Glauben heißt, das Herz geben
Dr. jur. can. Hans Müllejans/Dompropst em. Prälat, Bad Aachen
Geboren am 12. März 1929, gestorben am 5. August 2009
1. ICH BIN FROH, DASS ES MICH GIBT – Kindheit, Jugend, Krieg
2. PRIESTER SEIN AUF EWIG – Wahl des Priesterberufes
3. AUS DER BIBEL LEBEN – Das Wirken als Priester
3.1 DAS HEIL DER SEELEN IST DAS HÖCHSTE GEBOT – Die ersten Berufsjahre
3.2 DER AACHENER DOM BRAUCHT HILFE – Das Wirken als Dompropst
3.3 Es IST GOTT, DER ENTSCHEIDET, WAS GESCHIEHT – Seelsorge auf Wallfahrten
3.4 WENN JEMAND DEN PRIESTER WÜNSCHT, ICH STEHE PARAT – die a rbeit als schiffsseelsorger
3.5 DIE GNADE DES GLAUBENS MUSS TÄGLICH NEU ERBETEN WERDEN – Reflektionen über das priesterliche Wirken
4. UM DES HIMMELREICHES WILLEN – Leben im Zölibat
5. ER IST FüR MICH ALLES – Nachdenken über Gott
6. BEGEGNUNG MIT DEM LEBENDIGEN CHRISTUS – Die Beichte
7. SOHN DES LEBENDIGEN GOTTES ERBARME DICH – Das Gebet
8. ES GIBT VIEL ZU TUN – Das Hier und Heute
VORBEMERKUNG
Er hat die „Großen“ dieser Welt durch den Aachener Dom geführt: Vaclav Havel, Königin Beatrix der Niederlande, Frère Roger, Helmut Kohl, König Juan Carlos von Spanien, Francois Mitterand, Roman Herzog, Bill Clinton und viele Andere. Doch auch Touristen aus aller Welt, Familien, Mitbrüder, Ordensmänner und -frauen oder Kinder kamen in den Genuss einer Führung durch den Hohen Dom zu Aachen, wenn es der enge Zeitplan von Dr. Hans Müllejans, der hier 27 Jahre als Dompropst wirkte, erlaubte. Auch mir wird die Ehre einer individuellen Führung durch das Marienmünster zuteil, als ich in Aachen eintraf. Natürlich ist der Aachener Dom – der Dom Karls des Großen – ein kunsthistorisch und geschichtlich bedeutendes Bauwerk von europäischem Rang. Aber der seit 2004 emeritierte Dompropst Dr. Hans Müllejans legte Wert darauf, mir den Dom aus theologischer Sicht zu erschließen und ihn als ein lebendiges Gotteshaus zu zeigen. Als er 1977 zum Dompropst gewählt wurde, wünschte er sich, den Dom einmal ohne Gerüst erleben zu dürfen. Dieser Wunsch ging 2006 in Erfüllung. In seiner Amtszeit wurde das 1.200 Jahre alte Bauwerk grundlegend saniert. Dieser kleine grazile Mann hat mit seiner bescheidenen, zurückhaltenden und gütigen Art schier Unmögliches möglich gemacht: 30 Millionen Euro wurden gebraucht, um alle Reparaturen am Gebäude und auch die denkmalpflegerische Aufarbeitung von Karlsschrein, Marienschrein und Barbarossa-Leuchter ausführen zu können. Diese Summe wurde aufgebracht! Beim Dompropst Dr. Hans Müllejans liefen für das „Jahrtausendvorhaben“ alle Fäden zusammen. 27 Jahre lang war er der Spiritus Rector und der engagierte Hüter des Aachener Juwels und hat auf diese Weise nicht nur Kirchengeschichte, Kunstgeschichte, europäische Geschichte, sondern auch Aachener Stadtgeschichte mitgeschrieben.
Wir blicken gemeinsam von der Nordseite auf den Dom – die schönste Ansicht, wie er betont – und schauen damit gleichzeitig auf sein Lebenswerk, das die Stadt Aachen würdigte, indem sie ihm die Ehrenbürgerschaft verlieh. Auf diese Auszeichnung ist er stolz, denn Aachen hat bisher nur vier Ehrenbürger, und unter ihnen ist er der einzige Geistliche. Aber Dr. Hans Müllejans besitzt auch die rheinische Frohnatur, und so zeigt sich eine gehörige Portion Schalk in seinen Augen, als er mir im Verlaufe unseres Gespräches mitteilt, dass ihm viele Auszeichnungen zuteil geworden seien, nicht nur das Große Bundesverdienstkreuz und das Österreichische Verdienstkreuz für Wissenschaft und Kunst, sondern er sei auch Träger des Krüzzbrür–Ordens und der Ehrenperücke der „Lustigen Figaros“. Die Bedeutung letzterer erschließt sich wohl nur dem Aachener selbst. So muss ich nachfragen und erfahre, dass es allein in Aachen 50 Karnevalsvereine gibt, wovon einer „Die lustigen Figaros“ heißt, deren Spezialität es ist, Honoratoren mit Humor und kahlem Kopf eine Ehrenperücke zu verleihen. Eine solche besitzt also Dr. Hans Müllejans wie auch andere karnevalistische Ehrungen. Ein Priester im Karnevalstreiben? Auch das ist nur aus der rheinischen Mentalität heraus zu verstehen. Oder wo gibt es sonst – wie in Aachen – einen ökumenischen Wortgottesdienst, zu dem alle Karnevalsgesellschaften vom neuen Prinz Karneval eingeladen werden? Am Aschermittwoch findet in Aachen ein Bußgottesdienst im Dialekt – dem Öscher Platt – statt. Bei all dem war und ist der Priester Hans Müllejans „mittendrin“ gegenwärtig. Er ist der Mann für das „bunte Volkstreiben“ und er ist jemand, der sich beim Wandern in der Stille der Natur – Gottes eigentlicher Kirche – wieder sammelt. Er hat mit den Einflussreichen und Mächtigen diniert und als Schiffsseelsorger unter Deck mit den Maschinisten an der Theke gesessen. Als Dompropst stand er dem Domkapitel vor, hatte den durchstrukturierten Alltag und die Aufgaben eines Managers. Als Personalreferent war er für die Belange der eintausend Priester und kirchlichen Mitarbeiter im Bistum zuständig. Und konnte doch von einer Minute zur anderen im Beichtstuhl sitzen: ganz zugewandt den Bedürfnissen und der Not eines einzelnen Menschen, der beim Beichtvater Trost, Vergebung und Geleit sucht. Trotz aller Erfolge bei der Sanierung und Wiederherstellung des Domes bleibt ihm doch das Wichtigste: als Priester am Dom zu wirken, die Heilige Messe zu feiern, zu predigen, zu taufen, zu trauen oder den Toten das letzte Geleit zu geben. Aus dem Glauben heraus wurde ihm möglich, was er möglich machte.
Von dem Journalisten und ehemaligen Chefredakteur der „Aachener Volkszeitung“ Anton Sterzl liegt ein Buch1 vor, das die Biografie Hans Müllejans nachzeichnet und dessen Lebensleistung würdigt und einbettet in die großen Zusammenhänge von Geschichte und Gegenwart. Es entwirft das Lebensbild eines Mannes, der ein Denkmal verdient und doch noch keines ist, denn für einen Priester und schon gar für Hans Müllejans gibt es keinen Ruhestand. So steht er mitten im Aachener Leben und kommt all den priesterlichen Aufgaben nach, die er immer erfüllt hat – wenn auch heute mit etwas mehr „Luft“ zwischen den einzelnen Verpflichtungen.
August 2007
1. ICH BIN FROH, DASS ES MICH GIBT – KINDHEIT, JUGEND, KRIEG
Herr Dr. Müllejans, in welche Familie wurden Sie hineingeboren?
Ich bin aufgewachsen im katholischen Milieu. Sowohl väterlicher-, als auch mütterlicherseits waren es einfache, tiefgläubige Menschen. Meine beiden Großväter waren Handwerksmeister. Der eine war Glasbläser. Es gab hier mehrere Glashütten. Der Großvater väterlicherseits war in einem Betrieb tätig, wo Nadeln hergestellt wurden. Er war Nadlermeister. Meine Mutter stammte aus einer Familie mit 12 Kindern. Sie war von Zwölfen die Zehnte. Meine Mutter war tiefreligiös. Sie hat sich in Stolberg mit einer Handelsschulausbildung vom Lehrmädchen zur Prokuristin hochgearbeitet. Mein Vater hat an einem Polytechnicum in Bingen am Rhein Maschinenbau studiert, meldete sich 1914 freiwillig zum Kriegsdienst, wurde in Frankreich von Granatsplittern schwerstens verwundet. Er war 100% kriegsbeschädigt, hat sich aber beruflich „aufgerappelt“ und war dann schließlich als Ingenieur in einem Lokomotivwerk in der alten Herzogstadt Jülich tätig. Mein Vater war 34 Jahre alt, als er geheiratet hat. Neun Monate nach der Hochzeit erlitt meine Mutter einen Schlaganfall. Sie war zunächst völlig gelähmt und wurde durch viele Kliniken geschickt. Zum Schluss war sie noch leicht gehbehindert. Zwei Jahre später bin ich geboren worden. Wahrscheinlich bin ich deshalb das einzige Kind geblieben. Nach heutigen Vorstellungen wäre ich vielleicht gar nicht geboren worden, weil es eine Risikoschwangerschaft war. Aber ich bin sehr froh, dass es mich gibt.
Geboren bin ich 1929 in Stolberg, habe dort vier Jahre gelebt. Dann wurde mein Vater in das Reichsbahnausbesserungswerk nach Jülich versetzt. Das war 1933. In Jülich bin ich aufgewachsen. Als ich zehn Jahre alt war, brach der Krieg aus. Bis zur Invasion der Amerikaner haben wir wenig mitbekommen vom Krieg. Dann rückte die Front sehr schnell näher. Als im September 1944 die ersten Bomben auf die Stadt fielen, habe ich meine Eltern „aufgepackt“ – der Vater behindert, die Mutter behindert – und bin als 15jähriger mit ihnen auf die Flucht gegangen. Vorher habe ich noch als Schüler Panzergräben gebaut, an der Westgrenze. Wir sollten die amerikanischen Panzer aufhalten mit Schaufel und Hacke! Über verschiedene Stationen sind wir nach Bad Langensalza gekommen.
Als wir zurückkamen, war in Jülich alles zerstört. Wir sind dann in die Heimatstadt Stolberg gezogen. Dort habe ich Abitur gemacht und von dort aus Philosophie und Theologie in Bonn studiert.
Sie sagen, dass Sie in einem tief religiösen Elternhaus aufgewachsen sind. Wie haben Ihre Eltern, wie haben Sie als Kind den Glauben gelebt?
Bei meinen Eltern war das unterschiedlich. Mein Vater war liberaler eingestellt. Meine Mutter war tieffromm. Wir haben ganz selbstverständlich einen religiösen Alltag gelebt. Bei uns wurde gebetet. Meine Mutter ging jeden Tag in die Kirche zur Messe, und ich auch. Wir hatten 6.30 Uhr Messe, die ich vor der Schule besuchte. Außerdem war ich Messdiener, auch in der Kriegszeit. Politisch war es ja damals bereits die Zeit, wo die Kirche verfolgt wurde. Das haben wir aber nicht gemerkt. Ich wurde mit zehn Jahren zwangsverpflichtet in das Jungvolk, konnte aber gleichzeitig Ministrant sein. Sonntags hatten wir HJ-Appell mit Braunhemd, und über das Braunhemd habe ich dann für den Gottesdienst das Messdienergewand angezogen. Meinem Vater machte das schon ein paar Schwierigkeiten. Als es in der Schule keinen Religionsunterricht mehr gab, habe ich in der Gemeinde weiter Katechese bekommen. Nach dem Krieg habe ich dann in einer Pfarrjugendgruppe mitgemacht.
Ich hatte einen Vetter, der „jugendbewegt“ von der Vornazizeit war. Er gehörte einem katholischen Jugendverband an und hat mich stark beeinflusst. Das führte dann dazu, dass ich vor dem Abitur nicht wusste, ob ich Arzt oder Priester werden sollte.
Sind Sie in der Schulzeit als Katholik Repressalien ausgesetzt gewesen?
Nein. Als ich eingeschult wurde, war meine Schule noch eine katholische Bekenntnisschule. Die wurde dann zur Gemeinschaftsschule umgestaltet. Wir hatten auf der einen Seite streng konservative katholische Lehrer, die im Dienst geblieben waren und mich stark beeinflusst haben. Der Schulleiter war gleichzeitig der Ortsgruppenleiter der NSDAP, der uns aber nicht bedrängte.
Ein Lehrer war der Kreispropagandaleiter der NSDAP. Der wollte uns zu Antisemiten machen und hetzte uns gegen die Juden auf. Zum Beispiel fragte er: „Wessen Eltern kaufen bei Juden?“ Da habe ich mich gemeldet und habe gesagt: „Wir kaufen beim jüdischen Metzger, der hat die beste Leberwurst von ganz Jülich.“ Mir ist aber nichts passiert. Also, es war objektiv alles sehr schlimm, aber subjektiv bin ich davon gekommen. Jülich war meines Wissens zu 90% katholisch. Insofern gab es da auch eine Art Sozialkontrolle und klare moralische Auffassungen.
Hatten Sie jüdische Mitschüler?
Nein, das nicht. Aber ich werde nie vergessen: Ich war vom Kindergarten her mit einem Mädchen befreundet, und über diese Freundschaft waren sich auch unsere Eltern näher gekommen. Und ich höre noch heute, wie die Mutter meiner Freundin zu meiner Mutter sagte: „Die Familie…“ – sie nannte den Namen – „ist heute abgeholt worden.“ Dann kam der Judenstern. Diese Dinge habe ich miterlebt, aber das Ausmaß all dessen nicht gekannt.
Die katholisch-konfessionellen Lehrer haben Sie sehr geprägt. Warum?
Weil es gute Pädagogen, aber auch überzeugte Christen waren, die ihren Glauben lebten, die mit uns beteten. Auch unser Kaplan gehört da hinein. Er sagte mir damals schon: „Vielleicht steckt ein Priester in dir.“
Wie beurteilen Sie heute die Rolle des Vatikans und der katholischen Kirche in der Nazizeit?
Ebenjener Kaplan riet meinem Vater, der 1937 in einem Gewissenskonflikt stand, Mitglied der NSDAP zu werden. Für meinen Vater hingen berufliche Weichenstellungen an dieser Mitgliedschaft, aber er zweifelte sehr, denn er hatte mit dem Regime eigentlich nichts am Hut. Und dieser Kaplan sagte meinem Vater, dass der Vatikan mit Hitler ein Konkordat abgeschlossen hat, worin die Kirche geschützt und Religionsfreiheit versprochen war. Und er meinte, dass einer Mitgliedschaft in der Partei nichts im Wege stünde.
Eigentlich hat er das nicht mit gutem Gewissen sagen können, denn wer Hitlers „Mein Kampf“ gelesen hatte oder die Augen aufhielt, der hat ja mitbekommen, was das für eine Bande war. Aber als Kind habe ich das nicht durchschaut.
Wie sind Sie als Katholik in Bad Langensalza zurecht gekommen? Thüringen ist ja doch eher eine protestantische Gegend.
Ja, ich war ziemlich allein dort als Katholik. Ich habe mich bei der HJ nicht mehr gemeldet, obwohl dort noch alles mit Pauken und Trompeten lief. Aber ich habe mich beim katholischen Pfarrer vorgestellt. Ich war wieder Ministrant und habe dem Pfarrer im Lazarett geholfen, habe Verwundete gepflegt und tote Soldaten mit zu Grabe getragen… Am 30. März 1945, einem Karfreitag, habe ich sogar noch einen Einberufungsbefehl zur Waffen-SS bekommen. Aber ich bin nicht hingegangen. Einige meiner Mitschüler sind ihm gefolgt, und ich gehe davon aus, dass einige es nicht überlebt haben.
Obwohl es die letzten Kriegswochen waren, hieß Verweigern immer noch, sich in Lebensgefahr zu begeben. Was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie diesen mutigen Entschluss fassten, dem Befehl nicht zu folgen?
Den Mut hatte nicht ich, sondern mein Vater. Er hat mich kurz entschlossen versteckt. Er hörte die ausländischen Sender. So wusste er, dass die Amerikaner nicht weit von uns entfernt waren. Es konnte sich nur noch um eine Woche handeln, bis die Amerikaner in Langensalza eintreffen würden. So war es dann auch. Karfreitag kam der Gestellungsbefehl, Ostermontag waren die Amerikaner da. Ein Glück. Wenn die Feldjäger mich gefasst hätten, die hätten mich aufgehängt.
Wie haben Sie aufgenommen, dass die Amerikaner Langensalza befreit haben?
Einerseits war ich natürlich froh. Ich habe KZ-Unterlager, habe in Langensalza Gruppen von KZ-Häftlingen gesehen, die zur Arbeit getrieben wurden, habe erlebt, wie D...