Anfänge
Es ist eine bescheidene Station mit sechs Betten, in der ich meinen Dienst an jenem ersten Nachmittag im November 2002 begann, bestens betreut von einer jungen Ordensschwester mit einer Palliative-Care-Qualifikation, deren muntere Gestimmtheit mich recht ermutigte. Sie erklärte ausführlich und genau, gab mir Ratschläge und Tipps. Es wurde ein guter Anfang, an den ich mich gern erinnere.
Die Schwester stellt mich den Patienten vor, den ‚Gästen‘, wie diese im Haus auch genannt werden. Ich bin angespannt. Das Mitgehen in die Zimmer wird mir jedoch durch meine Betreuerin erleichtert. Vor einem der Räume, dessen Tür halb geöffnet ist, schweigt die Nonne. Die Patientin liegt schlafend mit kaum wahrzunehmenden Atemzügen, über eine Infusion mit Medikamenten versorgt. »Sie ist auf dem Weg«, erklärt mir die Begleiterin leise. Die Frau ruht gebettet, auf der einen Seite von Polstern gestützt, um einem Wundliegen vorzubeugen.
Der Begriff ‚Gäste‘. Ich erinnere mich, wie lebhaft, ja geradezu ehrfürchtig die klösterliche Kursleiterin über diesen alternativen Ausdruck für die Schwerkranken gesprochen hat. Ich hatte damals als Neuling den Eindruck, dass sie dem Begriff eine besondere, gar spirituelle Bedeutung beimisst. Das Wort bringt die Verweildauer der Kranken auf der Station zur Sprache. Sie sind als Gäste vorübergehend im Haus. Doch verlassen sie dieses Haus anders als Gäste eines Hotels oder eines familiären Festes. Das Weggehen und Sich-Verabschieden der Stationsgäste ist von einer besonderen Qualität, deren Ernst im Wort ‚Gäste‘ nicht sofort zum Ausdruck kommt. Dass es da um schwere, unheilbare Krankheit und ums Sterben geht, wird erst beim zweiten Blick deutlich. Aus meiner Helfer-Erfahrung der zurückliegenden Jahre heraus bin ich bemüht, den Begriff nicht zu verwenden, da ich mit ihm eine andere Vorstellung verbinde.
Ich erfahre, dass die Patienten in der Regel von ihren Hausärzten medizinisch versorgt werden. Ist dies nicht möglich, springt ein erfahrener Palliativ-Mediziner ein, mit dem die Station zusammenarbeitet. Er schaut regelmäßig bei den ihm anvertrauten Kranken vorbei, spricht mit ihnen, mit den Schwestern, macht sich ein Bild vom aktuellen Ergehen der Patienten, verschreibt entsprechend notwendige Medikamente und klärt Familienangehörige auf.
Die Schwester ist unablässig am Berichten und Informieren. Sie ist allein auf der Station, mit mir als Helfer, den sie in seinen Dienst einweist. Dazu muss sie nach den Kranken schauen, diese lagern, nach den Infusionen schauen, sie pflegen und ihre Protokolle schreiben, damit sie beim Schichtwechsel am Abend der Nachtschwester den aktuellen Stand übergeben kann.
Ich bin seit halb zwei Uhr auf der Station. Nach der Kennenlern-Runde ist Zeit für Kaffee und Kuchen für die Patienten, ein Dienst, der, neben der Vorbereitung des Abendessens, zu meinen Hauptaufgaben während der Spätschicht gehört. Je nach dem Befinden der Kranken hilft dabei die Schwester mit. An diesem ersten Nachmittag muss sie mich aktiv unterstützen und dazu vieles erklären.
Der Arbeitsplatz ist die Stationsküche mit ihren vielerlei Tätigkeiten, ein Ort, in den ich immer wieder zurückkehre. Die Köchin hat in der großen Küche im Erdgeschoss, neben der Zubereitung von individuellen Mahlzeiten für die Kranken, auch einen Kuchen für den Kaffee am Nachmittag gebacken. Den bringe ich zu Beginn meiner Spätschicht in die Küche der Station und verteile ihn von dort, je nach Wunsch, zusammen mit Tee, Milch oder heißer Schokolade an die Patienten. Wieder bin ich in den Zimmern, erkundige mich, ob eher Eis oder Joghurt angebracht ist. Wieder hilft die Schwester mit. Auf einem Tablett trage ich das Gewünschte in die Zimmer, helfe, wo dies nötig ist, beim Essen und Trinken, bin auf diese Weise in Kontakt mit den Kranken.
Der Kontakt zu ihnen – er steht ganz oben im Helferdienst. Wobei es nicht darum geht, mich aufzudrängen. Es gibt so viele Möglichkeiten, in die Zimmer zu gehen, sei es, ein Patient läutet, weil Hilfe nötig ist, sei es, ich fülle den Pflegeschrank auf – mit Handtüchern, Waschlappen, mit aus Endloswindeln zugeschnittenen Teilen, die zur Reinigung benötigt werden. Hinzu kommen ‚Durchzüge‘, Linnen, die zusätzlich über die Spannbetttücher gelegt werden und nicht zuletzt die ‚Safetex‘- Betteinlagen. Dabei ergibt sich immer wieder, so erlebe ich es, die Möglichkeit zum Gespräch, mit den Patienten, mit Familienangehörigen und mit Besuchern.
Die für die Pflege der Kranken benötigte Wäsche wird zu dieser Zeit noch im Haus gereinigt. In den folgenden Monaten werde ich zu Beginn meines Dienstes zunächst in die Waschküche im Keller gehen, um die fertigen, nassen Teile aus den Waschmaschinen zu nehmen und in die Trockner zu legen, diese später leeren und die gefüllten Waschkörbe ins stationäre Bad tragen. Dort sortiere ich die Wäsche, lege die Handtücher und die Betteinlagen zusammen und verteile sie in die Schränke auf den Zimmern. In diesen Schränken ist ein Bereich für die verschiedensten notwendigen Pflegeutensilien reserviert. Dort bringe ich die geordneten Teile unter und kontrolliere, ob genügend Material für die umfangreiche Pflege der Schwerkranken während des Tages, am Abend und am nächsten Morgen vorhanden ist.
Diese Arbeit nimmt ein ‚gerütteltes Maß‘ an Zeit in Anspruch. Neben der Essensvorbereitung in der Teeküche gehört sie zu den ‚hauswirtschaftlichen‘ Tätigkeiten meiner Spätschicht. Sie bilden die Eigenart des stationären Helferdienstes, die jedoch meine Anwesenheit bei den Kranken und Sterbenden einschließt und ermöglicht. Diese haben mit ihren Anliegen und Bitten stets Vorrang. Daher unterbreche ich meine Arbeit im Bad oder in der Küche, wenn sie um Hilfe rufen, frage nach und gebe das Problem, wenn ich es nicht lösen kann, an die Schwester weiter.
Diese spezielle Gestalt des stationären Dienstes, vor allem seine ‚hauswirtschaftliche‘ Seite, sie war mir bekannt. Davon hatte ich während meiner Ausbildung im Praktikum erfahren. Sie war auch im theoretischen Teil des Helferkurses immer wieder zur Sprache gekommen. Das war mir bewusst, als ich die Chance ergriff, auf der Station zu arbeiten. Ich habe es bis heute nicht bereut, kam doch meine eigene Betreuung durch die hauptamtlichen Fachkräfte hinzu, die ich sehr schätze und nicht missen möchte.
Und es kam die Erweiterung meiner Kochkünste hinzu, wurde ich doch, in den ersten Wochen, von der liebenswürdigen, älteren Vinzentinerin, der ich immer wieder in der Spätschicht half, über die Zubereitung eines Grießbreis eingeführt. Ich kam daraufhin in den kommenden Jahren zu dem zweifelhaften Ruf, ich könne besagte Speise besonders gut herrichten, und mir daher die diensttuenden Schwestern, mit einem Augenzwinkern, deren Vorbereitung gerne überließen. Sie übersahen jedoch dabei, dass ich beim Kochen dieses süßen Breis stets ins Schwitzen kam.
Die Schwester lässt mich allein, nachdem sie mir die Arbeit mit der Pflegewäsche erklärt hat. Ich habe diese auf einen Wagen gelegt und gehe mit ihm von Zimmer zu Zimmer, verweile, bevor ich klopfe, versuche auf diese Weise, die Schwierigkeiten des Anfangs zu überwinden, und öffne die Tür.
Es dauert, bis ich mutiger und sicherer werde in der Begegnung mit den Schwerkranken. Dabei erlebe ich Unterschiede. Mal geht der Kontakt schneller, mal braucht es Zeit. Die Initiative geht von den Kranken aus. Von mir ist, so habe ich gelernt, Achtsamkeit gefordert und Zurückhaltung.
Ich schaue nach, ob im Pflegeschrank Teile fehlen, die ich auf meinen Wagen gestapelt habe und ergänze diese. Bevor ich den Raum verlasse, frage ich die Kranken nach einem Wunsch, den ich erfüllen könne. Das ist vielleicht eine leere Wasserflasche, die durch eine neue eingetauscht werden muss, oder der Wunsch nach einem Wechsel der Lagerung, oder die Bitte, das Fenster zu öffnen oder zu schließen.
In anderen Zimmern treffe ich auf Familienangehörige, auf eine Ehefrau oder einen Ehemann, auf eine Tochter oder einen Sohn, die inzwischen angekommen sind, und die ich zum ersten Mal sehe. Auch sie haben Wünsche, die ich selbst erfüllen kann oder diese an die Schwester weitergebe.
An einer der Türen bekomme ich keine Antwort. Ich öffne vorsichtig. Die Kranke schläft. Am Bett steht der Ständer mit der Infusionsflasche. Ich kenne die Frau von meinem ersten Besuch im Zimmer in Begleitung der Schwester. Bei ihr muss ich im Schrank viel ergänzen wegen des hohen Pflegeaufwands.
OFFENE TÜR
Die Tür zu ihr
steht offen.
Immer wieder
geh‘ ich dran vorbei
und trau mich
nicht ins Zimmer.
Sie meldete sich
noch nicht, seit ich
im Hause bin.
Manchmal bleib‘ ich,
verstohlen, steh’n,
betrachte sie von fern
in ihrem Bett,
seh‘ ihr Gesicht und
die geschlossenen Augen.
Dann –
dann endlich
fass‘ ich mir ein Herz,
tret‘ an ihr Bett und frag‘,
ob es sie störe,
wenn ich zu ihr käme,
ab und zu.
Und sie,
die Augen öffnend,
sagt: Nein,
überhaupt nicht.
(Helfertext 8/2003)
Der Nachmittag ist fortgeschritten. Die Schwester hat inzwischen alle Patienten besucht, hat mit ihnen gesprochen, sich nach dem Ergehen erkundigt, nach den Infusionen, den Ports und nach den Schmerzpflastern gesehen, sie hat neu gelagert und gepflegt.
Es ist Zeit für unsere Brotzeitpause in der Teeküche, bevor wir uns der Zubereitung des Abendessens für die Kranken zuwenden. Das ist eine durchaus kreative Arbeit, mit der wir mit den Möglichkeiten der Stationsküche Abendmahlzeiten für diese herrichten. In der Regel ist noch Suppe vom Mittagessen da, eine besondere Spezialität der Köchin, von vielen Kranken geschätzt, da es sich um eine leichte Speise handelt. Dann können wir Wurst- oder Käsebrote anbieten, Spiegel- oder Rühreier, Nudel- oder Wurstsalat, Joghurts, Fertigpudding oder Eis. Und Grießbrei, natürlich. Ich musste lernen, mir bei dieser Vorbereitung Zeit zu lassen und meine Neigung zur Hektik abzulegen, erlebe ich doch, wie sorgfältig die Schwestern die Speisen zubereiten, sie schmücken und garnieren.
Meine Betreuerin schickt mich in die Zimmer, um nach den individuellen Wünschen zu fragen, ein für die Kranken schwieriges Thema, ist doch gerade das Essen für die meisten wegen der vielen Medikamente zum Problem geworden. Chemotherapien haben ihnen den Geschmack und den Appetit genommen, so dass oft nur noch Tee oder ein anderes, leichtes Getränk gewünscht wird. Wieder habe ich intensiven Kontakt zu den Kranken, erfahre, wie es ihnen im Moment geht, mache Vorschläge über mögliche Speisen oder Getränke, serviere diese anschließend auf einem Tablett und helfe beim Essen, eine Tätigkeit, die Konzentration und Achtsamkeit erfordert. Das gelingt mir nur bedingt bei meinen Anfängen. Doch zugleich erfahre ich Ermutigung und Zuspruch.
»Langsam, Herr Karcher, wir haben viel Zeit, wir schaffen das gemeinsam«, beruhigt mich ein Patient bei meinem Versuch, ihm zu helfen. Das tut gut und nimmt mir meine Nervosität.
KEINE SUPPE
Er runzelt die Stirn
über den geschlossenen Augen,
die er nicht mehr öffnen kann,
als ich ihm
den ersten Löffel Suppe reiche.
Sie schmeckt ihm nicht,
meint er.
Ich kann es nachvollziehen
und trage den Teller
verständnisvoll zurück,
richte eine Schnitte
mit frischer, würziger Wurst,
mit Senf und
essigsauren Gurkenscheiben.
Er ist entzückt
und isst in einem Schub
den Teller leer.
(Helfertext 6/2003)
Anschließend ist Aufräumen in der Küche dran. Ich hole das gebrauchte Geschirr aus den Zimmern, bestücke die Spülmaschine damit, eine besondere logistische Leistung, die ich von zu Hause kenne, lege Wurst- und Käsepackungen und Butter zurück in den Kühlschrank, die ich zuvor mit einem Filzschreiber mit dem Datum der Öffnung versehen habe, reinige den Tisch und die Arbeitsplatten, spüle die Tabletts und anderes Geschirr ab, welches in der Maschine keinen Platz findet. Es ist Basishilfe in den verschiedensten Formen, Hilfe der Helfer zum Gelingen von Hospiz. Jeder Handgriff trägt dazu bei, auch das abschließende Wegbringen des Küchenabfalls in die Restmülltonne o...