Intelligenz und Intelligenzmessung
Intelligenz, gesehen als geistige Begabung ist ein Faktor des individuellen Bewußtseins.
Das intellektuelle Potenzial eines Menschen entwickelt sich mit seinem Bewußtsein, und zwar auf der Basis einer genetisch bedingten individuellen Intelligenzfähigkeit, an dessen Entwicklung während der Ontogenese dieselben Faktoren beteiligt sind wie bei der Entwicklung des individuellen Bewußtseins. Die Ausbildung der Intelligenz eines Menschen erfolgt zusammen mit der Ausbildung seines Bewußtseins, d.h. im Prozeß der Wechselwirkung von Anlagefaktoren und Umweltbedingungen.
Welcher Anteil dabei der Vererbbarkeit zukommt, ist umstritten. So veranschlagen einige Forscher die Vererbbarkeit der (mittels IQ-Test gemessenen) Intelligenz mit nicht weniger als 80%16. Andere Forscher, die sich auf dieselben Daten berufen, aber von anderen Voraussetzungen ausgehen, räumen der Vererbbarkeit nur einen Anteil von 0% bis 20% ein. "Die gewöhnlich zitierten Schätzungen liegen zwischen dreißig und fünfzig Prozent."17
Während die Faktoren, die die Intelligenz bestimmen, zugleich auch Bewußtseinsfaktoren sind, ist Intelligenz (im Sinne eines Sammelbegriffs für verschiedenartige Begabungen) als eigener Faktor anzusehen, der entscheidend an der Entwicklung des menschlichen Bewußtseins mitwirkt.
Ein wesentliches Merkmal des individuellen Bewußtseins ist seine strukturelle Einmaligkeit. Dasselbe Merkmal charakterisiert auch den Bewußtseinsfaktor Intelligenz18.
Intelligenz äußert sich im Verhalten des Subjekts und darf deshalb als Verhaltenspotenz bzw. als Komplex von Vermögenspotentialen verstanden werden, die sich durch eine große individuellen Variabilität auszeichnen.
Es ist deshalb kein Wunder, daß man sich mit dem Intelligenzbegriff nicht weniger schwer tut als mit dem Bewußtseinsbegriff, was schon die Vielzahl der kursierenden Definitionen beweist. Das übrigens zur Vermutung Anlaß gibt, als gäbe es so viele Intelligenzdefinitionen, wie es Menschen gibt, die sich mit Fragen der Intelligenz aus beruflichen oder sonstigen Gründen beschäftigen.
Aus der Fülle der Definitionsbemühungen seien zwei herausgegriffen, zunächst die von Karl Jaspers (1948, S. 96):
"Das Ganze aller Begabungen, aller Werkzeuge, die zu irgendwelchen Leistungen in Anpassung an die Lebensaufgaben brauchbar sind und zweckmäßig verwendet werden, nennen wir Intelligenz. Von der Einschränkung der Produktivität bei lebhafter reproduktiver Intelligenz führen Reihen abnehmender Begabung über Dummheit und Beschränktheit zu tiefen Graden des Schwachsinns. Man nennt die leichten Grade Debilität, die mittleren Imbezillität, die schweren Idiotie. Es handelt sich um eine ärmliche Entwicklung des Seelenlebens in allen Richtungen, um eine Differenziertheit, die als Variation menschlicher Veranlagung nach der unterdurchschnittlichen Seite hin begriffen werden kann. Auf den tieferen Stufen ähnelt das Seelenleben immer mehr dem tierischen. Bei guter Entwicklung der zum Leben nötigen Instinkte bleibt alle Erfahrung doch im sinnlichen Einzelerlebnis stecken, es wird nichts hinzugelernt, es werden keine Begriffe erfaßt, daher kein bewußt planmäßiges Handeln ermöglicht. Bei dem Fehlen allgemeiner Gesichtspunkte sind diese Menschen erst recht unfähig zum Aufschwung von Ideen und verbringen ihr Dasein im engsten Horizont ihrer zufälligen sinnlichen Tageseindrücke. Doch zeigt sich auf der tiefsten wie auf der höchsten Stufe menschlicher Differenziertheit, daß die Begabung kein einheitliches Vermögen, sondern eine Mannigfaltigkeit vieler ungleich entwickelter Fähigkeiten ist. So fallen Imbezille oft durch Anstelligkeit in bestimmten Richtungen oder sogar durch geistige Fähigkeiten, wie Rechentalent, oder durch einseitiges Verständnis und Gedächtnis für Musik auf."
Die zweite Begriffsbestimmung stammt von Kloos (1952, S. 24) und ist ganz bewußt auf praktische Bedürfnisse abgestellt:
"Als Intelligenz (geistige Begabung) bezeichnet man die Fähigkeit zur zweckmäßigen Lösung der Lebens- und Berufsaufgaben. An der Art der Aufgaben, die ein Mensch geistig zu bewältigen vermag, ermißt man seinen Intelligenzgrad (die geistige Entwicklungshöhe) und seine Intelligenzrichtung (die Sonderbegabungen oder Talente, z.B. für Mathematik, Sprachen usw.). Das Mittel, dessen man sich zur Lösung von Aufgaben bedient, ist in erster Linie das Denken. Intelligenz ist also im wesentlichen Denkfähigkeit. Man meint damit vor allem die allgemeine geistige Leistungsfähigkeit, ungeachtet einzelner Teilbegabungen oder Begabungslücken für bestimmte Gebiete. Unter dem Denken versteht man die gesamte Verstandestätigkeit: die Erkennung des Wesentlichen (Begriffsbildung, Abstraktion), die Erfassung von Beziehungen, die Trennung (Analyse) und Verknüpfung (Synthese, Kombination) von Vorstellungen und Begriffen, das Schlußfolgern und Urteilen (Stellungnehmen).
Den Stoff, mit dem das Denken arbeitet, liefert das Gedächtnis (die Erinnerungs- und Merkfähigkeit). Ohne das bereitliegende Gedächtnisgut an Kenntnissen und Erfahrungen wäre das Denken leer, Form ohne Inhalt. Auch der Zusammenhalt mehrgliedriger Denkvorgänge ist vom Gedächtnis abhängig...Es gibt Gedächtnisleistungen ohne Intelligenz aber keine Intelligenzleistungen ohne Gedächtnis. Dieses ist also eine Vorbedingung der Intelligenz. 'Ein Kopf ohne Gedächtnis ist wie eine Festung ohne Soldaten' (Napoleon).
Die geistige Leistungsfähigkeit hängt aber nicht nur vom Denkvermögen, sondern auch von zahlreichen Gefühls- und Willenseigenschaften, also von charakterologischen Bedingungen, z.B. von der Aufmerksamkeit (Interessiertheit), Grundstimmung, Antriebslage; Ausdauer, Ermüdbarkeit, Anspruchshöhe, Ablaufgeschwindigkeit seelischer Vorgänge usw. Am Aufbau der Intelligenz sind somit, wie schon eingangs betont, nicht nur Verstandesanlagen beteiligt.
Das wichtigste 'Werkzeug' der Intelligenz ist die Sprache. Begriff und Wort, Denken und Sprechen sind so eng miteinander verbunden, daß eine scharfe Trennung überhaupt nicht gelingt. Erst das sprachlich formulierte Denken ist klar, und jede höhere Geistesentwicklung ist an die Sprachentwicklung gebunden. Mit der sprachlichen Ausdrucksfähigkeit prüft man somit schon weitgehend die Intelligenz selbst. Die gelegentlich laut werdende Forderung, daß eine Intelligenzprüfung den Weg über die Sprache möglichst umgehen sollte, ist daher zum mindesten überspitzt und praktisch kaum durchführbar. Ein Prüfling, der sich nicht ausdrücken kann, hat gewöhnlich auch nichts auszudrücken, jedenfalls nichts klar Gedachtes."
Der Versuch einer Begriffsbestimmung der Intelligenz erfordert offensichtlich die Interpretation und Verarbeitung eines komplizierten psychologischen Sachverhalt, so daß eine kurze und prägnante Formulierung unmöglich erscheint und Definitionsversuche in der Regel voneinander abweichen. Übereinstimmung scheint jedoch in der allgemeinen Aussage zu bestehen, daß Intelligenz ein Vermögen ist, das zur Optimierung der individuellen Anpassung, insbesondere zur Erfassung und Bewältigung unvorhergesehener neuer Situationen und Umweltänderungen sowie zur Problemlösung überhaupt, verhilft.
Angesichts der Unmöglichkeit, das Phänomen Intelligenz befriedigend zu bestimmen, ist es sicher nicht unproblematisch, Intelligenz in einzelne Faktoren zu zerlegen und diese auf ihre Leistungsfähigkeit zu testen. So versucht man bereits seit Anfang dieses Jahrhunderts mit verschiedenen Tests, den "Intelligenzquotienten" (IQ) von Menschen zu messen. Meist sind die "Seelenvermesser" davon überzeugt, man könne mit Hilfe des IQ Menschen auf einer Skala einordnen. Wer dabei mehr als den Wert 115 erreicht, gilt als intelligent, wer unter 85 kommt, bewegt sich bereits in der Zone des Schwachsinns. Der amerikanischen Psychometriker L.L.Thurstone19 geht beispielsweise von sieben mentalen Fähigkeiten aus, die verhältnismäßig unabhängig voneinander und durch entsprechende Aufgaben meßbar seien. Thurstone nennt sieben solcher Fähigkeiten: Wortverständnis, Sprachgewandtheit, arithmetisches Geschick, Raumvorstellung, assoziatives Gedächtnis, Wahrnehmungsgeschwindigkeit und Urteilsvermögen.
Es gibt eine ganze Reihe unterschiedlicher Meßmethoden, denen in der Regel gemeinsam ist, daß sie gemäß den Wünschen bestimmter Auftraggeber zugeschnitten sind, mit der Absicht, für einen umrissenen Aufgabenbereich geeignete Menschen auszusieben. Als Beispiel sei der von einem deutschen Institut entwickelte "POKO-Test"20 genannt, bei dem die Verfasser meinen, sie könnten allein anhand von Lochbildern, Zahlenfeldern, grafischen Analogien, Satzergänzungen, Logik-Aufgaben usw. den Intelligenzgrad eines Menschen durch Prozentrangwerte angeben, die sie auf fünf Leistungskategorien beziehen. Bemerkenswert ist bei diesem Test, daß "Leistungsmotivation" und "Streßstabilität" als gesondert meßbare Intelligenzfaktoren definiert sind, was ja bedeutet, daß die dem Test zugrundeliegende Theorie u.a. auch Äußerungen des Vegetativums als zur Intelligenz gehörig zählt.
Dagegen ist wohl nichts zu sagen, liegt doch dieses Verständnis von Intelligenz der eigentlichen Natur des Phänomens gar nicht so fern. Das entspricht im großen und ganzen auch der Auffassung Kloos, der zwar in seiner Definition die Bedeutung der Denkfähigkeit im Zusammenhang mit der Gedächtnisleistung hervorhebt, jedoch gleichfalls einräumt, daß am Aufbau der Intelligenz nicht nur Verstandesanlagen sondern auch "zahlreiche Gefühls- und Willenseigenschaften" beteiligt seien. Eine Einsicht, die kaum verwundert, berücksichtigt sie doch, daß aufgrund des komplizierten Zusammenwirkens sämtlicher Bewußtseinsebenen und -bereiche bei sämtlichen Lebensäußerungen auch kein Denkakt von vegetativen Einflüssen und affektiven Begleitregungen frei sein kann.
Intelligenz als Teilfunktion des individuellen Bewußtseins kann sich naturgemäß nur durch Äußerungen zeigen, die in Form von Handlungen wahrnehmbar werden. Deshalb bleibt dem Tester auch keine andere Wahl, als der Testperson solche Handlungen abzuverlangen, die nach Maßgabe der jeweiligen Theorie die besten Rückschlüsse auf den Intelligenzgrad des Getesteten erlauben. Anhänger der Theorie, die wie Kloos Intelligenz im wesentlichen als Denkfähigkeit interpretieren und Sprache als deren Äußerungsform, als "das wichtigste 'Werkzeug' der Intelligenz" sehen, neigen verständlicherweise dazu, Intelligenz vorrangig mittels ausgeklügelter Arrangements sprachlicher Handlungen zu prüfen. Diese Sichtweise läßt sich nach neueren Erkenntnissen nicht aufrechterhalten, zumal es eine ganze Reihe intelligenter Handlungen gibt, die mit Sprache nichts oder nur wenig zu tun haben, man denke z.B. an das Spielen eines Musikinstruments. Moderne Intelligenzmeßverfahren versuchen dem gerecht zu werden und stellen heute auch Aufgaben, die nonverbaler Natur sind, wie beispielsweise Lochbilder und grafische Analogien, was aber nicht verhindert, daß sie aufgrund ihres rein pragmatischen Zuschnitts gezwungen sind, in einem eng umrissenen Begriffsfeld zu bleiben, das weite Bereiche intelligenten Verhaltens ausschließt. So werden etwa charakterliche Eigenschaften, moralische Einstellungen, intuitive Begabung, Phantasietätigkeit, körperlich-kinästhetische Fähigkeiten oder ästhetische Sensibilität nirgendwo hinreichend berücksichtigt, vermutlich wohl deshalb, weil keine dieser Eigenschaften je definitorisch festzulegen ist.
Gegen die Versuche, Intelligenz zu messen, wäre nichts einzuwenden, solange damit lediglich private Interessen oder Vorlieben verfolgt würden, erheben sie aber den Anspruch der wissenschaftlichen Unfehlbarkeit, was sie zum großen Teil ja tun, wird die Sache gefährlich, weil sie nämlich in der praktischen Anwendung auf eine Art Brandmarkung hinausläuft, die unter Umständen sogar den ganzen weiteren Lebensweg eines Menschen bestimmen kann.
Auch wenn die Ansichten darüber, was Intelligenz nun wirklich sei, weit auseinandergehen, wird niemand die Tatsache bestreiten, daß sich die Menschen in ihren mentalen Fähigkeiten nicht weniger voneinander unterscheiden als in ihren Physiognomien. Diese Meinung vertritt auch Karl Jaspers und wird von Kloos indirekt bestätigt. Intellektuelle Qualitäten reichen von den tiefsten Graden des Schwachsinns bis zu den Höhen einsamer Genialität, vom Unvermögen, sein tägliches Leben einigermaßen zufriedenstellend zu gestalten, bis zum ausgeprägten Geschick, jede Situation zu seinem Vorteil zu nutzen, von autistischer Enge, bis zum weiten Horizont überschauender Weisheit. Einen Menschen definitiv auf einer Intelligenzmeßskala einzuordnen, ist schlechterdings nicht möglich, weil schon die angelegten Beurteilungskriterien größtenteils willkürlich ausgesucht sind, ihnen in jedem Falle viel Ungewisses anhaftet und sie in der Regel der Vollständigkeit sowieso entbehren.
Intelligenz gilt heute, darüber scheint man sich einig zu sein, als Bewußtseinsfaktor, der, wie das Bewußtsein selbst, im Laufe eines Lebens im Wechselspiel von Anlage und Außenweltreize zur Ausbildung gelangt und insofern als Resultat eines individuellen Schicksals zu verstehen ist. Und so verschieden wie Schicksale nun mal sind, so verschieden formieren sich auch Intelligenzen und intellektuelles Leistungsvermögen. Wegen dieser Mannigfaltigkeit und der Schwierigkeit, objektive Anhaltspunkte zu finde...