Tim und Tom - Das Gespräch
Tim: Hallo Tom. Schön, Dich zu sehen. Wir wollten heute ja über Sex reden. Kein ganz einfaches Thema, über das man mal grad eben so plaudert, wenn man es wirklich ernst nimmt.
Tom: Ja genau. Es kostet mich ein rechtes Stück Mut, mich authentisch zu sexuellen Belangen zu äussern, die mich persönlich betreffen. Doch ich habe dazu viele Fragen, viele Punkte, über die ich mir unsicher bin und über die ich immer wieder stolpere. Ich habe auch schon mehrmals probiert, mit meinem Freund Chris darüber zu sprechen, doch er blockt jeweils sofort ab. Er sagt, man spräche nicht über Sex. Es scheint ihm peinlich zu sein. Und auch mit Freunden geht es irgendwie nicht. Wir kommen immer gleich auf die Blödelebene. Das ist dann zwar amüsant, doch frustriert es mich letztlich, denn es bringt mich nicht weiter.
Ein grundlegendes Problem stellt sich für mich so dar, dass ich nach dem Sex häufig unbefriedigt bin. Dabei verstehe ich oft nicht warum. Denn eigentlich liebe ich Sex. Dies zeigt sich sowohl beim Sex mit Chris, als auch bei Dates mit anderen Männern. Und dann wäre da auch noch der Sex mit mir selbst, der mich oft nicht befriedigt. Dabei sagt man dem doch so schön Selbstbefriedigung.
Tim: Ein verheissungsvoller Ausdruck...
Tom: ... der sein Versprechen aber leider allzu oft nicht einlöst, jedenfalls bei mir nicht.
Tim: Befriedigt erlebst du dich nicht dabei?
Tom: Mal so mal so. Also kommen tue ich eigentlich immer. Auf dieser Ebene betrachtet, müsste ich ja sagen können: Ziel erreicht. Und trotzdem bin ich oft nicht befriedigt. Irgendetwas fehlt oder hat einen fahlen Nachgeschmack. Das kenne ich in der Selbstbefriedigung und beim Sex mit Chris nur allzu gut. Doch leider passiert mir dies auch immer mal wieder beim Sex mit anderen Männern.
Tim: Ein Gefühl, das du von verschiedenen Situationen her kennst. Unbefriedigt und fahl, sagst du?
Tom: ... ja fahl. Wie wenn etwas fehlt. Ich bin zwar immer spitz, habe auch stets einen steifen Schwanz und kann eigentlich immer abspritzen. Und doch fehlt da was.
Ich bin froh, dass man mir dies von aussen nicht ansieht. In aller Regel jedenfalls. Nur zwei-, dreimal ging es nicht. Ich konnte nicht abspritzen. Und bald machte auch mein Schwanz schlapp. Das war ein riesiger Stress. Peinlich.
Tim: Peinlich? Warum denn peinlich?
Tom: Na dann muss der andere ja denken, ich sei impotent. Oder er sei nicht gut genug. Auf jeden Fall hat dann einer versagt, entweder ich oder er.
Eigentlich weiss ich ja, dass das doof ist. Aber es fühlt sich eben so an. Von einem richtigen Mann wird erwartet, dass er einen Ständer kriegt und nach einer gewissen Zeit abspritzt.
Tim: Sex als Leistungssport. Und wunderst dich dann, dass du manchmal nicht befriedigt bist.
Tom: Du meinst, man könnte auch befriedigt sein ohne eine Erektion und ohne Abspritzen?
Tim: Eine Erektion zu haben ist geil. Und abzuspritzen ist sehr geil. Doch beides ist nicht hinreichend, um befriedigt zu sein. Vielleicht ist es dies auf der körperlichen Ebene. Aber selbst da nur vielleicht.
Du sagst ja selbst, dass du manchmal einen fahlen Nachgeschmack verspürst, auch wenn es „funktioniert“ hat. Wenn eine Erektion kriegen und abspritzen hinreichende Faktoren wären, um befriedigt zu sein, dann würde sich genau dieses wunderbare Gefühl einstellen, wenn’s „vollbracht“ ist.
Maschinen funktionieren tatsächlich nach diesem Schema. Man muss diesen und jenen Knopf drücken und natürlich genügend Kraftstoff zufügen – Benzin oder Strom. Und dann geht’s los.
Menschen funktionieren nicht so. Manchmal ist es eine Voraussetzung, dass dieses oder jenes gegeben sein muss, damit ein gewünschtes Ergebnis erreicht werden kann. Wenn jemand etwas essen will, ja dann muss er sein Brot zerkauen und runterschlucken. Ohne das eine und das andere geht’s nicht. Doch ist es damit getan? Vielleicht ist dann sein Hunger gestillt. Wenn alleine dies das Ziel ist, dann kann man sich tatsächlich genau so verhalten.
Empfindungen und Gefühle – Sexual- und Herzenergie
Tim: Doch vielleicht möchte sich dieser Mensch nicht nur ernähren, wofür er – wohl oder übel – den nötigen Treibstoff braucht. Ein Auto braucht Benzin, damit es fährt. Und wenn auch die anderen technischen Voraussetzungen gegeben sind, dann fährt das Auto los und dich hoffentlich unfallfrei bis ans Ziel.
Doch ein Mensch möchte darüber hinaus sein Brot vielleicht auch noch geniessen. Es kommt also ein seelischer Aspekt hinzu, den eine Maschine nicht kennt. Für das Auto gibt es kein leckeres Benzin, sondern lediglich Benzin in verschieden Formen, etwa bleifrei oder super. Und das Auto wird den einen oder anderen Treibstoff brauchen, damit es optimal fährt. Mehr ist aber nicht nötig. So einfach geht das.
Tom: Du sprichst von einem seelischen Aspekt, der bei uns Menschen hinzu kommt?
Tim: Ja, beim Essen wie beim Sex. Und wie übrigens bei allem, was wir tun. Wir können alles lieblos oder gefühlsvoll tun. Zur Arbeit gehen, den Haushalt führen, Sport treiben, Auto fahren, ja selbst putzen. Und auch – und vor allem – Sex.
Es hängt eben nicht nur vom Grad der gegenwärtigen Lust ab, also wie spitz jemand ist. Physiologisch steigert sich zwar die Lust tatsächlich, wenn wir nach dem letzten Orgasmus vielleicht einen oder zwei Tage zuwarten und nicht gleich nach zwei, drei Stunden wieder loslegen. Dies ist aber nur ein Faktor. Doch es kommen zwei andere hinzu: Die Empfindungen und Gefühle, die wir mittels unserer Sexual-und unserer Herzenergie fliessen lassen können oder es eben nicht tun.
Sexual- und Herzenergie sind die beiden grundlegenden Energieströme, mit denen wir unsere Sexualität und unsere Liebe entfalten. Schauen wir uns beide an. Es ist hilfreich, beide gut zu kennen und zu verstehen, denn oft verwechseln wir sie miteinander. Und solche Verwechslungen führen zu vielfältigen Verwirrungen, Komplikationen und seelischen Verletzungen.
Die Generatoren der Sexualenergie sind in erster Linie die Genitalien, also Schwanz und Eier. Hinzu kommt selbstverständlich der Arsch. Da werden mir die wenigsten schwulen Männer widersprechen. Und die Brüste.
Doch Liebe- und lustvolle Exploration ist darüber hinaus an sämtlichen Körperstellen angesagt. Auch das Gesicht, der Kopf, der Hals, die Achseln, der Bauch, die Arme und Hände, die Beine und Füsse, ja der ganze Körper kann Lust generieren.
Empfindungen beim Küssen kennen die meisten. Aber kennen sie diese auch wirklich? Es gibt Dutzende verschiedener Arten zu küssen, vom zärtlichen bis zum sehr intensiven Küssen, vom trockenen bis zum feuchten Kuss, mit vollen Lippen, mit der Zunge, mit beiden Zungen, im Rachen, an den Zähnen, unter den Lippen, über die Wangen, über die Nase, über die Augen, die Stirn, die Ohren, den Hals und weiter runter, wo küssen dann irgend wann mal zum Blasen mutiert.
Aber eben: es gibt nicht nur küssen oben und blasen unten. Es gibt unzählige Möglichkeiten, seinem Körper lustvolle Empfindungen zu entlocken. Das Schwanzbuch und Das Orgasmusbuch der beiden Autoren Micha Schulze und Christian Scheuss, bieten dazu wertvolle Tipps. Beide sind ausserdem humorig geschrieben. Daher bereiten sie schon beim Lesen Spass. Ebenfalls sehr empfehlenswert, gerade auch, was den Einbezug des ganzen Körpers anbelangt, ist das Buch Erotisch massieren von Stephan Niederwieser.
Soweit fürs Erste zu den Empfindungen auf der Sexualenergieebene. Anders als etwa das Gefühl von Freude oder von Liebe, werden sie mit dem Körper erzeugt und vor allem dort empfunden. Man kann daher Empfindungen auch körpernahe Gefühle nennen.
Tom: Aber bei Freude oder Liebe „hüpft“ mir doch auch das Herz. Und wenn ich verliebt bin, spüre ich Schmetterlinge im Bauch.
Tim: Unbedingt. So soll es sein. Geniesse sie, die Schmetterlinge! Nur werden diese Gefühle nicht im Herz oder im Bauch generiert, sondern im Herzzentrum im energetischen Sinne. Du kannst auch sagen, im übertragenen oder im metaphorischen Sinne. Mir gefällt die Bezeichnung energetisch am besten. Energetisch drückt genau das aus, was wesentlich dabei ist. Sie kann nämlich mehr oder weniger ausgeprägt vorhanden und spürbar sein, meint jedoch nicht das konkret Physiologische, sondern das Seelische.
So sind wir gleich bei zwei Begriffen angelangt, die schwer zu fassen sind: Gefühle und Seele. Beide lassen sich auf der konkret messbaren Ebene nur unzureichend abbilden. Neurowissenschaftler zeigen zwar auf, dass es für Gefühle entsprechende Korrelate im Gehirn gibt, etwa im sogenannten limbischen System. „Hardcore“-Naturwissenschaftler würden sagen, da gibt es auch nichts weiteres. Alles, was Gefühle ausmacht, sind Hirnreizungen. Punkt. Gar von einer Seele zu sprechen, wäre für sie ein Unding.
Nun, über die Zusammenhänge von Leib und Seele gibt es Bibliotheken voller Bücher. Es würde den Rahmen dieses Gesprächs bei weitem sprengen, darauf vertieft einzugehen. Meine Perspektive dazu habe ich in meinen Büchern Das Kind im schwulen Mann und Vertieftes Coming-out dargelegt. Zusammengefasst gehe ich – mit dem Hintergrund der humanistischen Psychologie einerseits und der Tiefenpsychologie andererseits – davon aus, dass wir Menschen – und letztlich nicht nur wir Menschen, sondern alle Lebewesen – mehr sind als eine Ansammlung von Nervenzellen, die Reize verarbeiten, um unter den gegebenen Umweltbedingungen möglichst erfolgreich zu überleben.
Die Herzenergie ist dafür das beste Beispiel. Von ihr gehen unsere Gefühle der Zuwendung zum Mitmenschen, zur Umwelt und zu uns selbst aus. Und wir empfangen und empfinden sie dort – im „Herzen“. Liebe und Freude sind darin die kraftvollsten Gefühle. Ebenso dazu gehört aber auch Trauer.
Dabei soll Trauer aber keinesfalls mit Depression verwechselt werden. Vielmehr sind sie das pure Gegenteil voneinander. Auch darauf werden wir später noch vertieft eingehen.
Im Moment soll genügen, dass wir – nebst der durch die Sexualenergie generierten und verspürten Empfindungen – auf der Herzebene fähig sind, lebendige Gefühle zu erleben: Liebe, Freude, Empathie und Trauer.
So haben wir zwei Energieebenen kennengelernt: Die Sexualenergie mit ihren Empfindungen und die Herzenergie mit ihren Gefühlen. Wenn beide zusammen treffen, nennen wir dies Eros.
Eros – Synergie von Empfindungen und Gefühlen
Tim: Eros ist also die Verbindung von Sex und Liebe. Eros ist nicht nur gleich Sex. Und Eros ist nicht nur gleich Liebe. Es ist hilfreich, beide Energien zunächst voneinander zu unterscheiden. Wie schon gesagt, führt die Vermischung von Sex und Liebe, genauer von der Sexualenergie und der Herzenergie, zu grossen Verwirrungen bei einem selbst und zu Missverständnissen und damit zu möglicherweise starken seelischen Verletzungen gegenüber anderen.
Im Eros fliessen beide Energien zusammen. Daher ist Eros auch so lustvoll. Auf der Sexualebene beschert er uns überaus erotische Gefühle. Geil ist dabei der Ausdruck, den es am meisten auf den Punkt bringt.
Schön hingegen ist die Bezeichnung, welche die Sinnesqualitäten auf Herzebene am besten umschreibt. Wenn ich Freude und Liebe mit jemand anderem oder für jemand anderen – oder auch für mich selbst – empfinde, dann ist das schön. Wunderschön sogar. Aber nicht geil. Geil hingegen kann ich sein oder werden, wenn ich in mir oder mit einem Partner meine Sexualenergie entfalte.
Geilheit kann man machen, in dem man sich sexuell stimuliert. Gefühle hingegen kann man nicht machen. Sie sind oder sie sind nicht. Möglicherweise entstehen und entwickeln sie sich. Doch ich kann nicht jemanden lieben, wenn ich keine Liebe fühle. Zwar kann ich so tun als ob. Und mir dabei selbst und meinem Gegenüber etwas vorspielen.
Tom: Vor allem Frauen sagen doch oft, sie machten Liebe.
Tim: Ja. Dabei machen sie Sex, jedenfalls tauschen sie mit einem Partner oder einer Partnerin Zärtlichkeit aus. Körperempfindungen werden aktiviert und damit die Sexualenergie generiert. Allenfalls ist Liebe ein Gefühl, dass dabei entsteht oder sich weiter entfaltet.
Die Bezeichnungen „Liebe machen“ und „miteinander schlafen“ sind meines Erachtens dem Versuch geschuldet, erstens überhaupt das Wort Sex zu vermeiden. Und zweitens möchte es ausdrücken, dass damit nicht bloss triebgesteuerte Geilheit gemeint ist. Dass „Liebe machen“ oder „miteinander schlafen“ Frauen häufiger sagen als Männer ist wohl auch als Ausdruck zu werten, dass Frauen damit gefühlsvollen Sex meinen und dass sie meist primär auf der Herzebene und erst sekundär auf der Sexualebene Intimität suchen.
Anima und Animus – Intimität und Autonomie
Tom: Ist das nicht etwas stereotyp: Männer machen Sex, weil’s geil ist. Frauen, weil sie sich nach Liebe sehnen?
Tim: Unbedingt, du hast Recht! Es auf diese Weise schwarz-weiss zu sehen, ist stereotyp, oberflächlich und voller Vorurteile. Daher möchte ich ein tiefenpsychologisches Konzept einführen, welches das Weibliche und das Männliche – im Unterschied zu der Frau und dem Mann – besser fasst und differenziert, nämlich dasjenige von Anima und Animus.
Das Konzept von Anima und Animus geht letztlich weit zurück, nämlich in den Taoismus Dort nannte und nennt man Anima Yin und Animus Yang, also das Weibliche und das Männliche in jedem von uns. Im Taoismus gehören immer beide zusammen, damit etwas vollständig ist. Dabei ist in jedem Yin auch Yang enthalten und in jedem Yang auch Yin.
Für die westliche Psychologie hat der Schweizer Arzt und weltberühmte Psychologe Carl Gustav Jung ebendiese taoistische Weisheit übernommen und sein Konzept von Anima und Animus entwickelt – man kann es übersetzen mit weiblicher und männlicher Seele. Dabei beschreibt Jung Anima als das seelisch Weibliche im Mann und Animus als das seelisch Männliche in der Frau. Nach Jung sind Anima dem Mann und Animus der Frau weitgehend unbewusst, also dem Alltagsbewusstsein nicht ohne weiteres zugänglich. Klassischerweise werden im Rahmen einer analytischen Psychotherapie nach Jung ebendiese Seelenanteile bewusst gemacht – ein überaus spannender und lohnender Prozess!
Dieses Konzept werde ich übernehmen, da ich es für die weiteren Erläuterungen über Eros ganz grundsätzlich sehr hilfreich und anschaulich finde. Gleichzeitig bedarf es aber der Ergänzung, dass beide Anteile, Anima und Animus, in beiden Geschlechtern wohnen und nicht – wie Jung meinte – Anima lediglich der unbewusste weibliche Anteil in Männern und Animus der unbewusste männliche Ant...