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Alles begann damit, dass ich gegen meinen Willen an einem Seminar teilnahm, das auf einem benachbarten Gut stattfand. Bei Veranstaltungen dieser Art versuchte man uns Militärgeschichte und Finanzpolitik beizubringen. Vor allem aber dienten sie dazu, den Jungadel auf Spur zu bringen, damit er niemals nachlassen würde, sich der hohen Geburt anzudienen.
Ich kannte die Parolen von Führergeist und Heimatstreue zur Genüge und langweilte mich. Hinter dem referierenden Hausherrn hingen große Ahnenporträts an einer mit dunklem Eichenholz vertäfelten Wand. Ich begann die Gesichter miteinander zu vergleichen. Die Augen der Ahnen drückten allesamt ungesund tief in die Schädel, die Gesichter glichen sich in einem fliehenden Kinn, alle hatten platte Nasen. Mein Blick wechselte zum Hausherrn, ihrem Nachkommen. Hier hörte die Ähnlichkeit abrupt auf. Sein Blick war stechend, der Kiefer breit, das Haar blickdicht gelockt, trotz seines Alters. Das alles machte auf mich den Eindruck, als wäre hier frisches Blut in die Linie gekommen; auf welche Art auch immer.
Der Hausherr räusperte sich, trank einen Schluck Wasser und blätterte eine Seite seines Manuskriptes um. Dann verkündete er, dass er seinen ersten Gedanken nun abgeschlossen hatte, bevor es aber weiterging, er einmal noch die gesammelten Thesen wiederholen wollte, zur besseren Erinnerung. Damit hatte er mich erneut verloren. Das Einzige, was mich in der nächsten halben Stunde noch unterhalten konnte, waren drei Fliegen, die unablässig den schweißigen Nacken meines Vordermanns ansteuerten. Er versuchte zwar die Insekten zu verjagen, doch sie kehrten immer wieder. Darüber wurde der Kamerad so ärgerlich, dass er bei einer der schnellen Bewegungen seinen strengen Scheitel zerlegte. Er versuchte hektisch, seine Frisur wieder in Ordnung zu bringen, und lenkte damit die Aufmerksamkeit des Hausherrn in unsere Richtung. Unweigerlich setzte mein Nachbar nun ein konzentriertes Gesicht auf und tat, als wäre das Richten seiner Frisur nur eine beiläufige Geste, die er während intensiven Zuhörens gar nicht wahrnahm. Wenigstens war ich nicht der einzige Heuchler hier, dachte ich.
Minuten später erwischte mich Jochen beim Tagträumen. Jochen war der älteste Sohn des Hausherrn und saß am Kopfende des Tisches, von wo aus er die Zuhörer genau im Blick hatte. Er schaute mich böse an, wobei sich seine Stirn in schmale Falten legte. Dann aber schien er sich an etwas zu erinnern, das ihn milde stimmte, und zwinkerte mir aufmunternd zu. Mir war selbst das Gutgemeinte daran unangenehm. Ich wollte nicht auffallen, wollte nicht einmal hier sein. Aber es war nicht zu ändern gewesen. Man hatte mich mit besonderer Aufmerksamkeit zu diesem Treffen gebeten. Jochen hatte es sogar für nötig empfunden, telefonisch bei uns auf Schloss Plasbalg nachzufragen. Immerhin musste ich seinen Anruf nicht selbst entgegennehmen. Meine älteste Schwester Luise hörte das Klingeln als Erste, was ungewöhnlich war, schließlich schellte der Apparat so leise, dass man ihn schon im nächsten Salon kaum hören konnte.
Mutter hatte anfangs noch dafür plädiert, das Telefon in einer Ecke der Eingangshalle anzuschließen, aber mein Vater hatte seine Anschaffung nicht der allgemeinen Praktikabilität opfern wollen; schließlich hatte er wichtige Gespräche zu tätigen, und die wollte er zum einen nicht mit dem Gesinde teilen, das im Foyer jederzeit vorbeikommen konnte, und zum anderen in seinem Ledersessel führen, behaglich in Hausherrenpose.
In welcher Pose Luise mit Jochen telefoniert hatte, konnte ich nicht wissen. Trotzdem bekam ich noch genug von dem Anruf zu spüren, als Luise mit dem Couvert vor meiner Nase hin und her wedelte und wissen wollte, warum zum Teufel ich nicht auf die Einladung geantwortet hatte. Ich wollte aber nicht tun müssen, was ich nicht tun wollte, darunter fiel das Jugendtreffen der Herrengesellschaft Mecklenburg. Meine Gegenwehr blieb jedoch zwecklos, weil Luise Jochen bereits am Telefon versichert hatte, dass ich in jedem Fall teilnehmen würde und mein Antwortschreiben nur in der Post verlorengegangen sein könnte. Was war mir heute Morgen also anderes übriggeblieben, als folgsam auf mein Pferd zu steigen und zum Nachbargut zu reiten, wo das Treffen stattfand. Nun war ich hier und wollte es doch nicht sein.
Der Redner unterbrach seinen Vortrag und stellte nun Fragen, welche die Angesprochenen im Stehen und mit Hackenschlag zu beantworten hatten. Ich geriet in Panik. Ich wollte auf keinen Fall aufstehen und laut vor den anderen reden müssen. Damals sprach ich seit Monaten kaum noch ein Wort. Das wusste hier nur keiner. Das wussten nur meine Corpsbrüder in Göttingen. Ich versuchte mich hinter meinem Vordermann zu verstecken, doch das hatte wenig Sinn, weil er unruhig auf seinem Stuhl hin und her rutschte. Tu was, dachte ich, tu beschäftigt, mach dir Notizen, nimm dir den Stift! Meine Hand bewegte sich nicht. Auf mein Wort! Nimm dir jetzt den Stift und schreib irgendetwas auf! Doch meine Finger rührten sich nicht, – drauf geschissen, nichts als tote Knochen.
Mir fiel auf, dass der Hausherr mit seinen Fragen der Sitzordnung nach vorging. Zwei Fragen noch und ich wäre an der Reihe. Ich fixierte den Schreibblock meines Nachbarn, entzifferte hastig einzelne Wörter: Führerauslese, Versailler Peitsche, Drittes Reich. Ich überlegte noch, was man daraus für eine Antwort stricken könnte, da war es schon zu spät. Alle Augen waren auf mich gerichtet. Man erwartete, dass ich aufstand. Also stand ich auf. Schlug die Hacken zusammen.
Sagte nichts.
Der Hausherr wiederholte seine Frage. Sie war nicht einmal besonders schwer. Man wollte von mir wissen, wann Deutschland seine vom Ausland aufgeladenen Schulden getilgt haben würde. Ein kurzes nie hätte gereicht, doch stattdessen brachte ich nun einen stolpernden Satz zustande, in dem das Prädikat im Plural stand, obwohl das Subjekt ein Singular war. Passiv und Futur durcheinandergerieten, das Ereignis jedoch in der Vergangenheit lag. Ich brachte es sogar noch zustande, die Endung des Objekts, die doch auf n lauten musste, mit dem m des vorangehenden Artikels zu vernuscheln. Mir wurde heiß, ich schaute zu Boden, jetzt bloß nicht noch den Blicken der anderen begegnen, und setzte mich.
Nach dem Vortrag verlegte man die Gesellschaft der jungen Herren auf die Terrasse. Dort reichte ein opulentes Dienstmädchen auf einem glänzenden Tablett Mokka und kleine Silberbecher mit Importen. Alles bewegte sich, nur ich blieb sitzen. Mir wurde klar, dass es so nicht bleiben konnte. Ich stand auch auf und fühlte mich sofort besser, denn nun überragte ich die meisten anderen um einen halben Kopf. Am Ende der Terrasse sah ich meinen Sitznachbarn. Ich kannte ihn, auch wenn ich nicht genau wusste, woher. Er sah harmlos aus, also steckte ich eine Hand in die Tasche und überquerte möglichst gelassen, wenn auch etwas hastig, die Terrasse.
„Na, was hat dich hierher getrieben?“, fragte ich.
Doch er verstand meine Frage nicht, weil ich schrecklich genuschelt hatte. Ich holte tief Luft und konzentrierte mich darauf, jedes Wort klar auszusprechen.
„Ich will zu Hause alles genau berichten“, antwortete er schließlich. „Mein Vater ist sehr stolz darauf, dass ich bei der Herrengesellschaft bin.“
Mein Vater sicher nicht.
„Kommst du ab jetzt auch immer zu den Treffen?“
Ich räusperte mich und merkte selbst, dass ich klang wie ein kastrierter Hahn.
„Ich weiß es noch nicht“, sagte ich.
Darauf wusste mein Gegenüber nichts zu erwidern und so rührten wir eine Weile schweigend in unseren Mokkatassen.
„Wollen wir zu den anderen gehen?“, schlug er vor.
Ich nickte. Als wir dann aber bei der Gruppe ankamen, erweiterte sein Bruder die Runde nur um einen Platz. Als hätte er mich nicht bemerkt. Als gäbe es hier gar keinen Georg! Wenn ich jetzt wenigstens eine Zigarette zwischen die Finger stecken könnte, dann hätte ich auch ohne was zu sagen eine Berechtigung, in der Nähe der anderen zu bleiben. So machte ich es bei meinen Corpsbrüdern auch, wobei ich darauf achtete, nicht schneller als sie zu rauchen, und notfalls einen Zug ausließ. Endlose Minuten später bekam ich einen festen Schlag auf den Rücken. Neben mir stand ein kleiner Mann mit breitem Brustkorb, der, wie ich von oben sehen konnte, seinen Scheitel mit viel Frisiercrème etwas zu weit links trug.
„Na, mein Guter.“ Das war Axel, Jochens jüngerer Bruder. „Wie ist es dir bekommen?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr er fort: „Eins sag ich dir, wenn wir zusammenstehen, können wir Deutschland wieder nach vorne bringen.“
Ich drehte mich in seine Richtung und nickte. So musste ich wenigstens nicht mehr am Rand der Gruppe stehen. Axels Augen glänzten. Er hatte das, was ich im Stillen Versammlungsfieber nannte. Das kannte ich von meinen Corpsbrüdern. Ich selbst schien dagegen immun zu sein.
„Aber wir müssen noch viel weiter gehen!“, fuhr Axel fort. „Wir dürfen den anderen das Feld nicht überlassen. Das wäre der Untergang des Deutschen Reichs.“
Mit den anderen meinte Axel vor allem die Kommunisten, aber auch die Liberalen, die Demokraten und allgemein jeden Sozialisten.
„Die stellen Forderungen, sag ich dir, das hätten die sich früher nie getraut.“
Er wippte auf seinen Schuhsohlen auf und ab.
„Auf unserem Gut gibt es keinen einzigen Sozi mehr.“
Jetzt stellte er sich auf die Zehenspitzen.
„Aber das Beste kommt ja noch: Du ahnst nicht, wen Vater als Gastredner für die Herrengesellschaft eingeladen hat!“
Da hatte er recht, ich ahnte nichts. Axel wollte mir gerade den Namen verraten, als Jochen, der mit halbem Ohr unserer Unterhaltung zugehört hatte, seinen jüngeren Bruder im letzten Moment davon abhielt: Axel solle nicht vergessen, dass derjenige, dessen Namen er nicht sagen dürfe, noch nicht fest zugesagt habe und es demnach noch nicht spruchreif sei.
„Das ist mal ein Führer, wie ihn Deutschland braucht“, schwärmte Axel und schaute mich erwartungsvoll an. Doch ich sagte dazu nichts. Um Zeit zu gewinnen, machte ich ein konzentriertes Gesicht und strich mir übers Haar. Axel blähte seine Nasenflügel auf und fragte forschend:
„Bist du etwa anderer Meinung?“
Ich schüttelte den Kopf, so konnte man das auch nicht sagen.
„Was ist dann mit ihm?“
Axel schaute ratlos zu Jochen, ob der ihm erklären könnte, was bei dem Jungen falsch war.
Da legte Jochen seine Hand auf meine Schulter wie um mich zu beschützen.
„Sag mal, Georg, weißt du etwa nicht, von wem wir hier reden?“
Ich schüttelte den Kopf und hätte mich am liebsten in Luft aufgelöst.
„Wie bitte?“ Axel wirkte entrüstet. „Worüber redet ihr eigentlich zu Hause?“
Ich blieb stumm.
„Lass ihn, Axel“, verteidigte mich Jochen. „Er ist doch noch jung.“
Dann erklärte er mir ausgiebig, dass derjenige, dessen Namen Axel nicht sagen durfte, der Kopf einer Splitterpartei war, die zwar bei den letzten Reichstagswahlen nur 2,6 Prozent erreicht hatte, aber dennoch Zukunft haben könnte.
Ich nickte. In diesem Moment trat der Hausherr auf die Terrasse. Sofort fragte Axel seinen Vater nach der Wahrscheinlichkeit, dass Hitler einen Vortrag bei der Herrengesellschaft halten würde, und Jochen schüttelte verärgert den Kopf, weil der jüngere Bruder sein Redeverbot ignoriert hatte.
„Das wird sich bald herausstellen“, sagte der Vater, „aber es wäre hilfreich, wenn der Trommler auch selbst bei der alten Elite um Stimmen werben würde. Man ist sich doch in vielem einig.“
„Und in welchen Dingen ist man sich nicht einig?“
Alle schauten den Fragenden an. Hatte sich da etwa ein Zweifler enttarnt? Einer, der nicht bei seinem Leben auf die richtige Fahne schwören würde? Zu meinem Entsetzen hatte ich selbst die Frage gestellt. Wieso tat mein Mundwerk eigentlich alles, nur nicht das, was es sollte? Erst stockte und stammelte es, dann schwieg es, wenn es reden sollte, und nun das! Um die Situation zu überspielen, beeilte Jochen sich, dem Gedächtnis seines Vater auf die Sprünge zu helfen:
„Ich weiß, ihr habt euch lange nicht mehr gesehen. Erinnerst du dich noch an Georg Graf Plasbalg?“
„Die Grafen Plasbalg, ja natürlich“, sagte Jochens Vater und wollte dann von mir wissen, aus welcher Linie ich stamme.
„Direkt aus Plasbalg“, sagte ich.
„Dann weiß ich Bescheid“, kommentierte er knapp und verzog den Mund, als hätte er an meinem Revers einen falschen Orden entdeckt.
2
Währenddessen wartete meine Schwester Helene am schmiedeeisernen Tor, das die Auffahrt zu Schloss Plasbalg zierte, auf den Briefträger. Eine schwüle Hitze drückte auf die alten Bauernhäuser und über die Dorfstraße schwebten kleine Staubwolken, die hin und wieder durchgewirbelt wurden von großen Lieferwägen, auf denen man wahlweise Blumen, Lampions oder Champagnerkisten zum Schloss transportierte.
Helene stand im Schatten eines alten Lindenbaums und hoffte, dass der Briefträger bald eintreffen würde. Ihr letzter Anhaltspunkt, wie lange sie schon wartete, war die Essenslieferung an die Feldarbeiter gewesen, die immer pünktlich kam. Für den Transport des Mittagessens wählte unsere Gusta immer ein Kammermädchen aus, das sie und den schönen Heiner, der den Wagen lenkte, begleiten durfte. Die Kutschfahrten waren begehrt, schließlich war es weitaus angenehmer, im offenen Landwagen zu fahren als Hühnchen zu rupfen oder unter der Aufsicht Ihrer Erlaucht Bestecke zu polieren. Unsere Mutter, wer sie mit Vornamen ansprach nannte sie Adele, legte großen Wert darauf, dass sich auf dem Familiensilber keine Wasserflecken bildeten. Auf noch ärgerem Kriegsfuß stand sie mit den Motten, die sich immer wieder in den Tiefen der gerafften Vorhänge einnisteten. An jedem ersten Montag im Monat kontrollierte sie persönlich die Stoffe und ließ, wenn nötig, ausbessern. So kam es, dass auf Gut Plasbalg jeder, Familienmitglieder und Hausgäste eingeschlossen, mit Nadel und Garn umgehen konnte. Keine Mottenlöcher, kein unpoliertes Buttermesser, und erst recht sollte auf dem Hof nicht geraucht werden, ein Gut wäre schließlich kein Trödelverein.
Nur der Briefträger trödelte. Er sollte weniger am Feldrand herumstehen und schnacken, fand Helene, sondern lieber seine Briefe austeilen. Wenn der Brief heute nicht in der Post war, könnte er spätestens morgen noch eintreffen. Tat er das nicht, musste sie damit r...