Kapitel 1: Mathematische Grundlagen
Kinder sind keine Fässer, die gefüllt, sondern Feuer, die entzündet werden wollen
(Francois Rabelais)
Mathematik ist etwas Wunderbares
Das Wunderbare an der Mathematik sind die Aha-Momente. Ich knoble an einer Aufgabe und plötzlich merke ich „Aha, so geht das! Jetzt passt alles, die Gleichung geht auf, das Bruchstück passt hinein.“ Mathematik ist ein Werkzeug zum Denken, ein Spiel mit bestimmten Regeln. Mathematik durchdringt fast alle Lebensbereiche; es ist eine eigene Welt, eine Kulturwissenschaft, die die Menschheit schon lange fasziniert.
Mathematiker und Naturwissenschaftler sagen:
„Eine mathematische Aufgabe kann manchmal genauso unterhaltsam sein wie ein Kreuzworträtsel, und angespannte geistige Arbeit kann eine ebenso wünschenswerte Übung sein wie ein schnelles Tennisspiel.“ (George Polya 1887 – 1985)
„Die Mathematik ist eine wunderbare Lehrerin für die Kunst, die Gedanken zu ordnen, Unsinn zu beseitigen und Klarheit zu schaffen.“ (Jean-Henri Fabre 1823 – 1915)
„Die Mathematik ist das Instrument, welches die Vermittlung bewirkt zwischen Theorie und Praxis, zwischen Denken und Beobachten: sie baut die verbindende Brücke und gestaltet sie immer tragfähiger. Daher kommt es, dass unsere ganze gegenwärtige Kultur, soweit sie auf der geistigen Durchdringung und Dienstbarmachung der Natur beruht, ihre Grundlage in der Mathematik findet.“ (David Hilbert 1862 – 1943)
„Mathe ist ein lebendiges und fröhliches Gebiet.“
„Mathe ist wie ein Diamant. Hart, wertvoll und schön.“
(Günter M. Ziegler, geb. 1963)
Einige Schüler sagen:
„Mathe ist scheiße!“
„Warum soll ich Mathe lernen, das brauche ich nie mehr im Leben?“
„Mathe macht überhaupt keinen Spaß, es macht nur Kopfschmerzen.“
„Ich hasse Mathe!“
„Mathe macht überhaupt keinen Sinn!“
„Ich schreibe sowieso wieder eine fünf. Mathe werde ich nie kapieren.“
„Immer diese blöden Mathehausaufgaben!“
„Mathe sollte man abschaffen!“
Die Schüler, von denen diese Aussagen stammen, haben offensichtlich ein Problem mit diesem Schulfach. Nur deshalb sind sie so frustriert. Aber Mathefrust muss nicht sein. Da lässt sich viel dagegen tun. Mathematik ist auch nicht nur ein Schulfach. Es ist etwas, das einem im Alltag überall begegnet. Mathematik ist nicht nur der Umgang und das Rechnen mit Zahlen, sondern viel mehr. Mathematik fängt schon ganz früh im Leben an. Es ist Sortieren und Ordnen, hat etwas zu tun mit Formen, Mustern, Symmetrien, Körpern, Räumen, Lagebezeichnungen, Zählen, Messen usw. Der Wecker, der morgens um eine bestimmte Zeit klingelt, die Reihenfolge beim Anziehen, das Decken des Frühstückstisches, usw., all das gehört zur Mathematik. Durch die Mathematik können wir zu vielen Fragen und Problemen Lösungen finden. Sie ist für die Wissenschaften unersetzlich.
Wenn wir z. B. im Wohnzimmer einen Teppichboden legen wollen, müssen wir die geeignete Größe ermitteln. Dazu messen wir ab, wie lang und breit das Wohnzimmer ist. Danach rechnen wir die Länge mal die Breite, also z. B. 6 m ∙ 4 m. Erst dann wissen wir, wie viel Quadratmeter Teppichboden wir brauchen, nämlich 24 m2. Anschließend können wir noch ausrechnen, wie viel wir für diese Menge bezahlen müssen. Ein Quadratmeter kostet z. B. 5,-- Euro. Wir rechnen 24 m2∙ 5 € = 120 €. Und schon haben wir das Konkrete, den Alltag mit dem Abstrakten, der Mathematik verbunden. Wir haben ein Problem des Alltags in die Welt der Mathematik übersetzt und dort gelöst.
Wesentliche Grundlagen
Um Mathematik wirklich zu verstehen und ein solides und stabiles Verständnis vom Zahlensystem zu entwickeln, braucht das Kind eine bestimmte Basis an Erfahrungen und Fähigkeiten. Die Grundsteine für diese Fähigkeiten werden bereits von klein auf gelegt. An ihnen muss aber weiter aufgebaut werden. Ein Kind lernt zunächst einmal mithilfe der verschiedenen Sinne (Sehen, Hören, Riechen, Tasten, Schmecken, Bewegen, Gleichgewicht) das Verständnis der Mathematik. Danach macht es den Schritt von der sinnlichen Welt in die abstrakte mathematische Welt (Logik, Symbole, Regeln), die sich nicht mehr anfassen lässt. Das gelingt dem Kind nur, wenn es zwischen diesen beiden Welten eine Verbindung schaffen kann. Ich möchte das einmal bildlich darstellen:
Die sinnliche Welt des Kindes endet an einem breiten Fluss. Die abstrakte mathematische Welt befindet sich am gegenüberliegenden Ufer des Flusses. Um im Fach Mathematik Erfolg zu haben, braucht das Kind eine Brücke, um von dem einen zum anderen Ufer zu gelangen. Diese Brücke wird von mathematischen Pfeilern getragen, die das Kind selber bauen muss. Es baut gleichzeitig an den gelegten Grundsteinen die verschiedenen Brückenpfeiler und macht dabei seine eigenen Erfahrungen. Wenn das Kind schließlich die Brückenpfeiler miteinander verbindet, kann es über die Brücke gehen und so einen Bezug zur Mathematik herstellen.
Schauen wir uns die einzelnen Pfeiler näher an:
Pfeiler 1: Sortieren und Klassifizieren
Gegenstände haben unterschiedliche Eigenschaften. Wenn wir Knöpfe anschauen, sehen wir, dass sie sich sowohl in der Form (eckig, rund, oval) unterscheiden, als auch in der Farbe (braun, rot, blau…), in der Oberfläche (glänzend, matt), im Material (Plastik, Metall, Holz) und in der Anzahl der Löcher (vier, zwei). Das Kind entdeckt diese Verschiedenheit und fängt an, die Gegenstände nach Farbe, Größe, Form und Beschaffenheit zu sortieren.
Je älter das Kind wird, desto mehr Kategorien berücksichtigt es. Es beginnt, Dinge im Freien zu sammeln und zu sortieren. Es lernt, Dinge durch Abwägen, Sortieren und Vergleichen abzuschätzen. Jedes Aufräumen ist im Prinzip ein Sortieren, denn beim Aufräumen lernt das Kind, Zuordnungen zu erkennen. Es sucht z. B. aus einer Krimskramschachtel heraus, was zusammengehört und ordnet es nach bestimmten Kategorien, z. B. Nägel, Stifte, Knöpfe oder Büroklammern, oder beim Einräumen des Besteckes werden die Gabeln, Messer und Löffel sortiert.
Aber nicht nur Dinge lassen sich in Kategorien einteilen, sondern auch Menschen. Bei Mannschaftsspielen kommen z. B. alle Mädchen in eine Gruppe und alle Jungs in die andere Gruppe; im Kindergarten kommen die Vorschulkinder in eine Gruppe und die Drei- bis Vierjährigen in die andere Gruppe. Wenn ein Kind Kategorien bilden und innerhalb dieser Kategorien Beziehungen zwischen unterschiedlichen Dingen herstellen kann, hat es einen großen Schritt in der Entwicklung zum mathematischen Denken gemacht. Durch das Sortieren und Klassifizieren lernt das Kind, aus einer Menge unterschiedlicher Dinge zusammenpassende Dinge auszuwählen. Es lernt, Begriffe zu bilden, wird mit ebenen und räumlichen Figuren vertraut und bringt Gedanken und Dinge in eine feste Reihenfolge.
Pfeiler 2: Muster, Symmetrie und Reihenfolge
Überall lassen sich Muster entdecken: in der Natur, im Tagesablauf, beim Spielen, beim Kochen und auch in der Musik. Das Kind nimmt diese Zusammenhänge wahr, entdeckt eigene Muster und eine eigene Logik. Es lernt dabei, Regelmäßigkeiten zu erkennen und stellt fest, dass es bestimmte Reihenfolgen und Muster selber bilden kann. Es steckt z. B. einen grünen Würfel, zwei blaue und zwei weiße aneinander. Anschließend wieder einen grünen, zwei blaue und zwei weiße. Und schon hat es ein Muster, eine Reihenfolge geschaffen. Es erkennt Muster aus Objekten, aus Tönen und Bewegungen, beschreibt diese und setzt sie fort. Es erkennt, dass ein Rhythmus in einem bestimmten Takt geklopft wird und klopft diesen nach oder es tanzt zu einem bestimmten Rhythmus. Es bemerkt Symmetrien und beschäftigt sich damit. Es beschreibt Eigenschaften und nimmt Beziehungen wahr. Überall entdeckt es neue Muster und hat Spaß daran. Es experimentiert mit Reihenfolgen und Symmetrien, entdeckt darin eine Ordnung. Es erkennt, dass im Tagesverlauf das erste Essen das Frühstück ist, danach gibt es Mittagessen und schließlich Abendessen. Auch das Anziehen läuft nach einer bestimmten Reihenfolge ab. Durch das Entdecken und Bilden solcher Reihenfolgen wird beim Kind die Einsicht auf das Zahlenverständnis und die Zahlreihe, die immer einer bestimmten Reihenfolge, einem bestimmten Muster folgt, unterstützt.
Pfeiler 3: Messen, Wiegen und Vergleichen
In einem bestimmten Alter fangen Kinder an zu vergleichen. Das kleine Mädchen auf dem Foto merkt, dass ihr Bruder größer ist als sie. Ihr Bruder misst ab, wie weit sie ihm reicht. Daraufhin vergleicht er sich mit seiner großen Schwester und entdeckt dabei, dass er zwar wesentlich größer ist als seine kleine Schwester, aber kleiner als seine große Schwester.
So fängt ein Kind an, verschiedene Dinge oder Personen miteinander zu vergleichen. Es stellt fest, dass ein Kürbis z. B. größer und schwerer als ein Apfel ist. Es merkt, dass sich viele Dinge wiegen, messen oder vergleichen lassen. Ihm wird bewusst, dass manche Dinge länger dauern und andere weniger lang. Seine Sprache erweitert sich durch Begriffe wie „mehr, weniger, größer, kleiner, länger, kürzer“. Und schon sind wir bei der Mathematik.
Pfeiler 4: Raum, Form und Zeit
Im Alltag gibt es unzählige Möglichkeiten, Formen und geometrische Figuren zu entdecken und zu unterscheiden. Es gibt z. B. rechteckige, dreieckige, quadratische oder runde Bauklötze in verschiedenen Farben. Auch beim Frühstück kann das Kind unterschiedliche Formen entdecken: die Vesperbrettchen und die Käsescheiben sind rechteckig, die Marmeladen- und Honiggläser sind rund oder sechseckig, die Brotscheiben sind oval und die Toastscheiben sind quadratisch.
Das Kind sieht, dass es unterschiedliche Körperformen gibt. Es gibt dicke und dünne, große und kleine Menschen. Eine Blume wächst, wird größer. Das Kind entdeckt, dass z. B. der Kindergarten weiter von seiner Wohnung entfernt ist als die Kirc...