Erziehen und Gesellschaft
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Erziehen und Gesellschaft

Reflektionen über Freiheit und Zusammenhalt

  1. 124 Seiten
  2. German
  3. ePUB (handyfreundlich)
  4. Über iOS und Android verfügbar
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Erziehen und Gesellschaft

Reflektionen über Freiheit und Zusammenhalt

Über dieses Buch

Der Umgang der Menschen untereinander ist eine Frage des Charakters. Wir erleben woanders kaum mehr Charakterlosigkeit als bei der Nutzung von Kommentarfunktionen in digitalen Medien. Sich im Internet frei und anonym bewegen zu können lädt ein, sich gegenüber Mitmenschen absichtlich unwahr oder gar infam zu verhalten, ohne dafür die Verantwortung tragen zu müssen. Freiheit ist aber nur mit Verantwortung erträglich und kann nur gelebt werden, wenn jeder bereit ist, für die Ergebnisse seines Willens und Verhaltens die Konsequenzen zu tragen. Darauf beruht der Zusammenhalt der Gesellschaft.Neben Wissen und Können sind Temperament und Charakter entscheidend für verantwortungsvolles Handeln. Die Möglichkeit von Einhegung des Temperamentes und Charakterbildung durch Erziehen stehen im Mittelpunkt dieses Essays. Erziehungs- und Entwicklungsziel für alle Heranwachsenden muss es sein, dass sie die Möglichkeiten, die in ihnen angelegt sind, für ein »glückendes Leben« verwirklichen können. Unter dem Imperativ »Das Denken erweitern« ergeht die Aufforderung, sich vom Mainstream zu lösen, um allen Mitgliedern unserer Gesellschaft, auch den mehr praktisch als abstrakt veranlagten, würdige Lebens- und Arbeitsperspektiven zu eröffnen.

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Information

Jahr
2016
ISBN drucken
9783740717087
eBook-ISBN:
9783740755737

Teil 1

Mensch und Sozietät

Kapitel 1 Von Marina Weisband bis Freiheit
Von Marina Weisband bis Freiheit
Zeitgemässe Demokratie; Internet mit Kommentarfunktion; Netzneutralität; Verhalten in der Anonymität; Bildung und Erziehung; Freiheit und Verantwortung
Die Jungpolitikerin Marina Weisband1) verfasste im Jahr 2013 im Alter von 24 Jahren ihr Buch »Wir nennen es Politik«. Sie hatte in der »Piratenpartei« bis 2012 für etwa ein Jahr das Amt der Politischen Geschäftsführerin inne. Sie stellt in ihrem Buch mit dem Untertitel »Ideen für eine zeitgemässe Demokratie« fest, dass wir heutzutage in fast allen Lebensbereichen die Möglichkeit haben, uns selbständig zu informieren, freie Entscheidungen zu treffen und unsere Meinungen direkt zurückzumelden. Für viele sei es zur Gewohnheit geworden, überall und jederzeit Berichte zu lesen oder selbst Kommentare zu hinterlassen. In ihrem Buch hebt sie hervor, dass eine bestechende Eigenschaft von Nachrichten über das Internet darin liegt, sie kommentieren zu können. Die junge Generation, der sich Marina Weisband selbst zurechnet, gehe mit der Gewohnheit durch die Welt, Fragen zu stellen und Berichte zu kommentieren.
Im weiteren Verlauf ihres Buches beschreibt Marina Weisband ihre Erfahrungen über den Umgang miteinander und stellt fest, dass die Voraussetzung zum gelingenden politischen Miteinander Bildung sei. Bildung, sagt sie weiter, müsse unbedingt besser werden. Ihre Schilderungen des menschlichen Umganges im Einzelnen — und während ihrer Amtszeit insbesondere auch mit ihr persönlich — lassen den Schluss zu, dass sie, wenn sie Bildung sagt, eigentlich eher Kritik am Verhalten der Mitmenschen übt als an deren Wissen. Damit spricht sie im Kern mehr von Erziehung als von Bildung.
Der Umgang zwischen Menschen untereinander ist eine Frage des Charakters jedes Einzelnen und wir erleben nirgendwo mehr Charakterlosigkeit auf engstem Raum als gerade bei der Nutzung von Kommentarfunktionen in digitalen Medien. Sich im Internet anonym bewegen zu können, lädt ein, sich gegenüber Mitmenschen absichtlich unwahr oder gar infam zu verhalten, ohne dafür die Verantwortung tragen zu müssen.
Netzneutralität ist ein modernes Schlagwort. Sie wird als ultimatives Argument gegen vermeintliche Unfreiheit eingesetzt. Freiheit steht hierbei für ein ungebundenes Ausleben aller Neigungen. Im realen Lebens- und Berufsumfeld, also außerhalb der Cyberwelt, sanktioniert die Gesellschaft Verhalten, das für die Sozietät schädlich ist. Im Netz sanktioniert sie bisher kaum.
Forderungen nach Netzneutralität, Netzanonymität und Freiheit in der virtuellen Welt sind durchaus berechtigt. Aber über die negativen Auswirkungen des Netzes wird - außer unter der sozialen Problematik der Vereinzelung und der Sucht - wenig gesprochen. Sie werden stattdessen schweigend ertragen. Dass es sich beim Internet bislang um einen weitgehend rechtsfreien Raum handelt, wo Verantwortlichkeit wenig bedeutet, und um eine Sphäre des Lebens, wo es gerade auf den Charakter des Menschen ankommt, darüber wird geschwiegen.
Die Bedeutung von Charakter für die verantwortungsvolle Nutzung von sozialen Netzwerken, in denen sich zum Beispiel viele Heranwachsende bewegen, wird kaum thematisiert. Man ist der Meinung, es lässt sich sowieso nicht steuern. Über die sehr weitgehende Möglichkeit von Charakterbildung durch Erziehen während des Heranwachsens wird nirgendwo diskutiert. Marina Weisband hat letztlich »eine Lanze gebrochen« für Charakterbildung und Erziehung.
»Freiheit« und »Verantwortung« sind Begriffe, die wie zwei Seiten einer Münze zusammengehören. Freiheit ist nur mit Verantwortung erträglich. Freiheit kann nur gelebt werden, wenn jeder bereit ist, für die Ergebnisse seines freien Willens, das heißt für die Ergebnisse seines Denkens und Verhaltens, die Konsequenzen zu tragen. Es muss gesellschaftstragendes Erziehungs- und Entwicklungsziel sein, alle jungen Menschen zu befähigen, das eigene Leben zu »meistern«. Denn ihr Handeln prägt zukünftig ihr eigenes Lebens- und Berufsumfeld mit. Und die Herangewachsenen werden es sein, die unsere Demokratie in Zukunft gestalten.
Aktuell gibt es immer wieder Diskussionen darüber, wie frei und selbstbestimmt der Mensch überhaupt sein kann. Deswegen soll zu Beginn der Frage nachgegangen werden, wie viel Freiheit dem Menschen bei seiner molekularen und genetischen (Vor-)Bestimmtheit tatsächlich bleibt, wie viel neurobiologischer Anteil bei ihm Freiheit ausmacht und welche Bedeutung dies für sein Leben, vor allem für sein Entwicklungspotential »von klein auf«, haben könnte.
Weitere Fragen, die sich daran anschließen, sind: Wie könnte, wie sollte eine Entwicklung aussehen, die die vorhandenen Freiheitsgrade des Menschen schon beim Heranwachsen und dann darüber hinaus nutzt? Welche Verantwortung hat bei diesem Entwicklungsprozess gar der Heranwachsende selbst? Auf welche Verantwortung im Lebens- und Berufsumfeld sollte er vorbereitet sein? Welcher Weg sollte ihm deshalb aus erzieherischer Sicht gezeigt werden? Welchen Anteil können persönliches Temperament, persönlicher Wille und persönlicher Charakter an diesem Prozess haben beziehungsweise welche Bedeutung kommt ihnen tatsächlich bei diesem Prozess zu?
Es geht danach darum, wie erfolgversprechendes Erziehen zu Verantwortung und damit zu persönlicher Freiheit aussehen könnte. Was wären Erziehungsgrundsätze, falls sich aus diesen Überlegungen überhaupt welche ergeben? Wie wären sie in unserer Gesellschaft umsetzbar und was können sie auf Dauer gesehen für die Entwicklung unserer Gesellschaft bedeuten?
Dies sind wahrhaft viele Fragen, die in den nachstehenden Kapiteln behandelt werden sollen. Die abschließende Frage wird dann sein: Wenn alles Denkbare für das Erziehen zu Verantwortung durchgesprochen ist, gibt es dann noch Weiteres zu Bedenken? Zum Beispiel in welchem Zustand befindet sich die Sozietät, wenn die Herangewachsenen aktiv und eigenverantwortlich in sie eintreten? Hat die Sozietät alles dafür getan, um für die Erwachsenen ein Leben und Arbeiten in Würde zu ermöglichen? Sollte das nicht der Fall sein, dann müssten die notwendigen, ausstehenden Veränderungen zusammengetragen, aufgeführt und erläutert werden.
Denn es wäre schlimm, wenn die Sozietät vom Heranwachsenden Einordnung verlangt, aber am Ende des Erziehungsprozesses findet sich der Herangewachsene in einer Sackgasse wieder. Die Sackgasse heißt Alimentierung. Dies ist dann eine Situation, in der er die Möglichkeiten, die in ihm angelegt sind, entweder nur unter Wert oder vielleicht gar nicht einbringen kann. Dann müssen wir, die Erwachsenen von heute, uns rechtfertigen, warum wir das uns von der Jugend entgegengebrachte Vertrauen so missbraucht haben.
Kapitel 2 Von Autonomie bis Sozietät
Von Autonomie bis Sozietät
Molekulare Autonomie; Möglichkeiten und geglücktes Leben; Tugenden; Rückbezüglichkeit; Operationelle Geschlossenheit; Grenzen des Wahrnehmens und Verstehens; Ethik; Meine-Deine Wirklichkeit; Beziehung als Abgleichen von Wirklichkeiten; Sozietät und Rangordnung
Der Mensch ist molekular konstituiert und er sucht lebenslang nach seinem Glück. Aristoteles nannte Tugend als den Weg zur Glückseligkeit und verstand unter »Glückseligkeit« ein »geglücktes Leben«. Der Neurologe Raphael M. Bonelli2) hält ein »geglücktes Leben« dann für erreicht, wenn ein Mensch die Möglichkeiten verwirklicht hat, die in ihm angelegt sind. In diesem Essay wird diese Formel als Imperativ aufgefasst. Erziehe so, dass jeder Herangewachsene die Voraussetzungen für ein weiterhin glückendes Leben in sich trägt.
Es geht in diesem und dem nächsten Kapitel um die Frage, ob das, was »Möglichkeiten verwirklichen« suggeriert, nämlich sich frei für oder auch gegen seine Möglichkeiten entscheiden zu können, ob dem Menschen bei seiner grundlegenden molekularen Konstitution diese Freiheit überhaupt gegeben ist. Wenn sie dem Menschen gegeben ist, dann muss es gemeinsame Zielsetzung sein, dass alle Heranwachsenden die besten Chancen erhalten, im Sinne von Bonelli ein für sich geglücktes Leben erreichen können.
Über die Tugenden selbst, die seit der Antike unter den vier Kardinaltugenden Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Maß bekannt sind, soll hier nicht gesprochen werden, da den Menschen in unserer heutigen Zeit und Gesellschaft diese Tugenden als Worte durchaus bekannt, aber als Begriffe in ihrer Bedeutung und ihrem gesellschaftlichen Wert nicht gleichermaßen verständlich sind.
Der erste Untersuchungsansatz baut darauf auf, dass gemäß dem Neurowissenschaftler Francisco Varela3) der Mensch, der als Ganzes Autonomie besitzt, molekular aus Teilbereichen konstituiert ist, die alle auch schon Autonomie besitzen. Autonomie bedeutet etwas Lebendes im Gegensatz zu unbelebter Materie, zu natürlichen oder von Menschen geschaffenen Artefakten. Autonomie kommt überall in der Natur in zahlreichen konkreten, lebenden Formen vor. Autonomie lässt sich nicht in weitere Vorgänge präzisieren. Die Teile des Lebendigen spezifizieren sich gegenseitig zur gemeinsamen Lebensform und legen sich als Teile gleichzeitig im selben Vorgang gegenseitig fest.
Autonomie führt aber noch weiter. In unserem Nervensystem führen Sinneseindrücke zu motorischen Veränderungen, die ihrerseits als Wahrnehmung sofort wieder Sinneseindrücke hervorrufen. Der Prozess von Sinneseindruck zu Motorik und sofort wieder zurück zu Sinneseindruck, immerfort im Kreis, nennt Francisco Varela rückbezüglich. Rückbezüglichkeit ist jedoch für uns Menschen kaum fassbar, denn wir rationalisieren nach Ursache und Wirkung. Dies begrenzt unser Denken und unsere Wahrnehmung.
Das Nervensystem, so Francisco Varela weiter, ist von operationeller Geschlossenheit. Dies bedeutet, dass es zwar nach außen wahrnehmbare Ergebnisse für den Menschen hervorbringt, sich aber in seinen Einzelabläufen eben nicht nach Auslöser und Ergebnis wahrnehmbar unterscheiden lässt. Unser Nervensystem beinhaltet die autonome Geschlossenheit von Zellmembran und Zelldynamik. Die Membran ermöglicht in ihren Grenzen, dass Moleküle produziert werden, die wiederum Grenzen der Membran bilden, auch dies ein fortwährender, rückbezüglicher Kreislauf.
In der Gesamtkonstitution des Menschen sind weitere Bereiche operationeller Geschlossenheit vorhanden. Der Mensch selbst ist als Ganzes ein solcher Bereich und, wie oben aufgeführt, autonom.
Wir Menschen sind in unserem Verständnis der Autonomie und deren Vorgänge eingeschränkt. Wir versuchen normal rational unsere Welt und Umwelt, aber auch uns selbst nach Ursache und Wirkung zu erklären. Für rückbezügliche Prozesse, also ohne klärendes Ursache-Wirkung-Prinzip, ist unser Vorstellungsvermögen beschränkt. Solche Prozesse lassen sich mit dem, wie wir rational denken, nur schwer fassen. Sie sind aber äußerst bestimmend bei der Aneignung von Erkenntnissen, die, während wir sie handelnd erkennen, sich schon wieder weiterentwickelt haben. Dies macht uns das Leben und Zusammenleben schwer. Hier einige Beispiele.
Diskussionen sind rückbezüglich, wenn niemandem mehr klar ist, wer womit angefangen hat und wie und in welcher Reihenfolge die nachfolgenden Aussagen getroffen wurden. Rückbezüglich gestalten sich dann viele Dispute, wenn es darum geht, wer oder was die Ursache eines guten oder schlechten Sachverhaltes ist. Rückbezüglich wird so ein Streit um Recht haben oder Recht behalten wollen mit Argumenten, die Vergangenes beweisen, wodurch die Argumentation sofort wieder neues »Vergangenes« produziert.
Rückbezüglichkeit beziehungsweise das Verharren im Kreislauf von gesuchter Ursache und zu verantwortendem Ergebnis verursachen viel Streit und Kummer. Sie lassen Verantwortung und Vertrauen erodieren, weil Zweideutigkeit verbleibt. Sie versperren den rettenden Ausweg des »Nach-vorne-Schauens« zur Lösung des Problems. Die Gedanken sind blockiert für neues, zukunftsfähiges Handeln. Sobald sich jedoch der Mensch der rückbezüglichen Situation bewusst wird, vermag er den Kreislauf zu durchbrechen und es eröffnen sich ihm neue Räume von Denken und Handeln.
Mit der molekularen Autonomie, die von der Ebene der Zellstruktur aggregiert ist bis hinauf zum selbstbestimmten Wesen des Menschen als Ganzes, geht eine Schlussfolgerung einher, die für die weitere Betrachtung wesentlich ist.
Wir können nicht, es kann keiner von uns aus dem durch seinen Körper und das Nervensystem festgelegten Bereich heraustreten. Es gibt deshalb keine andere Welt als diejenige, die jedem durch die molekularen Prozesse in ihm, das heißt durch sein Wahrnehmen durch Sinnesorgane und durch sein Bewusstwerden, selbst vermittelt wird. Die molekularen Prozesse sind seine sensorischen und motorischen Prozesse. Einzig über diese Prozesse geht alle Wahrnehmung in unseren Körper hinein beziehungsweise als unser Verhalten hinaus. Dadurch sind wir immer gleichzeitig beobachtend und handelnd. Wir sind in dem fortdauernden rückbezüglichen Kreisprozess von Erkennen und Handeln, von Handeln und Erkennen einbezogen.
Der Kommunikationswissenschaftler Paul Watzlawick4) lehrt uns, dass alle von uns erreichten Wahrnehmungsergebnisse immer nur und ausschließlich unsere ureigenste Vorstellung von »Wirklichkeit« sind. So kommt es, dass wir uns selbst, jeder einzeln und nur für sich allein, unsere jeweils eigene »Wirklichkeit« konstruieren.
Francisco Varela beschreibt in seinem Beitrag »Der kreative Zirkel — Skizzen zur Naturgeschichte der Rückbezüglichkeit« die fundamentalen Grenzen dessen, was wir über uns und die Welt begreifen können.
Eine solchermaßen von uns jeweils selbst »erfundene Wirklichkeit« kann deshalb niemals die wahre Wirklichkeit sein. Sie ist weder das, was wir uns konstruieren können, noch etwas, was als objektiv Gegebenes verstanden werden kann. Es sind uns Menschen vielmehr gewisse Regelmäßigkeiten und Interpretationen gegeben, die aus unserer gemeinsamen Geschichte als biologische und soziale Wesen entstanden sind. Wir leben sozusagen in einer »Metamorphose von Interpretationen«, die sich — einander ablösend — scheinbar endlos wiederholen. Das hat gravierende Bedeutung für das, was wir Ethik nennen beziehungsweise schlechthin für Ethik halten.
Ethik ist die Grundlage jedes menschlichen Zusammenlebens in einer rankenden, das heißt nach Rängen geordneten sozialen Gruppe. Evolutionswissenschaftlich ist eine rankende Gruppe eine Form von Sozietät, in der sich jeder mit jedem vergleicht. Ethik fordert nun von uns Toleranz und Pluralismus sowie die Loslösung von unseren eigenen Wahrnehmungen und Werten, um Rücksicht zu nehmen auf die Wahrnehmungen anderer. Das endgültige Fazit von Francisco Varela ist, dass Ethik einerseits der Endpunkt unseres Erkennens, aber gleichzeitig auch die Grundlage unseres Erkennens ist und damit Ausgangsposition für jede unsere Erkenntnis.
Ethisches Verhalten zur Einordnung in die Gruppe ist also beim Menschen schon von Beginn an vorhanden. Es entwickelt sich nicht erst nach und nach und wäre dann »unsere Ethik«. Was sich vielmehr mit uns entwickelt, das ist unser Wissen, unser Verständnis und unser Charakter. Davon dann im Kapitel 3 mehr.
Man darf fragen, warum dieser Exkurs über unsere eigene »Wirklichkeit« denn so wichtig sei. Die Antwort dazu soll an einem Vergleich, der »Meine Wirklichkeit – Deine Wirklichkeit« genannt wird, illustriert werden.
»Meine Wirklichkeit« ist das, was ich aus meinem physischen Umfeld und meinem sozialen Milieu aufnehme und in meinem Hirnareal unter Einschluss meiner Körperaktionen und Reaktionen dazu denke, abspeichere und neu hervorhole.
»Deine Wirklichkeit« ist das, was Du aus Deinem physischen Umfeld und Deinem sozialen Milieu aufnimmst und in Deinem Hirn unter Einschluss Deiner Körperaktionen und Reaktionen dazu denkst, abspeicherst und neu hervorholst.
Meines Menschen Wirklichkeit ist deswegen nicht Deines Menschen Wirklichkeit. Die Bedeutung wird dann ganz klar, wenn man sich vor Augen führt, dass ständiges und wiederholtes gegenseitiges Abgleichen der eigenständigen Auffassung von Wirklichkeit mit den Wirklichkeiten der Mitmenschen die — die Betonung lie...

Inhaltsverzeichnis

  1. Motto
  2. Inhaltsverzeichnis
  3. Vorwort zur zweiten Auflage
  4. Erziehen und Gesellschaft - Übersicht
  5. Teil 1: Mensch und Sozietät
  6. Teil 2: Erziehen zur Freiheit
  7. Teil 3: Das Denken erweitern
  8. Quellenangaben
  9. Impressum