DAS BILDUNGSSYSTEM UND DIE ANGST
Teil 1
Natürliche Angst
Die Angst gehört genauso zu unserem Leben wie der Tod – sie ist unvermeidlich. Sie ist ein emotionaler Zustand menschlicher Existenz und begleitet uns über die gesamte Lebensspanne hinweg – in der einen oder anderen Weise, einmal mit größter Heftigkeit und Vehemenz, das andere Mal subtil, kaum spürbar. Auch wenn Menschen niemals müde wurden, effektive Angstmilderungsmaßnahmen zu schaffen – von der Erfindung der Götter über asketische Übungen bis hin zur Psychoanalyse – so bleibt die Angst doch unausweichlich Bestandteil unserer Bedingtheit und jeder Permation. Der Mensch, in seiner Dimension als abhängiges Wesen von der Erde, mit all seinen Bedürfnissen und seinem Wissen um die eigene Vergänglichkeit, steht wohl immer im Dialog mit allen möglichen Angstformen. In der Inszenierung erreichbarer Gegengewichte zur Angst, wie etwa dem Mut, dem Vertrauen, der Zuversicht oder der Liebe, lässt es sich dann gut mit der Angst leben. Zum gelungenen Leben gehört offensichtlich die Fähigkeit, bei seinen inneren Angststimmen nicht die Regie zu verlieren. Auch wenn das Ich kein Bezwinger des Angstdämons werden kann, so kann es sich immerhin in der Bändigung dieses Quälgeistes üben.
Zu fragen, ob sich das Bildungssystem in Deutschland um die Angst dreht, mag auf den ersten Blick verwirren. Wer hat denn in diesem System Angst? Die Lehrerinnen und Lehrer? Schülerinnen und Schüler? Oder die Eltern? Wenn wir den Begriff des „Bildungssystems“ über das Schulsystem hinaus weiten wollen und den hochschulischen und den vorschulischen Bereich betrachten, dehnt sich der Kreis der Adressaten noch weiter aus: Wie ist es mit der Angst bei Studierenden an einer Universität bestellt? Und wie bei den Professorinnen und Professoren? Haben die Vorschul-Kinder Angst, in die Kita zu gehen und ängstigt sie dort etwas? Ist Angst vielleicht sogar untrennbarer Bestandteil des Bildungssystems? Das Bildungssystem insgesamt und die Angst zu betrachten, ufert sicher aus. Wir wollen uns an dieser Stelle beschränken: Wir ziehen die Grenzen der Betrachtung um das Gelände des deutschen Schulsystems (genauer: der deutschen Länder-Schulsysteme) und wollen schauen, wie es dort mit der Angst bestellt ist.
WAS IST ANGST? In der Philosophie und der Psychologie gibt es viele unterschiedliche Ansätze, Angst zu betrachten und zu definieren. Wir folgen in unserer Betrachtung den Gedanken Fritz Riemanns zur Angst. Riemann, einer der bekanntesten deutschen Psychoanalytiker, befasst sich in seinem Buch „Grundformen der Angst“183 tiefenpsychologisch mit dem Phänomen. Auch wenn er keine eindeutige Definition liefert, so umschreibt er die Angst. Für Riemann ist die Angst „immer ein Signal und eine Warnung bei Gefahren, und sie enthält gleichzeitig einen Aufforderungscharakter, nämlich den Impuls, sie zu überwinden.“184 Bei ALLEN Kulturen der Erde lässt sich die Angst beobachten. Kollektive wie individuelle Ängste sind eine Konstante der humanen Psychohistorie. Alles, was sich im Gang der Geschichte ändert, „sind lediglich die Angstobjekte, das, was jeweils die Angst auslöst, und andererseits die Mittel und Maßnahmen, die wir anwenden, um Angst zu bekämpfen.“185 Eine der populärsten Angsterklärungs- und –bekämpfungsmethoden bleibt unverändert die Psychologie und - therapie, auch wenn es allerlei esoterische und religiöse Alternativangebote auf dem Markt der Ideen gibt. Die Psychotherapie spricht das Individuum mit seiner Angsthistorie an und versucht, größere soziokulturelle und familiäre Zusammenhänge zu zeichnen, um die Angst des Einzelnen greifbar und handhabbar zu machen. Als angewandte Angstwissenschaft hat sich die Psychotherapie einen festen Platz im Gesundheitswesen gesichert und ist unverzichtbarer Teil der westlichen Psychohygiene geworden.
Dass wir Menschen gut daran tun, Bedingungen zu schaffen und zu erhalten, die eine Angst-Prophylaxe ermöglichen (soweit wie möglich), dürfte auf breite Zustimmung stoßen, geradeso wie die nicht junge Erkenntnis, dass Menschen in der Regel leidvermeidende Wesen sind – allen Gegenbeobachtungen durch Krieg, Aggression und (Psycho)Terror zum Trotz. Von der Unterstellung aus, dass der Mensch auf Angstprophylaxe aus ist, möchten wir unsere Betrachtung nun auf das Schulsystem/Bildungssystem hin lenken. Unsere These ist nun, DASS DAS SCHULSYSTEM IN DEUTSCHLAND, so wie es jetzt ist, ÄNGSTE KÜNSTLICH HERVORRUFT. Das Schulsystem ist geradezu ein Angsterzeugungs- und erhaltungssystem. Die Angst ist diesem System immanent. Sie wird als Mittel zum Zweck missbraucht und pervertiert damit oft Permationsprozesse in der Schule. Das ist vielen Akteuren des Bildungssystems, wie den Lehrerinnen und Lehrern, Bildungspolitikern und Schülerinnen und Schülern, oft überhaupt nicht bewusst. Was kann man nun unter der „künstlichen Erzeugung von Angst“ verstehen? Warum ist Angst im Schulsystem „künstlich erzeugt“? Wir möchten diese KÜNSTLICHE ANGST, die man auch als „Schulangst“ bezeichnen kann, klar abgrenzen von der NATÜRLICHEN ANGST, die jedes Kind hat. Pädagogik, Philosophie und Psychologie kommen allesamt darin überein, dass es natürliche Ängste bei jedem Kind gibt. Diese Ängste beginnen sofort mit der Geburt als radikaler Abnablungsschnitt von der Mutter, den Peter Sloterdijk als „negative Gynäkologie“186 beschreibt. Seit diesem Auf-die-Welt-kommen sind Ängste fortan lebenslanger Begleiter der (kindlichen) Entwicklung. Zu dieser „natürlichen Angst“ schreibt Riemann:
„Angst tritt immer dort auf, wo wir uns in einer Situation befinden, der wir nicht oder noch nicht gewachsen sind. Jede Entwicklung, jeder Reifungsschritt ist mit Angst verbunden, denn er führt uns in etwas Neues, bisher nicht Gekanntes und Gekonntes, in innere und äußere Situationen, die wir noch nicht und in denen wir uns noch nicht erlebt haben. Alles Neue, Unbekannte, Erstmals-zu-Tuende oder Zu-Erlebende enthält neben dem Reiz des Neuen, der Lust am Abenteuer und der Freude am Risiko auch Angst. Da unser Leben immer wieder in Neues, Unvertrautes und noch nicht Erfahrenes führt, begleitet uns die Angst immerwährend. Sie kommt am ehesten ins Bewußtsein an besonders wichtigen Stellen unserer Entwicklung […]. Entwicklung, Erwachsen-Werden und Reifen haben also offenbar viel zu tun mit Angstüberwindung, und jedes Alter hat seine ihm entsprechenden Reifungsschritte mit den dazugehörenden Ängsten, die gemeistert werden müssen, wenn der Schritt gelingen soll.“187
In der gesamten Schulzeit ist also jedes Mädchen, jeder Junge permanent mit Entwicklungsaufgaben und Entwicklungsschritten konfrontiert. Das Leben selbst ist Entwicklung und Ängste gehören einfach untrennbar dazu. Allein der Schuleintritt ist demnach eine tiefe Zäsur in unserem Leben. Die Schulpflicht in Deutschland erfasst JEDES Kind (in aller Regel). Kinder werden in ein neues soziokulturelles Umfeld hineingeschickt und sind diesem Umfeld erst einmal „ausgeliefert“, überantwortet. Fortan gehören Permationsprozesse in der Schule und Ängste oft zusammen. Solange diese Ängste mit den Entwicklungen selbst gehandhabt werden können, sind sie NORMAL und stellen keine existentielle Bedrohung für den einzelnen dar. Da die Permation nicht auf die Schule beschränkt ist, sondern ständig und überall stattfindet – etwa in der Familie, der Gleichaltrigen-Gruppe, im Sportverein oder sonst wo – ist die „natürliche Angst“ auch permanenter Begleiter von Kindern und Jugendlichen (und Erwachsenen). Insofern wird das Schulsystem immer mit Menschen zu tun haben, die Angst in der einen oder anderen Weise haben. Das Schulsystem dreht sich also immer um Angst, weil es sich um Menschen dreht, die Angst empfinden, egal ob bewusst oder unbewusst.
Schule und künstliche Angst
Über diese „natürliche Angst“ hinweg erzeugt das Schulsystem „künstliche Angst“. Der Philosoph und Autor Ivan Illich spricht von einer „tiefen Ängstlichkeit, welche die Schule uns eingeflößt hat“.188 Neben den Untersuchungen des Berliner Psychologen Ralf Schwarzer zu den Phänomenen der Angst und des Stresses189, gibt es eine Vielzahl von Elternratgebern zum Thema „Schulangst“190. In der öffentlichen Debatte taucht die Schulangst oft parallel mit körperlichen Beschwerden der Kinder, wie Übelkeit, Kopfschmerzen und Schlafstörungen oder anderen Ausdrucksformen, wie Fingernägelkauen und Einnässen auf. Die Angstratgeber und die Diskussion zur Schulangst gehen in eine ähnliche Richtung:
- Ein Kind zeigt Angstsymptome auf (starkes Schwitzen, große Schüchternheit, körperliche Zeichen etc.).
- Man muss klären, ob diese Symptome tatsächlich auf eine Schulangst zurückzuführen sind.
- Falls ja, werden therapeutische Maßnahmen ergriffen, um der Schulangst beizukommen.
Solange dem Kind dadurch geholfen werden kann, ist nichts gegen diesen Umgang mit der Schulangst zu entgegnen. Dahinter steckt jedoch die ANNAHME, dass Kinder GUT im Schulsystem FUNKTIONIEREN SOLLEN. Ob vielleicht DAS SCHULSYSTEM SELBST verantwortlich für Schulängste ist, wird in den meisten Elternratgebern NICHT GEFRAGT! Jedoch ist dieser „blinde Fleck“191 selbst sehr spannend und aufschlussreich. Der Regelfall bei fast allen (!) Bildungsverantwortlichen ist es, dass einzelnen Kindern und Jugendlichen die „Schuld“ an ihrer Angst ihnen selbst und ihrem Charakter/ihren Genen/ihrer Umwelt/etc. zugeschrieben wird und nicht nach größeren Systemzusammenhängen gefragt wird. Kurz: Angst sei ein individuelles Problem und kein systembedingtes.
Dass das Schulsystem künstliche Ängste tatsächlich erzeugt, zeigt sich schon an den AUFGABEN DER SCHULEN. Eine Aufgabe der Schule ist es, zu SELEKTIEREN. Selektion verstehen wir sehr weit. Sie reicht dahin, Schülerinnen und Schüler nach Noten in Gütekategorien („Sehr gut“, „Gut“, „Befriedigend“ …) zu drücken, Menschen in Schultypen (Hauptschule, Gymnasium, Förderschulen etc.) einzuteilen und sie unter der...