Tag 1 danach
Gestern ist Bea ausgezogen und das hat uns ziemlich mitgenommen. Heute sind wir den ersten Tag "zu dritt" – und es war vollkommen anders, als bei Klassenfahrten oder Schulübernachtungen.
So viele Details, so viel Routine erinnert noch an sie. Samstagmorgen – Eierkuchentag! Irgendwann hatten wir ihn als Überraschung für Mama angefangen, doch sehr schnell hatte er sich fest etabliert, auch weil Bea immer kräftig zugeschlagen hat und die drei, vier oder manchmal sogar fünf Eierkuchen mit viel Zucker und Zimt, bunten Zuckerstreuseln und Obst ihrer Figur sehr zuträglich waren, denn es waren viele, viele Kalorien, die ihren Weg in unser dünnes Mäuschen fanden.
Normalerweise brauchen wir fünf Eier und dazu passend Mehl und Milch – vor einigen Monaten hatten wir extra einen fünf-Liter-Messbecher gekauft, um diese Teigmenge vernünftig verquirlen zu können, ohne dass die Hälfte an den Wänden landet. Doch heute morgen sehen die zwei Eierchen in diesem riesigen Becher ziemlich verloren aus. Symptomatisch für unseren Zustand.
Obwohl Beas Schwester es liebt, war ein Frühstück am Couchtisch sonst die große Ausnahme, weil Bea es aus irgend einem Grund absolut nicht mochte und meist sogar die Eierkuchen boykottiert oder erst nach einem mittelschweren Zickenaufstand gegessen hat – heute ist das kein Problem.
Teller, Besteck… nein, nicht für vier Personen, denn wir sind nur noch zu dritt.
Danach der geplante Ausflug – genau das richtige, denn die Zeit in der Luft fordert den Großteil unserer Konzentration. Am Zielort für heute macht sich die fehlende Bea kaum bemerkbar, es ist ein Ausflug – und keine Routine erinnert an sie.
Als wir wieder zu Hause sind, kommen auch die Gedanken an Bea wieder durch. Es ist immer noch schwer, aber der Ausflug war die richtige Ablenkung.
Die nächsten beiden Tage sind ebenfalls verplant und das ist bestimmt auch gut so. Danach – ab Dienstag – lenkt uns (hoffentlich) die Arbeit wieder ab. Unter der Woche kam Bea sowieso immer erst Nachmittags nach Hause, tagsüber ist es also kein Unterschied zum gewohnten Tagesablauf.
Wir haben beschlossen, in zwei Wochen nach Wangerooge zu fliegen. Dort gibt es zwar keinen Spielplatz, aber dafür einen Strand nur 700 Meter Fußweg vom Flugplatz entfernt. Gerne würden wir Bea mitnehmen, aber ob das klappt? Und – ist es eine gute Idee?
Tag 2 danach
Beas Schäfchenherde, eine Gruppe Kuschelschafe, ist mit ihr ausgezogen, nur eines sitzt einsam auf unserem Sofa und wartet auf ihre Rückkehr. Ganz allein sitzt es da und erinnert uns immer wieder an sie, schaut uns fragend an: Wo ist meine Bea geblieben, was habt ihr mit ihr gemacht?
Heute passiert es auch das erste Mal: Jemand fragt uns nach Bea, so ganz unbeabsichtigt und wir verlieren nicht gleich die Fassung, auch wenn die Stimmung schlagartig leidet. Ein erster Erfolg?
Aus der Wohngruppe kommt die Rückmeldung, dass Bea einen gesunden Appetit hat – bei ihr eines der sichersten Zeichen, dass sie sich in der Gruppe wohlfühlt, denn sonst isst sie kaum mit "Fremden" zusammen. Selbst wenn wir Besuch hatten, hat Bea fast immer erst dann angefangen zu essen, wenn alle anderen fertig waren.
Ihr scheint es gut zu gehen, aber bei uns mischen sich weiterhin Schuld, Verlust, Traurigkeit und allerlei weitere einschlägige Gefühle und nicht wenige Tränen fließen. Das anklagende Schäfchen hat Recht: Wir haben sie weggegeben, sie entsorgt.
Tag 5 danach
Letzten Freitag ist Bea umgezogen, am Wochenende haben wir viel unternommen, aber seit Dienstag hat uns der Alltag wieder. Jetzt steht in der Schule die – schon länger geplante – Vorstellung der Klassenfahrt-Fotos an, natürlich mit den Kindern und wir sind uns nicht sicher, wie Bea reagieren wird, wenn wir dort auftauchen. Mama und die kleine Schwester haben sich trotzdem dorthin gewagt.
Die Rückmeldungen der Wohngruppe sind durchweg positiv. Bea hat sich sehr schnell und gut eingelebt, die Anfälle haben mit dem neuen Medikament nachgelassen und selbst ihr Fuß ist wieder in Ordnung.
Anscheinend – so sieht es derzeit aus – haben wir uns mit der Entscheidung eigentlich zu lange Zeit gelassen, die drei Monate Bearbeitungszeit der Behörden einmal außer Acht gelassen.
Bea hat jetzt den ganzen Tag über Spielkameraden um sich, isst gut, wenn auch noch mit Sonderregelungen. Wie auch häufig in der Schule und manchmal zu Hause – bei uns, in ihrem ehemaligen zu Hause – fängt sie erst an zu essen, wenn die anderen mehr oder weniger fertig sind.
Die Präsentation der Fotos verläuft problemlos. Bea ist zwar sehr aufgeregt und freut sich, Mama und ihre Schwester zu sehen, fährt danach aber freiwillig zurück in die Wohngruppe – wenn auch noch mit irritiertem Blick. Bei Mama fließen wieder Tränen.
Dennoch vermissen wir sie und auch wenn das Leben weitergeht, erinnern dennoch viele Kleinigkeiten an sie, ein Schäfchen hier, ein paar Bällebad-Bälle dort… Aber auf der anderen Seite hat die derzeitige Situation auch Vorteile und das anscheinend für alle. Oder ist das nur Wunschdenken? Bea geht es gut, ihre Schwester und wir haben uns an die Situation schon etwas gewöhnt.
Eine Woche danach
Langsam haben wir uns mit der neuen Normalität abgefunden, da klingelt das Telefon. Bea war den ganzen Samstag müde und hat ihr Bett kaum verlassen, aber erst Abends fiel die Ursache auf und zwar als die Spätschicht eine Notiz von der Frühschicht vorfand, das Beas neues Medikament (das ihre Anfälle in der letzten Woche massiv reduziert hatte) fast leer sei und nachbestellt werden muss.
Bei etwa einem halben Liter Flascheninhalt und 10ml Tagesdosis ist das schwer vorstellbar und so stellte sich schließlich schnell raus, das Bea versehentlich die Medi eines anderen Kindes bekommen hatte: Ein Beruhigungsmittel, das normalerweise viel geringer dosiert wird, als Beas Anti-Anfall-Mittel. Ein Fehler, der einfach nicht passieren darf, aber darum geht es erst einmal gar nicht, sondern um Bea.
Als die Verwechslung auffällt, ruft die Wohngruppe sofort Notarzt und Krankenwagen und Bea verbringt die Nacht im Krankenhaus, genauer gesagt, hat sie einfach durchgeschlafen.
Das Krankenhaus ruft uns Abends noch an. Bea geht es gut und sie soll, nach einer Nacht zur Beobachtung, am nächsten Tag wieder nach Hause.
Am nächsten Morgen nach dem Frühstück machen sich ihre Schwester und Papa sich auf den Weg, um sie zu besuchen. Langsam erfahren sie die Wahrheit, die doch schon ein Stück von den Aussagen des Vortags abweicht.
Bea liegt auf der Transplantationsstation, weil die Neurologie voll war. Eigentlich ist das kein Problem und es hat auch glücklicherweise niemand versucht, ihr eine neue Niere anzudrehen, aber Besuchskinder – vor allem solche im Kindergartenalter wie ihre Schwester – sind dort eigentlich gar nicht gerne gesehen, denn bei Transplantationspatienten kann fast jede kleine Kinderkrankheit oder Erkältung tödlich enden. Beas Schwester ist glücklicherweise komplett durchgeimpft und gesund, also dürfen wir doch rein.
Auf der Station fängt uns als erstes Beas Neurologe ab, noch bevor wir nach der Zimmernummer fragen können. Eigentlich ist es gar nicht seine Station und anscheinend hat er heute eigentlich noch nicht mal Dienst – kein gutes Zeichen. Immerhin bestätigt es unseren Eindruck, dass seine Patienten – zumindest Bea – nicht einfach nur Pflichtprogramm sind, sondern ihm wirklich am Herzen liegen.
Bea hatte von dem falschen Medikament die gleiche Menge bekommen, die sie von ihrem eigenen hätte bekommen müssen, die normale Dosis, mit der hyperaktive Kinder auf "normal" gebracht werden, liegt aber bei etwa 1/3 der Menge, die sie eingenommen hat. Sie ist nicht hyperaktiv, aber selbst wenn sie das Medikament regulär bekommen würde, hätte sie jetzt die dreifache Tagesdosis erhalten.
Im Prinzip könnte eine solche Menge toxisch wirken, also eine regelrechte Vergiftung auslösen, aber dafür ist sie noch zu gering gewesen – Glück gehabt. Bei einer Überdosis können auch Muskelschäden entstehen, die wurden aber bereits per Laborbefund ausgeschlossen – ein zweites Mal haben wir Glück.
Leider hat das Zeug eine weitere Nebenwirkung, die bei Bea offene Türen einrennt: Es verstärkt die Anfallstendenz massiv, wirkt also genau gegenteilig zu ihren Anti-Anfall-Medis, die ja gerade angefangen hatten, so gut zu wirken. Papa hat Beas Neurologen noch nie so besorgt um ihren Zustand gesehen – so viel zu der Information vom Vorabend.
Nachdem Bea ihren Rausch ausgeschlafen hat, zeigen sich die Nebenwirkung mit etwa 100 Anfällen pro Stunde, zudem ist sie völlig durcheinander. Außerdem hat sie auch ihre reguläre Medikation lange verweigert und das, obwohl sie ihre Medis normalerweise sogar einfordert, weil diese eben jeden Tag dazugehören.
Als wir in ihr Zimmer kommen, hatte sie sich erst vor Kurzem ihre Morgendosis geben lassen – eigentlich viel zu spät – und auch nur von einem Medikament, das zweite stand nach wie vor aus. Wenigstens hat sie zusätzlich ein Mittelchen genommen das genau wie ihr Notfall-Diazepam wirkt, nur nicht so schnell und nicht ganz so hart, aber damit – so die Hoffnung ihres Neurologen – sollten die vielen kleinen Anfälle bald erledigt sein.
Als wir endlich zu Bea gehen, erkennen wir sie erst auf den zweiten Blick. Ziemlich desorientiert sitzt sie in ihrem Bett und spielt mit Uno-Plastiksteinchen, alles sehr langsam und – selbst für ihre Verhältnisse – ziemlich unkoordiniert.
Nach dem Anruf vom Vorabend hatte Papa ein Kind erwartet, das die halbe Nacht die Schwestern wach gehalten hatte und kaum auf der Station und schon gar nicht in ihrem Bett zu halten ist, sonst wäre ihre Schwester niemals mitgekommen, aber an Aufstehen oder herumlaufen ist nicht ansatzweise zu denken. Neben Bea sitzt eine Stationsschwester, spielt mit ihr, schreibt Anfälle auf und hindert sie daran, aufzustehen, denn Stehen oder Laufen funktioniert einfach noch nicht, dafür fehlt ihr das Gleichgewicht.
Würden wir die Ursache nicht kennen, hätten wir ein sehr intensives Gespräch über Alkoholkonsum einplanen müssen. Aber das ist glücklicherweise eines der Probleme, die wir mit Bea nie hatten und wohl auch nie haben werden.
Ihr Neurologe lässt uns die Wahl: Entweder sie kommt zu uns nach Hause oder sie bleibt in der Klinik, auch wenn dort (sobald wir weg sind) eine Schwester permanent nur für sie abgestellt werden müsste. Das hatte schon heute früh für logistische Probleme gesorgt – und hätte ich damit gerechnet, wären wir mit Sicherheit viel früher da gewesen – denn das Krankenhauspersonal wird heute nicht mehr so großzügig eingeplant wie früher.
Personalintensive medizinische Notfälle sollte man in heutigen Zeiten lieber rechtzeitig ankündigen: “Hallo, Krankenhaus? Ich werde nächsten Freitag einen Herzinfakt haben. Können Sie schonmal ein Bett bereitstellen? Danke!”
In die Wohngruppe möchte ihr Neurologe sie heute noch nicht wieder lassen, denn die Mitarbeiter dort haben noch viel zu wenig Erfahrung, um Beas Anfälle in diesem Zustand einschätzen zu können. Jetzt gibt es also drei Probleme: Erstens hat Papa ein dreijähriges Kleinkind, dem schnell langweilig wird, dabei und das obwohl die große Schwester weitab von "spieltauglich" ist – eigentlich hatten wir einen ausführlichen Besuch des krankenhauseigenen Spielplatzes eingeplant. Zweitens ist der Umzug ins Krankenhaus anscheinend so plötzlich abgelaufen, dass abgesehen von ein paar Klamotten und einem ihrer Kuschel-Schäfchen nichts mitgekommen ist. Drittens muss eine Entscheidung her, wo Bea die Nacht verbringen soll.
Ganz nebenbei sind ihre Schwester und Papa auf einer Transplantationsstation natürlich vollkommen fehl am Platz, denn leicht erkältet waren wir beide in den letzten Tagen eigentlich noch, aber wenigstens das scheint sich ausreichend gebessert zu haben. Glücklicherweise reduziert sich zumindest die für Bea notwendige Aufmerksamkeit recht bald, denn das zusätzliche Medikament beginnt langsam zu wirken. Die Spielsteine werden zunehmend uninteressanter und irgendwann schafft Bea es tatsächlich, einzuschlafen – und damit auch die Anfallsserie zu unterbrechen. Ihre Schwester übernimmt die Steine und beschäftigt sich – und teilweise auch Papa – rund anderthalb Stunden richtig toll damit.
Recht schnell ist allerdings klar, dass Bea in einem Vier-Bett-Zimmer – und mit prinzipiell zu wenig Personal für eine Dauer-Wache – nicht richtig aufgehoben ist, sie muss also mit nach Hause. Medizinisch gesehen ist das die einzig richtige Entscheidung, aber emotional? Wie wird Bea dieses dauernde hin- und her verkraften, erst eine Woche Wohngruppe, dann Krankenhaus, dann zu Hause, dann Wohngruppe? Für uns ist es eher eine normale “krankes Kind”-Situation, zumal Bea gar nicht in der Verfassung ist, um Unsinn zu machen oder uns “auf die Nerven” zu gehen.
Zwei Stunden später wird sie langsam wieder wach und wir wollen nach Hause, aber bei dem plötzlichen Aufbruch in der Wohngruppe wurde leider so einiges vergessen, darunter auch so unwichtige Dinge wie eine Jacke oder Schuhe. Das ist etwas erschreckend und ungewohnt unprofessionell, so haben wir die Einrichtung eigentlich nicht kennen gelernt.
Eine freundliche Schwesternschülerin bringt uns schließlich im krankenhauseigenen Buggy zum Ausgang und passt dort auf die beiden Kinder auf, während Papa (im strömenden Regen) das Auto holt. Als das Auto da ist, wird ein Kind ins Auto tragen, das andere schmollend ins Auto geschoben, weil wir ja doch nicht beim krankenhauseigenen Spielplatz waren, obwohl Papa das vorher versprochen hatte. Dann geht es ab nach Hause. Mit Bea in diesem Zustand (und ganz nebenbei im strömenden Regen) war an den Spielplatzbesuch nicht zu denken.
Bea braucht fast die ganze Fahrt, um einen Keks zu essen, normalerweise wäre der weg gewesen, bevor wir das Klinikgelände verlassen können, aber wenigstens hat sie keinen einzigen Anfall mehr. Sie ist nicht eingeschlafen und hat keine schlimmeren Symptome gezeigt.
Zu Hause ist Papas Entscheidung gleich in Frage gestellt, denn Bea irrt ziellos und dauer-quengelnd umher. In ihrem Zustand und ohne zu wissen, ob und welche Anfälle wann wiederkommen, kann sie auch nicht alleine bleiben, also sind Mama oder Papa immer neben ihr, bereit, sie sofort aufzufangen, wenn ihr die Beine wegknicken. Normalerweise reicht es aus, sie in Sichtweite zu haben, aber heute musst es wirklich maximal eine Armlänge Abstand sein. Die Leidtragenden sind Mamas Nerven und Beas Schwester, die zurückstecken muss. Das tut uns zwar leid, lässt sich aber leider nicht ändern.
Wenigstens haben wir mit einer Vermutung recht: Gestern hat sie durchgeschlafen, heute war sie im Krankenhaus – unser Kind hat Hunger! Eierkuchen isst sie immer gerne und heute Nachmittag schafft sie vier oder fünf 22cm-Eierkuchen (oder waren es sechs?), nascht danach noch etwas Schokolade, trinkt nebenbei eine Tagesration Saft und ist am Ende erst glücklich, als es Abendessen gibt. Bratwurst mag sie auch (fast) immer und schiebt glatt noch zweieinhalb Stück nach, dazu Salat und Brot. Zwischen dem ersten Eierkuchen und dem letzten Stück Bratwurst liegen gerade einmal respektable drei Stunden.
Der Rest des Tages grenzt etwas an Bea-Ping-Pong, denn gleichzeitig auf Bea aufzupassen, Essen zu machen und sich um die anfallenden Haushaltsarbeiten zu kümmern, erfordert eine gute Kommunikation zwischen Mama und Papa – und einen häufigen Wechsel der Aufsichtsperson. Nach dem Essen ist sie wenigstens wieder sicher auf den Beinen und braucht keinen permanenten Mama- oder Papa-Schatten bei jedem Schritt, aber an Schlaf ist noch nicht zu denken.
Mama nimmt sich den nächsten Tag frei (genau passe...