1 Der 13. Juli 1826: die Hinrichtung in St. Petersburg
Im Morgengrauen des 13. Juli 1826 stellten sich in der Peter-Paul-Festung Soldaten so auf, dass ein viereckiger Platz für die Verurteilten frei blieb. Die Gefangenen hatten ein halbes Jahr in Einzelhaft verbracht und freuten sich über ihr Wiedersehen. Nach ihrer Zugehörigkeit zu verschiedenen Truppenteilen wurden sie in Gruppen aufgeteilt. Offiziere der 1. Gardedivision, der 2. Gardedivision, der Armee und schließlich die Zivilisten. Man brachte die Marineangehörigen zur Verurteilung nach Kronstadt.
Die Häftlinge gingen durch das Festungstor vor die Kronwerksche Kourtine, wo schon Truppenteile aus ihren jeweiligen Regimentern warteten. Auf dem Wall befand sich ein Gerüst mit Stricken, neben jeder Gruppe brannte ein Feuer.
Das allgemeine Urteil wurde verlesen. Die nach der jeweiligen Strafkategorie Aufgerufenen mussten niederknien. Ein Henker zerbrach den angesägten Degen auf ihrem Kopf, riss Orden und Schulterstücke ab und warf schließlich alles mit den Uniformen ins Feuer.
Nach dieser erniedrigenden Degradierung wurden sie in grauen Häftlingskitteln in die Festung zurückgeführt. Baron Rosen kam in die Zelle 14. Hier war bisher einer der Anführer des Aufstandes, der Dichter Kondrati Rylejew, untergebracht gewesen. „Ich trat wie in ein Heiligthum, fiel auf die Knie und betete für ihn, für seine Frau und seine Tochter, denen er hier in diesem Gefängnis soeben seinen letzten Brief geschrieben hatte. Aus dem zinnernen Trinkgefäße des Gefängnisses stärkte ich mich mit dem Reste seines letzten Trunkes.“9
Peter-Paul-Festung in St. Petersburg
Gegen fünf Uhr früh schritten die fünf zum Tode Verurteilten mit ihren schweren Ketten an den Füßen aus der Festungskirche zum Galgen: Kondrati Rylejew und Piotr Kachowski vom Nordbund, Pawel Pestel, Sergej Murawjow-Apostol und Michail Bestuschew-Rjumin vom Südbund. Bis auf den sehr jungen Bestuschew-Rjumin sahen alle der Hinrichtung gefasst entgegen. Nachdem sie sich voneinander verabschiedet hatten, wurden ihnen die Totenhemden und Kapuzen übergezogen und die Hände gebunden. Die Musiker des Pawlowschen Regiments begannen zu spielen. Als aber die Bank, auf der die Delinquenten standen, umgeworfen wurde, blieben nur Betuschew-Rjumin und Pestel am Galgen hängen. Bei den drei anderen waren die nassen Stricke an den Kapuzen abgerutscht. Murawjow-Apostol, der sich beim Sturz in die Grube den Fuß gebrochen hatte, soll gerufen haben: „Armes Rußland! Bei uns versteht man nicht einmal zu hängen!“10 Der die Hinrichtung kommandierende Generalgouverneur Pawel Kutusow ließ die drei Überlebenden zum zweiten Mal aufhängen.
In der folgenden Nacht sollten die Leichen zur Wassili-Insel gebracht werden. Sie sind wahrscheinlich in einer Grube am Ufer der Finnischen Meeresbucht begraben worden.
Denkmal für die 5 hingerichteten Dekabristen vor der Peter-Paul-Festung
2 Die Widersprüchkeit Katharinas II.
Auf Wunsch der Zarin Elisabeth (1709-1762) heiratete Sophie Auguste Friederike von Anhalt-Zerbst (1729-1796) im Jahre 1745 den in Kiel geborenen Karl Peter Ulrich von Holstein-Gottorf (1728-1762), den Enkel Peters I. (der Große)11. Die ehrgeizige Prinzessin Sophie, die mit knapp 15 Jahren nach St. Petersburg kam, lernte rasch die russische Sprache und integrierte sich in das russische Hofleben. Sie erhielt nach der orthodoxen Taufe den Namen Jekaterina Alexejewna.
Ihr Gatte, der in Russland Großfürst Pjotr Fjodorowitsch genannt wurde, bewunderte den preußischen König Friedrich II. und ermöglichte nach Elisabeths Tod als Zar Peter III. das Überleben Preußens im 'Siebenjährigen Krieg'. Durch seine Parteinahme für Preußen fand dieser 'Erste Weltkrieg' sein Ende.
Anders als seine Frau schätzte der eigenwillige Zar das Hofleben nicht, sondern hielt sich am liebsten unter seinen holsteinischen Offizieren auf. Schon bei seiner Thronbesteigung erwies sich der neue Zar12 großmütig und amnestierte die politischen Häftlinge. Als aufgeklärter Reformer erließ er in seiner halbjährigen Regierungszeit etwa 200 Gesetze. So wurde die Folter verboten, die Geheimpolizei aufgelöst, Gerichtsverfahren sollten öffentlich werden. Er kündigte die Bauernbefreiung an. Die Kirchengüter kamen in staatlichen Besitz. Dort erwarteten die Leibeigenen als Staatsbauern bessere Lebensbedingungen.
Peter III. hat m. E. nicht das negative Bild verdient, das viele Historiker von ihm zeichnen. Zu dieser nachteiligen Bewertung haben sicherlich seine Nachfolgerin Katharina II. und ihr Umfeld beigetragen. Sie konnte den Machtkampf gegen ihren Mann gewinnen.13
Denkmal von Zar Peter III. von 2014 vor dem Kieler Schloss
Nachdem Katharina im April 1762 einen Sohn von ihrem Geliebten Grigori Orlow zur Welt gebracht hatte, der eine Gefahr für den von Peter als Sohn anerkannten Paul, den vorgesehenen Thronfolger, darstellte, gab es Gerüchte, dass sich Peter III. scheiden lassen und seine Geliebte Elisabeth Woronzowa zur Zarin ernennen würde. Am 28. Juni 1762 wagte Katharina den Staatsstreich. Sie ließ ihren Mann in Oranienburg durch bestochene Gardeoffiziere verhaften und eine Abdankungsurkunde unterschreiben. Ob seine anschließende Ermordung durch die Brüder Orlow mit Katharinas Zustimmung erfolgte, lässt sich nicht klären.
Obwohl der Sohn Paul der rechtmäßige Nachfolger seines Vaters gewesen wäre, ließ sich Katharina zur Zarin krönen. Die Usurpatorin regierte Russland 34 Jahre lang und verstand es, sich in einem vorteilhaften Licht darzustellen. Sie erhielt die Titel 'Mutter des Vaterlandes' und 'die Große'.
Sie träumte davon, wie ihr Vorbild Peter der Große aufgrund von herausragenden Modernisierungen in die russische Geschichte einzugehen. Von den Ideen der französischen Philosophie begeistert, korrespondierte sie mit François Voltaire über Montesquieus Gewaltenteilung oder das Rechtssystem. Er pries sie als 'Stern des Nordens'. Den Enzyklopädisten Denis Diderot lud sie nach St. Petersburg ein, gewährte ihm Audienzen und beauftragte ihn mit der Erstellung von Schulplänen.14 Bildung und Wissenschaften sollten gefördert werden. Aber am Ende ihrer langen Herrschaftsperiode gab es nur 316 Schulen mit etwa 17.000 Schülern.15
Beunruhigende Bauernaufstände ließen sie vorsichtiger werden. Die gefährlichste Revolte begann im August 1773 unter der Führung des Don-Kosaken Jemeljan Pugatschow (1742-1775). Er setzte das Gerücht in die Welt, der angeblich vor den Mördern geflohene Zar Peter III. zu sein, der sich für die Aufhebung der Leibeigenschaft ausgesprochen hatte. Pugatschow genoss ein hohes Ansehen, da er den Bauern versprach, ihnen die früheren Privilegien und Autonomierechte zurückzugeben. An der sich ausweitenden Erhebung beteiligten sich viele (altgläubige) Kosaken,16 aber auch nichtrussische Völker wie Baschkiren, Tataren, Kasachen und Kalmücken, die sich gegen die Zwangschristianisierung wehrten. Viele Adlige wurden während dieser „sozialen Revolution“ ermordet und ihre Wohnsitze angezündet. Erst im Januar 1775 konnte Pugatschows Heer von der Armee geschlagen werden.
Jemeljan Pugatschows Urteil (Wassili Perow 1879)
Der Aufstand kosteten über 20.000 Menschen das Leben. Die Anführer wurden hingerichtet.17
Wie Peter I. unterstützte Katharina II. den Zuzug von Ausländern. Mit ihrem Einwanderermanifest von 1763 förderte sie die Gründung deutscher Kolonien an der Wolga.18 Durch finanzielle Hilfen und Vorrechte angelockt, folgten den Werbern etwa 23.000 Deutsche.19
Der baltendeutsche Graf Jacob Johann Sievers (1773-1808) hatte als Gouverneur von Novgorod grundlegende Verwaltungsreformen durchgeführt. Er stand in regem Briefkontakt mit der Zarin. Seine Reformvorschläge wurden für ganz Russland übernommen, 40 Gouvernements eingerichtet und die Stellung der Gouverneure gestärkt. Endlich war die Verwaltung im ganzen Reich vereinheitlicht, die Staatsgewalt präsenter. Sibirien verlor den Status einer Kolonie. Es gab nun zwei Gouvernements mit den Verwaltungszentren Tobolsk und Irkutsk. Auf Sievers Vorsc...