1 Die Schwarze Kathrin
Erinnerungen an eine sagenumwobene Fliehburg im Rouleer
Dichte Nebelschwaden krochen über den morastigen Boden des Hiesfelder Rouleers, und der Mond warf lange Schatten der Bäume, so dass der Sumpf in ein unheimliches Wechselspiel aus tiefster Dunkelheit und schemenhaft angedeuteten Konturen der Pflanzen und Bäume getaucht lag. Es war eine dunkle, schaurige Nacht des 17. Jahrhunderts im sumpfigen und kaum durchdringbaren Bruchgürtel zwischen Hiesfeld und Dinslaken, in dessen Mitte sich – geschützt durch einen Wassergraben und einer hölzernen Palisade – die alte Fliehburg befand.
Die Geräusche der Nacht waren bestimmt durch das unablässige Gluckern und Schmatzen des Moorwassers, und in der Ferne murmelte leise ein kleiner Bach, der durch das Rouleer führte.
Am Horizont näherten sich hektisch flackernde kleine Lichtpunkte, die wie an einer Perlenschnur aneinander gereiht schienen, der Fliehburg. Mit der Zeit durchschnitten dann auch weitere Geräusche die tiefe Nacht.
Es waren aufgeregte Rufe und Schreie, die lauter wurden.
Die Jagd auf die Schwarze Kathrin und ihr Bande war eröffnet!
Schwer atmend rannte Johann auf dem schmalen, kaum erkennbaren Pfad durch den Sumpf, gefolgt von den sieben weiteren Bandenmitgliedern inklusive ihrer Anführerin, der Schwarzen Kathrin. Beidseits des Weges spritzte das Moorwasser um ihre Stiefel herum auf, während die Gruppe verzweifelt versuchte, den Soldaten des Dinslakener Drosten zu entkommen.
Es ging um ihr Leben. Seit gut einem Jahr hatten sie das Land Dinslaken unsicher gemacht mit ihren Beutezügen und Überfällen, und dank der Klugheit und Verschlagenheit der Schwarzen Kathrin hatten sie nicht nur stets fette Beute bei ahnungslosen Reisenden oder wehrlosen Bauern gemacht, sondern konnten auch immer wieder den Truppen des Drosten entkommen und in eines ihrer vielen Verstecke flüchten. Sie alle wussten, was sie erwarten würde, wenn sie doch einmal gefangen genommen werden würden. Das Gefängnis im Dinslakener Kastell-Turm wäre ihre letzte Station, bevor der Henker sie hoch oben auf dem Lohberg zur Richtstätte bringen würde. Und dort oben würde das Schwert des Henkers ihrem Leben dann ein Ende setzen.
Heute Nacht war ihr Glück vielleicht verbraucht. Als die Schwarze Kathrin und ihre Männer ein Kalb von einem einsam am Rande des Hiesfelder Rouleers gelegenen Hof stehlen wollten, um es auf dem Feuer knusprig zu braten, da wollte es der Zufall, dass eine Soldatenpatrouille des Drosten in der Nähe unterwegs war. Und so war die Bande mit dem gestohlenen Kalb geradewegs in die Arme dieser Patrouille gelaufen.
Sie waren sofort geflüchtet. „Lauft ins Moor“, hatte die Schwarze Kathrin befohlen in der Hoffnung, die Soldaten würden ihnen aus Angst vor dem Sumpf nicht folgen. Doch die Soldaten blieben ihnen unablässig auf den Fersen, da sie Pechfackeln hatten, mit denen sie den morastigen Boden unter ihren Füßen ausleuchten konnten.
Gehetzt warf die Schwarze Kathrin einen Blick über ihre Schulter, während sie mit ihren Gefährten tiefer und tiefer ins Moor vorstieß. Es war ihnen gelungen, ein wenig Abstand zu ihren Verfolgern zu gewinnen, die hektischen Punkte der Fackeln waren deutlich kleiner geworden.
„Johann, wie weit noch?“, rief sie dem vorauseilenden Gefährten zu.
Johann rannte weiter, ohne sich umzudrehen. „Gleich! Gleich haben wir es geschafft! Die alte Fliehburg ist nicht mehr weit!“
Eine alte Fliehburg inmitten des ungastlichen Hiesfelder Rouleers war ihr Ziel. Nur Wenige kannten den schmalen Pfad durch das Moor bis dorthin, und wenn sie erst einmal den Wassergraben überwunden und die kleine bewegliche Stegbrücke darüber weggezogen hätten, so würde ihnen die Burg hinter den hölzernen Palisaden einem guten Schutz vor ihren Verfolgern bieten.
Hoffentlich schaffen wir es, dachte die Schwarze Kathrin verbissen. Das Laufen fiel ihr zunehmend schwerer, zu anstrengend war die Flucht über den rutschigen Morast, auf dem ihre Füße bei jedem Schritt festzukleben schienen.
Plötzlich durchdrang dunkles, aufgeregtes Bellen die Nacht.
„Oh Gott, sie haben Bluthunde!“, stieß Kathrin hervor. „Lauft schneller, die Viecher werden unsere Witterung aufgenommen haben!“
Das Rouleer befand sich südlich des Hiesfelder Dorfkerns und westlich der Höfe Eickhof, Scheelenhof und Tackenhof, wie diese Katasterkarte aus dem Jahre 1843 zeigt
Tatsächlich schien es nun, als käme das vielschichtige Stimmengewirr der Verfolger wieder näher.
„Da, da hinten ist die Burg, wir haben es fast geschafft!“, brüllte vorne Johann, doch in diesem Moment rutschte Wilhelm, der direkt hinter ihm lief, im Morast aus und schlug wie ein nasser Sack in voller Länge auf den schmalen Pfad auf. Beinahe wären die nachfolgenden Gefährten über ihn gestolpert.
„Du Narr“, zischte die Schwarze Kathrin. „Na los, so helft ihm wieder auf die Beine!“ Die Gefährten mühten sich, Wilhelm wieder nach oben zu ziehen, der schmerzverzerrt aufheulte. Als er wieder auf zwei Beinen stand, fasste er sich vorsichtig an die Seite, um erneut vor Schmerz aufzubrüllen. „Ich glaube, ich habe mir eine Rippe gebrochen!“, presste er hervor.
Diese von Enbers erstellte Katasterkarte aus dem Jahre 1736 zeigt die Lage des unmittelbar an das Rouleer angrenzenden Eickhof-Gehöftes
Das Hundegebell war nun schon bedrohlich nahe und durchmengte sich mit wütendem Knurren. „Weiter, weiter“, befahl Kathrin. „Sie sind gleich heran an uns!“
Sie rannten weiter, als gäbe es kein Morgen mehr. Eine Eule flog erschrocken von ihrem nächtlichen Ruheplatz auf einem Baum davon, als sie darunter hinweg eilten.
Das Bellen und Knurren der Hunde war jetzt ganz dicht hinter ihnen. Als Johann nach vorne blickte, erkannte er endlich die Schemen der mächtigen Erdburganlage im Sumpf. „Wir sind da! Los, über den Steg!“
Sie eilten über den schmalen Holzsteg, der über den äußeren Wassergraben der Burganlage führte, und der zu beiden Uferseiten auf beweglichen Rundhölzern ruhte. Als sie den Steg überwunden hatten, machten sich Johann und ein weiterer Gefährte sofort daran, die Brücke einzuziehen. Keinen Moment zu früh, denn schon schnellte der erste Bluthund mit wütendem Gekläffe heran. Vor dem Wassergraben stoppte er ob des für ihn unüberwindbaren Hindernisses abrupt ab, zog die Lefzen hoch und fixierte die Männer auf der anderen Seite mit tiefem, bedrohlichem Knurren.
Die Schwarze Kathrin und ihre Gefährten starrten auf das furchterregende Tier, dem sie gerade noch rechtzeitig den Steg hinweggerissen hatten.
„Hinein in die Burg!“, befahl Kathrin und eilte durch das schwere Eichentor, das den einzigen Durchlass durch die Palisade in den Innenbereich der Burg ermöglichte. Als sie alle hindurch waren, mühten sie sich, das massive Eichentor zuzustoßen. Sie ächzten und stöhnten vor Anstrengung, langsam drehte sich das Tor nach innen zu. Während sie damit beschäftigt waren, bemerkte Johann aus den Augenwinkeln heraus das tänzelnde Licht der Fackeln jenseits des Wassergrabens. Die Truppen des Drosten hatten die Burg also erreicht!
Plötzlich sirrte etwas durch die Luft, und direkt neben dem Kopf Johanns bohrte sich ein Pfeil in das Holz des Tores. Erschrocken starrte er auf den Pfeil direkt neben ihm.
„Na los“, rief die Schwarze Kathrin, „zieht das Tor zu, so zieht es endlich zu!“
Erneut sirrten Pfeile durch die Luft, die die Truppen des Drosten auf sie abgeschossen hatten, doch in diesem Moment verschloss sich das schwere Tor der Rouleersburg mit einem lauten Krachen, so dass die Pfeile auf der Außenseite einschlugen.
Erschöpft sanken die Männer und die Schwarze Kathrin an der Innenseite der Palisade zu Boden und lauschten dem Stimmengewirr ihrer Verfolger, das sich außerhalb der Burg erhoben hatte. Johann blickte die Schwarze Kathrin an. „Wir sind fürs Erste gerettet!“
„Ja“, entgegnete sie, „aber wir sitzen hier in der Falle wie die Ratten!“ Sie lächelte ihn müde an.
Er nickte. Wie lange konnten sie hier wohl aushalten? Ohne Wasser, ohne Nahrung?
„Vielleicht schaffen wir es in den frühen Morgenstunden, auf der anderen Seite der Burg unbemerkt über die Palisade zu klettern und den Graben zu durchschwimmen!“, schlug Wilhelm vor, der die gebrochene Rippe mit einer Hand zu schützen versuchte. Die Schwarze Kathrin nickte. „Ja, wir müssen es versuchen!“
Erneut sirrten Pfeile durch die Luft und schlugen an der Außenseite der Palisade ein. Und plötzlich erhellte sich die zuvor dunkle Nacht direkt über der Palisade.
Sie bemerkten sofort den Geruch brennenden Pechs.
„Brandpfeile!“, stieß Johann hervor. „Sie setzen die Palisade in Brand! Sie wollen uns ausräuchern!“
Weitere Brandpfeile bohrten sich in die Außenwand der Palisade, und bald war das Moor rund um die Rouleersburg vom flackernden Feuerschein der inzwischen in Brand geratenen Palisade erhellt. Immer dichtere Rauchschwaden hüllten die Burg ein. Bald war die gesamte Vorderseite der Palisade in Brand geraten.
Die Männer rund um die Schwarze Kathrin konnten kaum noch atmen, der beißende Rauch ließ sie heftig röcheln und trieb ihnen die Tränen in die Auge...