisherige Mangel nicht mehr existiert. Damit wird all das, was der Mangel bislang an Überzeugungen und Verhaltensweisen ausgelöst hat, nun von neuen, »gesünderen« Erfahrungen überlagert. Obwohl ich gegen voreilige Trennungen bin, insbesondere bei Paaren mit Kindern, kann ein neuer Ersatzvater unter Umständen ein besserer »Vater« sein, ebenso wie eine neue Partnerin eine bessere »Mutter«.
Bleiben die Kinder bei ihrer Suche nach Lösungen jedoch jahrelang auf sich allein gestellt, können sie mit ihren Mitteln allenfalls für Schmerzlinderung sorgen. Die Muster und Überzeugungen, die aus der Lösungssuche hervorgegangen sind, können den gegebenen Mangel nur erträglich machen.
Die Not bleibt erhalten
Wenn sich in der Lebenswelt des Kindes nichts entscheidend zum Positiven wandelt, bleibt die vorhandene Not also erhalten. Weil aber meist Bedürfnisse betroffen sind, die unverzichtbar sind, wird das Kind weiter nach einer Lösung suchen.
Man könnte jetzt annehmen, dass das ganze vergebliche Bemühen um eine Lösung der Lasten am Ende der Kindheit langsam aufhört. Tut es aber nicht. Menschen hören nicht auf, sich danach zu sehnen, wovon sie in ihrem Leben nicht genug bekommen haben. Seelische Grundbedürfnisse wollen befriedigt werden. Die Sehnsucht danach, die Mängel, Lasten und Störungen der Kindheit endlich zu überwinden und so die dadurch entstandene innere Spannung aufzulösen, bleibt erhalten. Das Kind, dem die Aufmerksamkeit fehlt, wird zum Erwachsenen, dem die Aufmerksamkeit fehlt. Das Problem dabei ist aber, dass zur Lösung weiterhin die in der Kindheit gelernten Muster und Überzeugungen eingesetzt werden. Diese sind - in der Regel - aber nicht geeignet, die Ziele der Sehnsucht zu erreichen und weil sie nicht zum Erwachsensein passen, sind sie darüber hinaus häufig Ursache von Ärger und Problemen. Versuchte das Kind, das Problem mit Brav sein, Anpassung oder auch mit Widerstand und Kampf auszugleichen, wird es der Erwachsene mit den gleichen Mitteln weiter versuchen. So, wie es dem Kind nicht gelingt, etwas Wesentliches zu bewirken, wird es aber auch dem Erwachsenen nicht gelingen.
Hier muss man jedoch etwas genauer hinschauen. Denn viele Erwachsene haben mit ihren in der Kindheit gelernten Bewältigungsmustern auch großen Erfolg. Sie erzielen ein hohes Einkommen, erhalten Anerkennung, werden gemocht und werden gerne als Mitmensch, Kollege oder Familienmitglied gesehen. Wer aber gelernt hat, dass er die Anerkennung, die er braucht, nicht bekommt, kann diese Erfolge überhaupt nicht wahrnehmen und sie erst recht nicht annehmen. In vielen Psychotherapien ist daher eine zentrale Aufgabe, die Patienten zu befähigen, ihre Erfolge überhaupt erst zu sehen und diese auch für sich anzunehmen.
Irrtümer
All denen, die auch beim angestrengten Blick zurück auf die eigene Kindheit keine Schwächen der Eltern ausmachen können, mö...