Moderne Arbeitswelten
AviloX GmbH
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Mensch als entscheidender Produktionsfaktor in der Industrie 4.0 – Thesen zur Entwicklung einer Arbeitswelt 4.0 in der Fabrik von Morgen
Abstract
Die vierte industrielle Revolution und das Internet der Dinge und Dienste erneuern die Wertschöpfung und die Geschäftsmodelle vieler Industrieunternehmen grundlegend. Die Digitalisierung ist nicht mehr aufzuhalten. Ein Aspekt, der in der Diskussion rund um Industrie 4.0 bislang eine untergeordnete Rolle spielt, sind die Veränderungen, welche dabei auf die Menschen, die Organisationen selbst sowie die darin gelebte Kultur zukommen werden. Eine vernetzte Produktion erfordert neben intelligenten Technologien auch neue Organisationsmodelle, Kompetenzen und Arbeitsweisen. Aus den Erfahrungen mit dem zeitgleich stattfindenden digitalen Wandel vieler Unternehmen zum Enterprise 2.0 ergeben sich interessante Schnittmengen zur Gestaltung einer modernen Arbeitswelt. Diese vertiefen wir anhand von fünf Thesen und plädieren dabei für eine um den Faktor Mensch erweiterte Gestaltung des Veränderungsprozesses hin zu Industrie 4.0.
1. Automatisierung, Flexibilisierung, Vernetzung – Wissen wir, wie uns geschieht?
Industrie 4.0 beschreibt im Kern die Neuorganisation und vernetzte Steuerung von Wertschöpfungsnetzwerken im Zeitalter der vierten industriellen Revolution. Im Zentrum stehen dabei die ganzheitliche Orientierung an individuellen Kundenwünschen, die Nutzung von Echtzeitdaten und die Einbeziehung der Umweltbilanz in den Produktionsprozess. Als Grundlage dient die Echtzeitauswertung zahlreicher, bisher unverknüpfter Daten („Big Data“), die aus der Vernetzung aller an der Wertschöpfung beteiligten Instanzen entstehen [6].
Die Diskussionen in der Fachwelt zu den Zukunftsszenarien setzen sich im Wesentlichen mit zwei grundsätzlich möglichen Optionen auseinander: Mit dem technikzentrierten Weg, der neben der Automatisierung von Arbeitsprozessen sehr stark auf die Überwachung, Kontrolle und Steuerung der Mitarbeiter durch technische Mittel setzt. Und mit dem humanzentrierten Ansatz, bei dem der Mensch als entscheidender Produktionsfaktor im Zentrum steht und eine ausgewogene Gesamtlösung in den Dimensionen Mensch, Technik und Organisation angestrebt wird [14]. Rein technisch betrachtet sind beide Optionen realisierbar. Welche sich in den nächsten Jahren durchsetzen wird, liegt heute – mehr als in der Politik oder Wissenschaft – in der Hand der Unternehmer.
Anders als bei früheren Industrierevolutionen bildet sich diesmal eine stärkere Tendenz in Richtung des humanzentrierten Ansatzes aus. Hintergrund dessen ist nicht zuletzt die Erfahrung mit dem CIM-Ansatz („Computer Integrated Manufacturing“) aus den 1990er-Jahren. Mit seinem stark technik- und automatisierungszentrierten Fokus wurde die Aufgabe des Menschen auf die Beobachtung in einem Kontrollzentrum reduziert. Aufgrund mangelnder technologischer und infrastruktureller Voraussetzungen, aber auch aufgrund der fehlenden Berücksichtigung des Menschen als wertvollen Produktionsfaktor, verschwand er sang- und klanglos [11]. Dies zeigt, welche Relevanz die Rolle des Menschen innerhalb der Produktion auch in Zukunft erhalten sollte.
Der in vielfältigen Anwendungsszenarien bereits angestoßene Wandel zur Smart Factory in der deutschen Industrie (einen guten Überblick dazu liefert [1]) muss daher dringend auch mit einem Wandel hin zu einer Arbeitswelt 4.0 einhergehen, welche der Rolle des Menschen als zentraler Produktionsfaktor Rechnung trägt. Eine entscheidende Frage dabei ist, welches Handwerkszeug die Menschen in Organisationen vom Produktionsarbeiter bis zum Management benötigen, um im Zuge dieser tiefgreifenden Veränderungen Mitgestalter zu sein und nicht als Opfer des Wandels vom Spielfeld zu verschwinden. Die Arbeitswelt der Zukunft hat das Potenzial, im Sinne eines emanzipierten Menschenbildes aufgewertet zu werden [9], aber dafür wird sie eine Arbeitsorganisation, Qualifikationen und Kompetenzen benötigen, die über das hinausgehen, was heute schon gefordert wird. Anhand von fünf Thesen vertiefen wir im Folgenden die wesentlichen Herausforderungen des Wandels der Arbeitswelt auf dem Weg zu Industrie 4.0.
- These 1: Flexibles und vernetztes Arbeiten wird die Regel
- These 2: Produktionsarbeit wird Wissensarbeit
- These 3: Open Innovation und Open Manufacturing werden Standards
- These 4: Lernen-on-Demand wird das neue Paradigma der Personalentwicklung
- These 5: Leadership 2.0 wird Basiskompetenz aller Manager
Soziale Technologien als Wegbereiter in die Arbeitswelt 4.0
Was in der Auseinandersetzung zu diesen Thesen angeschnitten wird, ist eine zweite Strömung von Veränderungen in der Arbeitswelt: der Einzug von sozialen Technologien in Unternehmen. Die häufig mit dem Begriff „Enterprise 2.0“18 betitelte Vision der nach innen und außen optimal vernetzten, Wissen teilenden und kollaborierenden Organisation bildet das entscheidende letzte Puzzleteil, um über die smarte Produktion hinaus auch ein smartes, vernetztes Unternehmen zu gestalten. Bisher jedoch kommt in der Produktion Social Media kaum zum Einsatz. Und das, obwohl laut Umfragen (siehe u. a. [23]) durchaus Bedarf dafür besteht.
Diese Veränderungen der Arbeitswelt sind tiefgreifend und bedürfen einer vorausschauenden Gestaltung [12]. Am Ende dieses Beitrages werden wir mit einem kurzen Praxiseinblick beschreiben, wie man schon heute beginnen kann, den Weg in die Industrie 4.0 zu starten und welchen Beitrag soziale Technologien dabei leisten können.
2. Wandel der Arbeitswelt im Zuge der vierten industriellen Revolution
2.1 These 1: Flexibles und vernetztes Arbeiten wird die Regel
In einer Studie aus dem Jahr 2013 prognostizierte das Fraunhofer IAO [7] einen sich immer weiter verkürzenden Planungshorizont in Produktionsunternehmen. Dabei ist die Rede von Tages- bis hin zu Stundenintervallen für die Produktionsplanung. Solch hohen Flexibilitätserfordernissen aus der Produktion wird sich auch die Personaleinsatzplanung anpassen müssen. Feste Schichten sowie klare Aufgaben- und Teamzuordnungen werden immer häufiger flexibleren Formen des Arbeitseinsatzes weichen.
In einer intelligenten Fabrik gibt es eine weitere tiefgreifende Veränderung: Viele Tätigkeiten, die heute von Menschen geleistet werden, laufen künftig selbstorganisiert durch die Maschinen ab, beispielsweise Materialnachschub, Feinjustieren und Reinigen. Damit verschieben sich die Aufgaben des Produktionsarbeiters vom Einrichten und Bedienen hin zum Koordinieren, Überwachen, Anpassen und Problembeheben.
Um den Anforderungen an Flexibilität einerseits und Effizienz andererseits zu genügen, wird es für den Produktionsarbeiter in Zukunft normal sein, sich mit Anlagen oder Anlagenteilen in der Produktionshalle zu vernetzen. Ein Beispiel für das Zusammenwirken intelligenter Technologie mit der Erfahrung und Kreativität des Menschen ist das Verbundprojekt ESIMA (das Projektakronym steht für „Optimierte Ressourceneffizienz in der Produktion durch energieautarke Sensorik und Interaktion mit mobilen Anwendern“, http://www.esima-projekt.de/). Das Projekt wird im Rahmen des Forschungsprogramms IKT 2020 im Gebiet „Energieautarke Mobilität – Zuverlässige energieautarke Systeme für den mobilen Menschen“ vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert. Hier werden die Grundlagen für Hardware- und Softwaremodule erarbeitet, mit denen die Interaktion von Mensch und Maschine soweit vereinfacht ist, dass zu jedem Zeitpunkt Transparenz über Maschinenzustände und Verbräuche von Ressourcen vorliegen. Dies führt dazu, dass u. a. Potenziale zur Senkung des Energieverbrauchs an Produktionsanlagen einfacher erkannt und genutzt werden können [14].
Darüber hinaus hätte auch die Vernetzung mithilfe von Social-Media-Tools in der Produktion Vorteile, wenn es darum geht, kurzfristig und zuverlässig informiert zu werden oder Informationen weiterzureichen. Beispiele hierfür könnten Aufträge sein, die ein besonderes Augenmerk verlangen, Lieferanten, die sich geändert haben, oder neue bzw. beendete Maschinenprobleme [23]. Anders als bei Enterprise 2.0 erhalten hier individualisierbare, mit zusätzlichen Sicherheitsstandards geschützte Daten sowie deren Abruf auf mobilen Endgeräten oder „Datenbrillen“ eine besondere Bedeutung, um die taktilen Tätigkeiten der Produktionsmitarbeiter nicht zu behindern. Einige Industrie 4.0-Konzepte gehen sogar einen Schritt weiter. Sie betrachten auch die Maschinen selbst als autonome Akteure in den sozialen Technologien. Diese sollen in der Lage sein, mit Menschen zu kommunizieren, indem sie beispielsweise ihren Status (Fehlermeldung, Geräteparameter etc.) teilen und selbstständig auf dafür vorgesehenen Plattformen posten [19].
Mobile Endgeräte, intelligente Assistenzsysteme und Mensch-Roboter-Systeme sollen den Mitarbeitern helfen, trotz steigender Komplexität handlungsfähig zu sein und ergonomisch zu arbeiten. Diese unterstützen sie dabei, Prozesse zu verschlanken und effizienter zu gestalten, auch über Abteilungs- und Standortgrenzen hinweg. Die BMW Group testet beispielsweise den Einsatz von Google Glass mit ihren eingebauten Augmented-Reality-Funktionen, Multimedia-Anwendungen und Sprachsteuerung in der Qualitätssicherung. In einem Pilotprojekt nutzen die Qualitätsprüfer in der Vorserienfertigung die Datenbrille zur Feststellung und Dokumentation von Abweichungen. Was früher an Beanstandungen schriftlich festgehalten werden musste, kann nun mit der Datenbrille genau erfasst, fotografiert oder gefilmt und in Echtzeit an die zuständigen Entwicklungsingenieure weitergeleitet werden. 25% Rückfragen bei früheren schriftlichen Beanstandungen können somit eingespart werden. Die Ergebnisse sind so vielversprechend, dass das Pilotprojekt auf die Endmontage von Serienfahrzeugen ausgeweitet werden soll. Hier soll die Datenbrille die Abarbeitung der Prüfungspläne erleichtern. Während der Aufgabenlösung mussten die Mitarbeiter bisher ständig zwischen Fahrzeug und Terminal wechseln – das ist nicht mehr nötig mit der Datenbrille. Mit ihr kann der Mitarbeiter im Fahrzeug bleiben, sich den Prüfplan anzeigen lassen und anschließend denselben via Sprachsteuerung quittieren [3].
Was aber bedeutet es für die Produktionsmitarbeiter, wenn Flexibilisierung und Vernetzung Standard werden? Das neue Arbeiten rückt gänzlich neue Kompetenzen in den Vordergrund – allen voran die Fähigkeit zur Interaktion mit intelligenten Technologien, zum Umgang mit den veränderten Formen der Informationsbereitstellung und digitalen Kommunikation sowie die Erfahrung zur richtigen Interpretation der bereitgestellten Daten. Multitasking, Anpassungsfähigkeit, Überblicksverständnis und Belastbarkeit sind nur ausgewählte weitere Kompetenzen, die in Zukunft von hoher Bedeutung sein werden.
Die zunehmende Flexibilität im Personaleinsatz, wie zu Beginn dieses Kapitels beschrieben, stellt ebenfalls hohe Anforderungen an die Anpassungsfähigkeit von Mitarbeitern. Es geht hier um Arbeitszeiten, Einsatzorte, Aufgaben, Team-Konstellationen. Auch wenn immer wieder die Vorteile betont werden, so sind ebenfalls die Risiken mit zu beachten. Allen voran die Gefahr der Überforderung, der schlechteren Planbarkeit der Freizeit, des Auflösens sozialer Beziehungen, welche eigentlich ein enormer Motivator zur Leistungsbereitschaft im Unternehmen sind, sowie der höheren Konfliktpotenziale durch wechselnde Teams und erhöhte Abstimmungsaufwände. Gleichzeitig besteht die Gefahr, durch die häufige Notwendigkeit zur Anpassung den Blick für das große Ganze zu verlieren. Diese Themen sollten unbedingt gemeinsam mit den Betroffenen bespr...