Dienstag, 1. September 2015
Von der „Revolution der zärtlichen Liebe – ein Vademecum zur Familiensynode“
„Ich glaube, dass dies die Zeit der Barmherzigkeit ist“, sagte Papst Franziskus beim Rückflug vom Weltjugendtag nicht einmal ein halbes Jahr nach seiner Papstwahl. Ich habe dieses Zitat an den Anang des Vorworts dieses Buches gestellt, nachdem ich über zwei Jahre seit der Ankündigung der Familiensynode den synodalen Prozess verfolgt und in den vorausgegangenen Beiträgen Tag für Tag, Monat für Monat nachzuhalten versuchte. Und mit der in den letzten Beiträgen einbezogenen Schöpfungsenzyklika ‚Laudato si‘‘ ist noch einmal deutlicher geworden, wie sehr die theologische Botschaft von der ‚Revolu-tion der zärtlichen Liebe‘ (EG 88) von Papst Franziskus in einer Schöpfungstheologie gründet, nach der „das ganze materielle Universum […] Ausdruck der Liebe Gottes [ist], seiner grenzenlosen Zärtlichkeit uns gegenüber [...] – alles ist eine Liebkosung Got-tes.“ (LS 84)
Papst Franziskus wählte heute u.a. diese Verse für eine Lesung in einem Wortgottesdienst aus Anlass des Tages der Schöpfung, den die katholische Kirche erstmals beging.
„Die Schöpfung ist in der Ordnung der Liebe angesiedelt. […] Jedes Geschöpf ist also Gegenstand der Zärtlichkeit des Vaters, der ihm einen Platz in der Welt zuweist. Sogar das vergängliche Leben des unbedeutendsten Wesens ist Objekt seiner Liebe, und in diesen wenigen Sekunden seiner Existenz umgibt er es mit seinem Wohlwollen.“ (LS 77)
In demselben „Strom der barmherzigen Liebe“ (EG 108) gipfelt das Geheimnis der Menschwerdung und Auferstehung Jesu Christi (LS 96-100), die „kosmische Liebe“ (LS 236) in den Sakramenten – insbesondere der Eucharistie – wie das Leben der Kirche:
„Der Tragebalken, der das Leben der Kirche stützt, ist die Barmherzigkeit. Ihr gesamtes pastorales Handeln sollte umgeben sein von der Zärtlichkeit, mit der sie sich an die Gläubigen wendet; ihre Verkündigung und ihr Zeugnis gegenüber der Welt können nicht ohne Barmherzigkeit geschehen“. (MV 10)
Wie sehr die beiden Begriffe ‚Barmherzigkeit und Zärtlichkeit‘ für Papst Franziskus innerlich verbunden sind und sich wechselseitig erschließen, wird in den zurückliegenden Ansprachen und Veröffentlichungen immer deutlicher – auch wenn der letztgenannte, von Papst Franziskus oft gebrauchte Begriff der ‚zärtlichen Liebe‘ für unsere mitteleuropäischen Verhältnisse ungewohnt klingt und sicher das durchschnittliche kirchenamtliche Sprechen und Denken in den deutschsprachigen Diözesen eher noch nicht erreicht hat. Doch bietet gerade dieser Begriff der ’Zärtlichkeit‘ einen Zugang zum Vollsinn des Begriffes ‚Barmherzigkeit‘. In seiner Predigt in der Christmette 2014 drückte Papst Franziskus dies in folgender Weise aus:
„[E]s ist die Liebe, mit der er in jener Nacht unsere Schwachheit, unser Leiden, unsere Ängste, unsere Sehnsüchte und unsere Grenzen angenommen hat. Die Botschaft, auf die alle warteten, das, wonach alle tief innerlich suchten, war nichts anderes als die Zärtlichkeit Gottes: Gott, der uns mit einem von Liebe erfüllten Blick anschaut, der unser Elend annimmt, Gott, der in unser Kleinsein verliebt ist.
Wenn wir in dieser Heiligen Nacht das Jesuskind betrachten, wie es gleich nach der Geburt in eine Futterkrippe gelegt wird, sind wir zum Nachdenken eingeladen. Wie nehmen wir die Zärtlichkeit Gottes an? Lasse ich mich von ihm erreichen, lasse ich mich umarmen oder hindere ich ihn daran, mir nahe zu kommen. „Aber ich suche doch den Herrn“, könnten wir einwenden. Das Wichtigste ist allerdings nicht, ihn zu suchen, sondern zuzulassen, dass er mich findet und mich liebevoll streichelt. Das ist die Frage, die das Christuskind uns einzig mit seiner Gegenwart stellt: Lasse ich zu, dass Gott mich lieb hat?“ (Predigt in der Christmette 2014)
Das ist die Kernaussage des Evangeliums, der Frohen Botschaft, auch wenn wir sie uns nicht häufig genug sagen können und müssen – und gerade auch den Begriff ‚zärtlich‘ immer wieder verwenden, damit er nicht nur von Papst Franziskus gesagt wird und damit letztlich doch nicht hier bei uns angekommen ist, überhört wird, ‚unerhört‘ bleibt. Für Papst Franziskus ist es eindeutig, dass eine Mystik der überfließenden Liebe Grundlage ist für die Zukunft der Kirche und nicht minder für die Zukunft der Welt. Schon in der Schöpfungsenzyklika wies er auf die Bedeutung dieser Spiritualität hin:
„Denn es wird nicht möglich sein, sich für große Dinge zu engagieren allein mit Lehren, ohne eine ‚Mystik‘, die uns beseelt, ohne ‚innere Beweggründe, die das persönliche und gemeinschaftliche Handeln anspornen, motivieren, ermutigen und ihm Sinn verleihen‘.(EG 261)“ (LS 216)
Und wie Papst Franziskus schon in der Schöpfungsenzyklika die Kohärenz einer solchen Schöpfungsspiritualität mit einer offenherzigen Liebe allen Menschen gegenüber ebenso voraussetzt wie anmahnt, dürfen wir dies auch als Vorhersage für die pastoralen Leitlinien und theologischen Lehraussagen der kommenden Bischofssynode lesen:
„Ein Empfinden inniger Verbundenheit mit den anderen Wesen in der Natur kann nicht echt sein, wenn nicht zugleich im Herzen eine Zärtlichkeit, ein Mitleid und eine Sorge um die Menschen vorhanden ist.“ (LS 91)
Diese Zuwendung zu den Menschen bis zu den „existentiellen Peripherien“ gründet für Papst Franziskus aber nicht in einem moralischen Imperativ, sondern in einer positiven Beschämung: in der Widerfahrnis, zärtlich geliebt, ja gestreichelt zu sein und darin mitgerissen zu werden in einem wahren ‚Fluss der Barmherzigkeit‘ (Instrumentum laboris 106).
Erst aus der Beschämung, von Gott in meinem Kleinsein geliebt zu sein, folgen für Papst Franziskus in seiner Weihnachtspredigt die Sätze, die auch als Leitfragen zu Beginn der Schlussetappe der Familiensynode stehen können:
„Gehen wir noch einen Schritt weiter: Haben wir den Mut, mit Zärtlichkeit die schwierigen Situationen und die Probleme des Menschen neben uns mitzutragen, oder ziehen wir es vor, sachliche Lösungen zu suchen, die vielleicht effizient sind, aber der Glut des Evangeliums entbehren? Wie sehr braucht doch die Welt von heute Zärtlichkeit!
Und in der Ankündigungsbulle des Jahres der Barmherzigkeit setzt Papst Franziskus fort:
„Wie sehr wünsche ich mir, dass die kommenden Jahre durchtränkt sein mögen von der Barmherzigkeit und dass wir auf alle Menschen zugehen und ihnen die Güte und Zärtlichkeit Gottes bringen! Alle, Glaubende und Fernstehende, mögen das Salböl der Barmherzigkeit erfahren, als Zeichen des Reiches Gottes, das schon unter uns gegenwärtig ist. (MV 5)
Von dieser Botschaft wird auch die Familiensynode getragen sein, wenn Sie sich den vielen Fragen zuwendet, die als neue Herausforderungen in der weltweiten Befragung identifiziert wurden und nach einer neuen pastoralen Aufmerksamkeit verlangen: die vielen vorehelichen Partnerschaften und Freundschaften, die nicht einfach nur als Sünde angesehen werden, die wiederverheiratet Geschiedenen, die ihr Leben weder für sich noch vor ihren Kindern als auf immer fortbestehende Todsünde betrachten, wie Menschen mit homosexueller Orientierung, die auch in ihrer sexuellen Veranlagung Gottes Schöpferwillen am Werke sehen.
Eins steht schon jetzt fest: Wenn die diesjährige Bischofssynode – etwa unter Aufnahme der oft genannten theologischen Schlüsselbegriffe der ‚Analogie‘, der ‚Gradualität‘, mit der Rede von ‚Semina verbi‘ oder ‚Wachstumsstufen der Freundschaft‘ – ein Erfolg wird, wird sie geprägt sein von einer Spiritualität, die nahe am ‚Herzschlag der Zeit‘ ist.
Papst Franziskus hat in der Schöpfungsenzyklika deutlich gemacht, dass es keine wirkliche ‚ökologische Umkehr‘ und Schöpfungsverantwortung geben könne, wenn sie nicht auch durchzogen ist von einer tiefen Schöpfungsspiritualität und Mystik (vgl. LS 216). Dasselbe ist auch bezogen auf die genannten, vielfältigen Herausforderungen unserer Zeit zu sagen. Ohne eine Spiritualität der Barmherzigkeit, ohne eine ‚Revolution der zärtlichen Liebe' (EG 88), werden wir die Menschen von heute nicht mehr erreichen. Nur in barmherziger Liebe und Zärtlichkeit, die über den Buchstaben des Gesetzes hinausgeht, die größere Liebe einbezieht, und darin das Gesetz erfüllt (vgl. MV 21), wird die Kirche auch als Grundsakrament dieser Liebe wahrgenommen werden. „Kirche überlebt“, wie das gerade erschienene Buch von Kardinal Marx überschrieben ist. Denn die Zeit der Barmherzigkeit ist jetzt!
„Ich glaube, dass dies die Zeit der Barmherzigkeit ist!“ (Papst Franziskus beim Rückflug vom Weltjugendtag am 28.7.2013)
Dienstag, 29. September 2015
Countdown zur Familiensynode über ‚Die Berufung und Mission der Familie in der Kirche in der modernen Welt‘
Am 4. Oktober beginnt die mit Spannung erwartete XIV. Ordentliche Generalversammlung der Bischofssynode als Abschluss eines zweijährigen, die gesamte Weltkirche einbegreifenden, synodalen Prozesses. Der Beginn fällt zugleich auf den Gedenktag des Hl. Franziskus von Assisi, von dem der damalige Papst Innozenz III. träumte, dass er das Haus der Kirche stützen und wieder aufrichten würde.
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Der Traum Papst Innozenz III.; Basilika San Francesco, Assisi
Auch Papst Franziskus – nach der vom Erzbischof von Havanna, Kardinal Jaime Ortega, mit Genehmigung des Papstes veröffentlichten Ansprache aus dem Vorkonklave – wurde gewählt aufgrund seiner die Kirche aus einer Trance nach Vatileaks, Korruptions- und Missbrauchsskandalen aufrüttelnden Analyse, dass ihm scheine, dass Christus in demselben Haus der Kirche heute „von innen klopft, damit wir ihn herauskommen lassen.
Die egozentrische Kirche beansprucht Jesus für sich drinnen und lässt ihn nicht nach außen treten. Die um sich selbst kreisende Kirche glaubt – ohne dass es ihr bewusst wäre – dass sie eigenes Licht hat. Sie hört auf, das ‚Geheimnis des Lichts‘ zu sein, und dann gibt sie jenem schrecklichen Übel der ‚geistlichen Mondänität‘ Raum [… in der] die einen die anderen beweihräuchern.“
Was den zu wählenden Papst angeht, plädierte der heutige Papst für eine Person, die „aus der Betrachtung Jesu Christi und aus der Anbetung Jesu Christi der Kirche hilft, an die existenziellen Enden der Erde zu gehen, der ihr hilft, die fruchtbare Mutter zu sein, die aus der ‚süßen und tröstenden Freude der Ver-kündigung‘ lebt.“ Diese viele Kardinäle beindruckenden Worte aus dem Vorkonklave – noch bevor der damalige Kardinal Bergoglio wusste, dass die Wahl auf ihn fallen und er den Namen Franziskus annehmen würde – lesen sich im Blick auf den bisherigen synodalen Prozess wie eine Kurzfassung der auf dem zurückliegenden Weg veröffentlichten Dokumente und ebenso als Einleitung zu der in den nächsten Wochen folgenden Schlussetappe der Familiensynode über „Die Berufung und Mission der Familie in der Kirche in der modernen Welt“.
Sonntag, 4. Oktober 2015
Die Sendung der Kirche in Wahrheit und Liebe: Die Eröffnung der XIV. Ordentlichen Bischofssynode 50 Jahre nach der Einsetzung dieses synodalen Beratungsgremiums in Folge des II. Vatikanischen Konzils
Nach der gestrigen Vigilfeier mit mehreren Zehntausenden Menschen und Familien auf dem Petersplatz hat heute mit dem Eröffnungsgottesdienst die XIV. Ordentliche Generalversammlung der Bischofssynode zum Thema „Die Berufung und Mission der Familie in der Kirche in der modernen Welt“ begonnen.
In der Predigt des Eröffnungsgottesdienstes, in der sich Papst Franziskus mehrfach ausdrücklich in die Tradition seiner Vorgänger im Papstamt stellte, spannte der Papst, von den Lesungstexten der Schöpfungsgeschichte (Gen, 2, 18-24) und des Markusevangeliums (Mk 10, 2-16) ausgehend, einen weiten Bogen von Gottes Traum der Liebe mit den Menschen bis hin zu der Aufgabe der Kirche, die Menschen durch alle Phasen ihres Lebens in Barmherzigkeit zu begleiten. Die Sendung der Kirche in Wahrheit und Liebe bildeten die beiden Fokusse seiner die Aufgabenstellung der Synode wie in einem Brennglas verdichtenden Auslegung: Die Treue zur Botschaft,
„die sich nicht mit den flüchtigen Moden oder den herrschenden Meinungen ändert. In der Wahrheit, die den Menschen und die Menschheit vor der Versuchung der Selbstbezogenheit schützt und davor, die fruchtbare Liebe in sterilen Egoismus und die treue Verbundenheit in zeitweilige Bindungen zu verwandeln. »Ohne Wahrheit gleitet die Liebe in Sentimentalität ab. Sie wird ein leeres Gehäuse, das man nach Belieben füllen kann. Das ist die verhängnisvolle Gefahr für die Liebe in einer Kultur ohne Wahrheit« (Benedikt XVI., Enzyklika Caritas in veritate, 3).“
Mit diesen Gedanken verstärkt Papst Franziskus sein Plädoyer für eine „authentische Liebe“, eine „völlige Hingabe“ und „schenkende Selbstlosigkeit“ („im Licht der Torheit der schenkenden Selbstlosigkeit der österlichen Liebe Jesu“), die nicht einfach nur eine „Utopie der Jugend“ sei, „für immer einander zu lieben“. Zugleich verliert er die hinter dem darin angesprochenen Ideal und dem ursprünglichen Schöpfungsplan zurückbleibenden oder -gebliebenen Menschen nicht aus dem Blick, deren Schicksale die Synode nicht minder in der heutigen Zeit ansprechen will, will die Kirche ihrer Sendung der Liebe und Barmherzigkeit treu bleiben.
„Die Sendung der Kirche zu leben in der Liebe, die nicht mit dem Finger auf die anderen zeigt, um sie zu verurteilen, sondern – in Treue zu ihrem Wesen als Mutter – sich verpflichtet fühlt, die verletzten Paare zu suchen und mit dem Öl der Aufnahme und der Barmherzigkeit zu pflegen; ein „Feldlazarett“ zu sein mit offenen Türen, um jeden aufzunehmen, der anklopft und um Hilfe und Unterstützung bittet; aus der eigenen Einzäunung herauszutreten und auf die anderen zuzugehen mit wahrer Liebe, um mit der verletzten Menschheit mitzugehen, um sie mit einzuschließen und sie zur Quelle des Heils zu führen. Eine Kirche, die die Grundwerte lehrt und verteidigt, ohne zu vergessen, dass »der Sabbat … für den Menschen da [ist], nicht der Mensch für den Sabbat« (Mk 2,27), und dass Jesus auch gesagt hat: »Nicht die Gesunden brauchen den Arzt, sondern die Kranken. Ich bin ...