1. Einleitung
Die Welt ist in zunehmender Unordnung. Eine Krise jagt die nächste. Sie überlappen sich zunehmend, kopulieren mit dem Unerwarteten, gebären neue Krisen, viele, unzählige, zu viele, um mit ihnen fertig zu werden? Die demokratische, zivilisatorische Decke ist hauchdünn und durchscheinend geworden. Darunter mit verstörender Deutlichkeit zu erkennen: Kälte, Unmenschlichkeit, Abgründe, Chaos. Möglicherweise ist die Decke viel dünner, als es sich viele Menschen nach all den Jahrzehnten des Lebens in Freiheit und Frieden überhaupt vorstellen können, vielleicht auch vorstellen mögen.
Doch der Blick in die Gegenwart zeigt unmissverständlich: Die Demokratie befindet sich in Rückzugsgefechten mit ungewissem Ausgang. Freiheitliche Gesellschaftsordnungen westlicher Prägung geraten immer tiefer in die Krise. Laut Umfragen ist weniger als die Hälfte der jungen Europäer der Meinung, dass es wichtig sei, in einer Demokratie zu leben1. Populisten und Autokraten sind allerorten auf dem Vormarsch. Sie nehmen zunehmend Gehirne und Herzkammern der Demokratie in Besitz. Für alle, die weiter in einer freien, offenen Gesellschaft leben wollen, wird es Zeit, die Demokratie zu verteidigen. Dieses Buch will dabei helfen.
Physiker messen Unordnung. Sie nennen sie „Entropie“. Das klingt sachlich, hat nicht so viel Angstpotential wie der Begriff Chaos.
Für einen Physiker ist ein Glas auf einem Küchenregal eine ziemlich ordentliche Sache. Fällt es herunter und zerspringt in tausend Stücke, ist das recht unordentlich. Die Entropie hat zugenommen. Eine Unachtsamkeit, ein kleines Anrempeln, ein im falschen Moment ausgefahrener Ellenbogen - manchmal braucht es erschreckend wenig, um alte Ordnungen aufzulösen.
Ordnungen wieder aufzubauen verlangt hingegen hohen Energieeinsatz, viel mehr als nötig ist, alte Ordnungen zu zerschlagen. Dinge nur notdürftig zu kleben, falls überhaupt möglich, erzeugt nur neue Sollbruchstellen.
Dinge verwahrlosen, wenn man sie nicht achtsam pflegt. Ein Haus, um dessen Erhalt die Bewohner sich nicht kümmern, wird bald unbewohnbar. Schon nach wenigen Jahrzehnten zerfällt es völlig. Ein schützendes Heim verlangt Tatkraft - Pflege, Renovierung, vielleicht von Zeit zu Zeit sogar eine Kernsanierung. Ohne fortwährenden Energieeinsatz nimmt Entropie unweigerlich zu. Irgendwann ist nichts mehr da. Häuser hören auf zu existieren, wenn man sich nicht für ihren Erhalt engagiert. In unserem zeitlich begrenzten Erfahrungshorizont ist das jedoch kaum präsent. Denn was schon länger besteht, wird doch, bestimmt, auch morgen und übermorgen noch da sein. Oder etwa nicht?
Naturgesetze sind unbestechlich und gnadenlos konsequent.
Was ohne Energieeinsatz unweigerlich kommt, bezeichnen Physiker als „thermodynamisches Gleichgewicht“ - ein eiskalter, gleichförmiger Teilchenbrei ohne jede Ordnung und haltgebende Struktur. Atomare Anarchie.
Ebenso verhält es sich mit der Demokratie. Sie ist kein „Perpetuum Mobile“ - keine Maschine, die ohne Energiezufuhr immerfort von selbst läuft. Perpetuum Mobiles gibt es nicht, nicht in der Physik, und nicht in Gesellschaften. Sie sind eine Unmöglichkeit. Demokratie ist keine Einbahnstraße und auch kein einmal erreichter Zustand, dessen man sich sicher sein kann. Wir erleben es dieser Tage. Die liberale Demokratie steht unter massivem Beschuss und befindet sich in Rückzugsgefechten mit ungewissem Ausgang. Demokratie ist kein Ding, sondern ein fortlaufender Prozess, den es gilt am Laufen zu halten. Dafür braucht es die Beteiligung möglichst Vieler. Demokratie ist ein unermesslich wertvoller Schatz, der sich vor den Augen auflöst, wenn man sich seines Besitzes zu sicher ist.
Es wäre fahrlässig, die Pflege und Verteidigung der Demokratie ausschließlich Berufspolitikern und Schaudiskussionen in Talkshows zu überlassen. In der Demokratie ist das Volk der Souverän und kümmert sich gemeinsam um seine Belange, stellt Fragen, denkt nach, diskutiert und streitet, sucht Kompromisse, findet Lösungen und handelt. Der Lohn dafür sind Freiheit und ein Leben in Würde.
Die Verantwortung für den Erhalt und die Weiterentwicklung der Demokratie trägt die gesamte Gesellschaft, nicht nur Politiker, Verfassungsorgane und Medien. Die Freiheit, in der wir leben wollen, können wir uns nur gegenseitig ermöglichen. Demokratie lässt sich nicht in Regierungszentralen wegdelegieren. Diskussionen der immer gleichen Köpfe vor laufenden Kameras ersetzen nicht den öffentlichen Diskurs - häufig befeuern sie nur die Wut der Abgehängten und Ausgegrenzten. Ansprachen charismatischer Demagogen ersetzen nicht das eigene Denken.
Das Anklicken von Like-it-Buttons ist noch kein Debattenbeitrag. Demokratie ist nichts, was auf einer Bühne stattfindet und vom Volk lediglich beobachtet und mit Beifall oder Buhrufen kommentiert wird. Demokratie, Freiheit und Menschenwürde sind etwas, das wir alle gemeinsam im Alltag durch unser Denken, Reden und Handeln herstellen.
Positive Veränderungen beginnen immer mit Fragen. Fragen die anregen, über die Demokratie, unsere Werte und unser Zusammenleben nachzudenken, zu diskutieren und entsprechend zu handeln. Offene Fragen kultivieren den Zweifel als hohes Gut. Endgültige Antworten hingegen sind schließend, beenden Diskussionen und das Nachdenken, töten den Zweifel und damit die Möglichkeit, Dinge auch anders sehen und bewerten zu können. Die Demokratie braucht das selbständige Nachdenken und fortwährende Diskussionen. Die Demokratie, will sie wehrhaft sein, muss sich vor endgültigen Antworten schützen. Demokratische Antworten sind immer vorläufige Antworten, und demokratisches Handeln ist immer ein Tun mit Wiedervorlage-vermerk. Die Zukunft der Demokratie ist zweifelsfrei frag!ich.
Fragen können wie ein erhellendes Feuer in dunklen, kalten Nächten sein, um das man sich versammelt um Gemeinsamkeit und Zuversicht zu erleben. Eindeutige Antworten sind hingegen nur ein Suchtmittel mit rasch verpuffender Beruhigungswirkung. Fragen sind Einladungen für gedankliche Dehnungsübungen. Sie dienen der Vergewisserung mentaler Bewegungs- und tatsächlicher Handlungsfähigkeit. Fragen laden zu überraschenden Perspektivwechseln ein. Sie legen den Blick auf Abgründe frei und sezieren liebgewonnene Ansichten.
Fragen sind - das muss man klar sagen - nichts für Weicheier. Wer Diskussionen aus dem Wege gehen will, vermeintliche Sicherheit sucht und sich vor der Komplexität der Welt wegducken möchte, der sollte dieses Buch umgehend weglegen und sich lieber eines voll eindeutiger Antworten zulegen. Populisten, und sonstige Volksverführer verkaufen so etwas gerne. Auch der gut sortierte Buchhandel eines jeden autokratisch geführten Landes ist eine zuverlässige Fundstelle für Bücher mit Antworten - ohne jede Frage.
2. Anleitung
L iebe Leserin, lieber Leser. Wenn Sie wollen, dann gehen Sie die Fragen der Reihe nach durch, oder schauen Sie gezielt, welches Fragekapitel Sie besonders anspricht. Lassen Sie Ihre Augen locker über die Fragen hinweggleiten, bis Sie intuitiv irgendwo hängen bleiben. Oder überlassen Sie es schlicht dem Zufall, welche Sie wählen: Blättern Sie mit einer Hand durch das Buch und fahren Sie willkürlich an irgendeiner Stelle mit einem Finger der anderen Hand hinein.
Sie können die Fragen in diesem Buch auf unterschiedliche Art und Weise nutzen. Beispielsweise ganz für sich, im stillen Kämmerlein. Lesen Sie eine Frage und diskutieren Sie mit sich. Ergründen Sie sich, untersuchen Sie Ihr Verhältnis zur Demokratie und Ihre Auffassung von demokratischem Miteinander. Lass Sie sich von Ihren Reaktionen überraschen. Und treten Sie Konflikten mit sich selber, die durch die Fragen aufgeworfen werden könnten, entschlossen entgegen!
Sie können die Angelegenheit erweitern, in dem Sie das Buch zusammen mit anderen nutzen. Schauen Sie gemeinsam nach Fragen, über die Sie gerne miteinander diskutieren wollen, und auf die Sie die Reaktion der anderen testen möchten. Suchen Sie wechselseitig Fragen heraus, bei denen Sie vermuten, dass die anderen ähnlichen Ansichten vertreten. Überprüfen Sie diese Annahmen. Dann schauen Sie nach Fragen, bei denen Sie sehr unterschiedliche Meinungen, Ideen und Haltungen vermuten. Überprüfen Sie auch das, und starten Sie in die Diskussion!
Wenn Sie es kreativ und unkalkulierbar möchten und sich etwas trauen, dann kommen hier noch einige weitere, zugegebenermaßen unkonventionelle Anregungen, um mit anderen ins Gespräch zu kommen:
Setzen Sie sich auf einen öffentlichen Platz. Basteln Sie sich ein Schild, auf dem sinngemäß steht: »Ich habe Lust über die Demokratie zu reden. Sprechen Sie mich an!« Legen Sie das Buch plakativ daneben. Warten Sie ab, was passiert.
Machen Sie Urlaub am Mittelmeer und laden Sie andere Urlauber dazu ein, mit Ihnen und dem Büchlein Schlauchboot zu fahren und über demokratische Werte zu diskutieren.
Überreden Sie den Wirt Ihres Lieblingslokals, statt des wöchentlichen Quizabends Diskussionsrunden über Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit zu veranstalten. Alle fünf Minuten wird eine neue Frage aufgerufen. Am Ende des Abends wird der Tisch gekürt, der die geistreichsten öffentlichen Redebeiträge beigesteuert hat.
Holen Sie das Fragenbuch aus der Tasche und zetteln Sie überall dort inspirierende Gespräche an, wo es Menschen gerade langweilig sein könnte: im Wartezimmer beim Arzt, am Abfluggate, in der Warteschlange auf dem Amt, im Altersheim, am Busbahnhof, in der Bahn.
Veranstalten Sie ein Demokratie-Speed-Dating. Fünf bis sieben Personen pro Geschlecht. Jeder sucht sich ein paar Fragen aus dem Buch heraus, über die er reden möchte. Dann geht`s los: Jede Paarung darf sich 10-15 Minuten unterhalten, bis der Gong zum Partnerwechsel aufruft. So geht es reihum, bis jeder mit jedem diskutiert hat.
Kapern Sie Uniseminare, Vereinssitzungen, Teamgespräche oder gleich den Plenarsaal. Gönnen Sie sich Diskussion darüber, wie Sie die demokratischen Verhältnisse und die Möglichkeiten der Teilhabe bei sich in der Universität, im Verein, in der Stadt, im Land oder im Unternehmen erleben, und was Sie weiter verbessern könnten. Nutzen Sie die Fragen des Buches, um wunde Punkte und Optimierungspotential zu finden.
Wenn Ihr noch Schüler seid, dann erobert Schulstunden und redet über die Zukunft der Demokratie. Sie gehört euch.
Melden Sie eine Demonstration unter dem Label »Miteinander streiten für die Demokratie« an. Laden Sie alle Leute ein, die Sie erreichen können. Nutzen Sie soziale Netzwerke. Versammeln Sie sich an bedeutungsträchtigen Orten: Auf der Wiese vor dem Reichstag in Berlin oder direkt vor dem europäischen Parlament in Brüssel, auf dem Taksim-Platz in Istanbul oder dem Tahrir-Platz in Kairo, dem Trafalgar-Square in London, dem Roten Platz in Moskau, am Fuß der Freiheitsstatue in New York oder vor dem Trump-Tower. Nicht kleckern, für die Demokratie darf man ruhig klotzen. Bringen Sie einige Exemplare dieses Buches in Umlauf, um den Menschen Anregungen zum Diskutieren zu geben. Oder reißen Sie alle Seiten aus dem Buch heraus und verteilen Sie diese.
Und nun los.
3. Fragen zum Aufwärmen
1. Der frühere US-Präsident Abraham Lincoln definierte Demokratie als »... die Regierung des Volkes durch das Volk für das Volk«. Wie würden Sie Demokratie definieren?
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2. Häufig wird ein „Demokratiedefizit“ beklagt. Was denken Sie, woran man ein Demokratiedefizit erkennen könnte?
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3. Vom ehemaligen dt. Bundeskanzler Willy Brandt ist der Ausspruch überliefert: »Demokratie darf nicht so weit gehen, dass in der Familie darüber abgestimmt wird, wer der Vater ist.« Gibt es also auch so etwas wie »Demokratieüberschuss«? Wenn ja, woran würden Sie ein Zuviel an Demokratie bemerken?
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