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Nebelmond
Nebelmond
Nebelmond
Anais C. Miller
Impressum:
Text: Anais C. Miller
Cover: @ Pixaby
Printed in Germany 2017
Die Geschichte von Nebelmond erzählte ich eines Tages meiner Tochter Jill. Sie mochte sie unheimlich gern hören. Manchmal hatte sie Tränen in den Augen, wenn ich ihr von der Stute „Nebelmond“ berichtete. Meine Geschichte war ausgedacht, aber das sagte ich meiner Tochter nicht…Heute erzähle ich die Geschichte für Euch. Und ich hoffe, Ihr schließt sie ebenso ins Herz, wie es einst meine Jill tat. Eine Geschichte, die vom Leben, dem Tod und von der Liebe erzählt. Eine Geschichte, die eigentlich aus dem Leben gegriffen sein könnte, denn vieles an ihr ist wahr und einige Dinge, von denen ich erzähle, spielen sich überall dort, wo sich Menschen & Tiere begegnen, tatsächlich ab…
Anais
Ein Pferd kannst du nicht zwingen, etwas für dich zu tun. Du kannst es lediglich darum bitten.
Die Pferde wurden von den Männern eng zusammengepfercht. Auf dem LKW war die Luft stickig und die Tiere konnten kaum atmen. Der Geruch von Ammoniak lastete schwer auf ihre Lungen. Ängstliches Wiehern, aufgeregtes Schnauben, weit aufgerissene panische Augen. Die Pferde wussten nicht, wie ihnen geschah. Einige von ihnen schlugen aus. Aus purer Verzweiflung traten sie in Panik nach ihren Nachbarpferden. Eines der Tiere lag bereits am Boden und schien so geschwächt, dass es von alleine nicht mehr aufstehen konnte. Ängstlich wieherte es. Es war noch nicht sehr alt, wahrscheinlich ein Fohlen, das frisch von seiner Mutter getrennt worden war. Sein Hinterbein war gebrochen. Regungslos und steif lag es am Boden. In dem Kot und Urin der anderen Pferde. Hilflos war es den Angriffen der Pferde ausgeliefert. Das kleine Fohlen hatte sich bereits aufgegeben, es zeigte keinerlei Lebenswillen mehr.
Pferde treten von Natur aus niemals ein am Boden liegendes Lebewesen. Sie sind besonders bedacht, es nicht mit ihren Hufen zu verletzen. Auf dem LKW, auf dem die Schlachtpferde ihre lange, letzte Fahrt antreten sollten, blieb ihnen keine andere Möglichkeit, als auf das kleine hilflose Geschöpf einzutreten. Aus purer Platznot trampelten sie auf ihm herum. Zum Ausweichen blieb ihnen kein Platz. In ihrer Nervosität achteten sie nicht auf das am Boden liegende Fohlen. Immer mehr Pferde wurden in den Schlachttransporter von den Männern aufgeladen und die steile Verladerampe unbarmherzig hinaufgetrieben. Dies geschah von den Männern äußerst brutal und rücksichtslos. Ihnen war es egal, ob eines der Pferde auf der glitschigen Rampe ausrutschte oder gar nicht erst hinauf wollte, weil es den Geruch von „Angst“ und „Tod“ bereits gewittert hatte. Pferde riechen den Tod, so sagt man. Die Männer waren ohne Herz und eiskalt in ihren Gefühlsregungen. Eines der Pferde war bereits so geschwächt, dass es die Rampe nicht mehr hinaufkam. Wieder und wieder fiel es hin, rutschte aus, versuchte sich mühsam aufzurichten, bis es schließlich vor lauter Erschöpfung zusammenbrach. „Den Gaul brauchen wir nicht mehr aufladen, das hat sich erledigt!“ Einer der Männer zog einen Revolver aus seinem Hosenbund und gab dem Pferd den Gnadenschuss. Der laute Knall ließ die anderen Tiere vor Schreck erstarren. „Hol den Kran, Eddi und weg mit dem Vieh!“ Wenig später wurde der leblose, mächtige Körper des Tieres an den Karabiner eines Krans fixiert. Durch das Halfter am Kopf des Pferdes führten die Männer ein Seil und hakten es in einer rostigen Schlinge ein. Das schwere Gerät zog das tote Pferd vom Ort des Geschehens. Der massige Körper des Tieres schleifte über Beton und Kiesboden. Mit einem dumpfen Schlag knallte der Kopf des Pferdes auf den Asphalt. Der leblose Körper wurde hinter einem alten, vergammelten Stall entsorgt. Niemand zeigte Mitgefühl gegenüber dem Lebewesen Pferd. Die Männer hatten einen Job zu erledigen. Nicht mehr und nicht weniger. Gefühle waren da fehl am Platz. Der Stall gehörte zu einem windigen Pferdehändler. Dieser hatte den widerlichen Todestransport der Pferde veranlasst. Das Geschäft mit Pferdefleisch boomte. Für jedes Tier, das lebend in Italien auf dem Schlachthof landete, bekam der Händler pro Kilo knapp einen Euro. Das waren fast 20 Prozent mehr, als in Deutschland für das Kilo Pferdefleisch gezahlt wurde und somit war der Transport von Pferden generell ein lukratives Geschäft. Nachdem die Männer den Körper des toten Pferdes beseitigt hatten, wurden die letzten Pferde verladen. Erbarmungslos schlugen sie mit ihren Viehtreibern auf die wehrlosen Tiere ein und manövrierten sie die Rampe hinauf. Tiere, die bereits am Boden lagen, bekamen einen extra starken Stromschlag verpasst, damit sie sich wieder erhoben. Einige waren zu schwach, um die steile Rampe zügig hinaufzulaufen. Die Pferde waren alt und krank. Die meisten von ihnen jedenfalls. Mit voller Wucht, als schließlich alle Pferde verladen waren, fiel die Rampe hinter den angsterfüllten Tieren in ihre Verankerung. Einer der Männer kletterte zwischen den Streben des LKWs hindurch und versuchte, die Pferde anzubinden. Aus Angst vor Tritten der aufgebrachten Tiere versuchten die Männer von vorne an die Pferde zu gelangen. Mit einem Stock schlug der Mann wild auf die Tiere ein, wenn sie ihm nicht sofort Folge leisteten. Die Tiere rissen ängstlich ihre Köpfe hoch. Angst und Furcht konnte man in ihren Augen lesen. In ihrer Panik vor den Abläufen der Dinge, die sie nicht zuordnen konnten, drängten sich die Pferde eng aneinander. Der Mann entdeckte schließlich das kleine, regungslose Fohlen. „Komm, steh auf! Na los, mach schon!“ Mit seinem Stiefel trat er in die Flanken des leblosen Tieres. Das kleine Fohlen zuckte und seufzte schwer. Tatsächlich versuchte es sich aufzurichten. Sein Hinterlauf schmerzte, aber es nahm seine letzte Kraft zusammen und wuchtete seinen dünnen Körper vom Boden. Der Bodenbelag war glitschig, das Fohlen drohte erneut auszurutschen, aber es konnte sich im letzten Moment, vor einem weiteren Sturz abfangen. Das gebrochene Bein hielt es schmerzvoll seitlich vom Körper ausgestreckt. „Aha, du hast dir also deinen Hinterlauf gebrochen“, sagte der Mann und lachte hämisch. „Das spielt keine Rolle! Dort wo du landest, da brauchst du deine Beine zum Laufen nicht mehr, kleines Fohlen! Brich dir aber nicht dein Genick, du sollst lebend ankommen, sonst bekommen wir kein Geld mehr für dich! Hörst du! An den Schlachthaken kommst du! Ihr alle hier!“, schrie der widerliche Kerl, der einem Psychopathen aus einem Horrorfilm glich. Drohend fuchtelte er mit seinem Viehtreiber zwischen den ängstlichen Pferden umher. Dem Fohlen schlug er mit seiner Faust brutal auf die empfindliche Pferdenase. „Das regt den Kreislauf an“, triumphierte er lachend. Sein Lachen erinnerte an das eines Wahnsinnigen. Ein „Mensch“ konnte in der kranken Seele dieses Sadisten nicht mehr wohnen. „Der Schlag ist dafür, dass du mir während der Fahrt nicht schlappmachst“, dabei blickte er lachend in Richtung des zitternden Fohlens. Das kleine Geschöpf befand sich bereits in einem Schockzustand. Aus Angst und Schmerzen leistete es keinen Widerstand mehr. Die Panik hatte das kleine Herz des Fohlens so schnell zum Schlagen gebracht, dass man deutlich hören konnte, wie es in der Brust des Tieres rasselte. Ängstlich und erschöpft drückte sich die kleine Stute an ihr Nachbarpferd. Der große Kaltblüter, der neben dem Fohlen angebunden war, schien von stoischer Natur. Trotz des Dramas, das sich im Inneren des Schlachtpferde-LKWs abspielte, blieb der Schimmel völlig gelassen. Es schien fast so, als hätte er sich dem Fohlen schützend angenommen. Ruhig stand der Kaltblüter da, dabei rührte er sich nicht. Somit fand das Fohlen Halt und Schutz an ihm.
Die Fahrt dauerte endlos lange Stunden. Eine qualvolle Zeit für die Tiere, noch dazu ohne Wasser und Futter. Trotz, dass der Fahrer des Transporters verpflichtet war, den Tieren ausreichend Nahrung und Flüssigkeit durch den Pferdeknecht zukommen zu lassen, und er selbst eigentlich seine Ruhepausen einzuhalten hatte, fuhr er gnadenlos die Strecke durch, ohne einmal nach den Tieren sehen zu lassen. Zeit bedeutete bekanntlich Geld und Geld war wichtig! Im Leben eines Pferdehändlers ganz besonders. Der Fahrer des Schlachttransporters war völlig übermüdet gegen Ende des Tages. Es lagen jedoch noch einige viele Kilometer vor ihm bis nach Italien. Billigend nahm er in Kauf, dass die Pferde ohne Wasser und Futter derart geschwächt waren, dass sie während der Fahrt zu kollabieren drohten. Verluste gab es immer im Leben. Ein Tierleben war den Schlachtpferdehändlern nicht viel wert. Natürlich kam nicht jedes Pferd lebend bis zum Ziel, das war vom Händler finanziell einkalkuliert. Tote Pferde waren auf den langen Transportwegen die Regel. Dass alle lebend und einigermaßen munter ihr Ziel erreichten, die Ausnahme. Dabei spielte das Ziel des Schlachthofes sowieso keine große Rolle mehr im Leben der Pferde. Direkt nach der Ankunft im Schlachthaus dauerte es weniger als 1-2 Stunden und sie waren erlöst. Endlich durften sie auf immergrünen Weiden in den Sonnenuntergang galoppieren und waren befreit von Schmerz, Leid und Pein. Sie fanden ihren Frieden. Hinter der Regenbogenbrücke. Welch eine Erlösung für die Pferde nach den leidvollen Qualen in ihren letzten Lebensstunden auf dem LKW und im Schlachthaus. Erlöst wären sie ebenfalls von den Grausamkeiten der herzlosen Menschen, die sie auf ihrem letzten Weg begleiteten. Springpferde, Freizeitpferde, Fohlen, Kaltblüter, Ponys, alle waren vertreten auf der letzten Reise. Eine Reise in die Hölle im LKW des Todes, der mit 20 Pferden besetzt, wahrscheinlich überladen und auf dem Weg nach Italien unterwegs war. Nach ihrer anfänglichen Panik resignierten die Pferde irgendwann und ergaben sich ihrem Schicksal. Regungslos standen sie fesseltief im Dreck ihrer eigenen Fäkalien. Die Stricke ihrer Halfter waren an die Streben des LKW gebunden. Kleine, schmale Lüftungsschlitze gab es, aus denen die Pferde wenigstens etwas Frischluft bekamen. Luft zum Atmen von der Welt außerhalb ihres Gefängnisses. Die kurzen Stricke, mit denen sie angebunden, oder vielmehr fixiert waren, ließen ihnen kaum Freiraum. Selbst ihre Köpfe konnten die Tiere nur minimal bewegen. Das gutmütige, sanfte Kaltblut, an welches sich das kleine Fohlen schutzsuchend lehnte, schnaubte leise. Der kräftige Schimmelwallach war alt und müde vom Leben. Seine Knochen waren verbraucht und schwer, seine Seele tieftraurig. Sein Körper träge. Jahrelang hatte er an der Seite eines Menschen treu gedient. Sein „Boss“, wie man den alten Herrn nannte, war vor ein paar Tagen an Krebs gestorben. „Mach`s gut mein treuer Freund, Merlin“, hatte ihm der Boss wehmütig zugeflüstert. Schon vor Tagen hatte der „Boss“ gespürt, dass seine Zeit gekommen war. Ein letztes Mal raffte er seine alten Knochen auf, schleppte sich aus dem Zimmer, in dem er bereits seit mehreren Wochen gebettet war und auf seinen sicheren Tod wartete. Ein letztes Mal ging er hinaus, um sich von seinem Pferd „Merlin“, dem wunderschönen Kaltblüter, einem prächtigen Boulonnaise, das ihm viele Jahre lang treu gedient hatte, zu verabschieden. Seinen Hof und alles, was er besaß, hatte schon längst sein jüngster Sohn übernommen und dieser mochte keine Pferde leiden. Das Herz des alten, kranken Mannes war schwer, als er sich von Merlin trennen musste. Der Boss wusste genau, dass auch für Merlin die Lebensuhr abgelaufen war und sobald man ihn unter die Erde gebracht, auch für seinen langjährigen, vierbeinigen Freund die letzte Stunde geschlagen hatte. „Wir werden uns wiedersehen, mein Guter!“ Zärtlich und liebevoll strich der alte Mann seinem vierbeinigen Gefährten Merlin über das seidene Fell. Das treue Pferd spürte genau, dass seine Zeit bald gekommen war und er seinen Boss nie wiedersehen würde. Instinktiv fühlte Merlin das Ende nahen. Das Ende des geliebten Herrn und sein eigenes. Wenige Tage nur, nachdem der „Boss“ beerdigt war, wurde „Merlin“ an den Pferdemetzger übergeben. „Merlin“ leistete keinen Widerstand, als er auf den LKW verladen wurde. Das kluge Tier verstand ohnehin, dass ein Kampf sinnlos wäre. In seinen Erinnerungen pflügte Merlin zusammen mit seinem Boss das Ackerfeld im Sonnenuntergang. Bald würden sich die beiden wiedersehen! Merlin erinnerte sich an die guten Tage in seinem Leben. Immer, wenn das brave Pferd die Arbeit zur Zufriedenheit seines Herrn erledigt hatte, bekam es eine extra große Portion Heu und frische Möhren von ihm serviert. An die Worte seines Herrn erinnerte sich Merlin. „Du bist das Beste, das mir in meinem Leben passiert ist, mein alter Freund! Natürlich ist meine Frau, die „Annelie“, eigentlich das Schönste, das mir in meinem Leben begegnete, aber sie ist ja schon so lange tot.“ Merlins Boss war ein feiner, liebevoller und gutmütiger Mensch. Er behandelte die Pferde und seine Tiere zeitlebens gut. Merlin mangelte es in all den Jahren weder an Liebe, noch an Futter und auch nicht an guten Worten. Schmerzvoll nahm das Pferd in seiner Erinnerung Abschied von den bunten Bildern aus der Vergangenheit. Der letzte Weg seiner Reise, den Merlin tapfer angetreten hatte, war schwarz, traurig und bitter. Kämpfen? Gegen das „Übel“ ankämpfen? Nein, dazu war Merlin mittlerweile zu alt und zu gut erzogen. Das Kaltblut leistete den Menschen seit jeher Folge und widersetzte sich ihnen nicht. Das hatte sein Boss ihn gelehrt. Dem kleinen Fohlen, das sich immer noch verloren an Merlin kauerte, gebot der große Kaltblüter gerne Schutz und Halt. Das war wahrscheinlich das letzte „Gute“, das Merlin in seinen wenigen Lebensstunden, die ihm noch blieben, tun konnte auf dieser Erde.
Nebel zog über das Land.
Die Sichtweite auf der Autobahn war katastrophal. Sprichwörtlich: „Man sah die Hand vor Augen nicht mehr!“ Als es passierte, war der Fahrer hinter dem Steuer kurz eingenickt.
Sekundenschlaf.
Ein dumpfer Knall. Sein Gefährt war auf einen vorausfahrenden LKW, der aufgrund des Nebels kurz gebremst hatte, aufgefahren. Ungebremst.
Der LKW mit den Pferden an Bord, wurde durch die Wucht des Aufpralls gegen die Leitplanke geschleudert. Durch den Aufprall an der Leitplanke wiederum, wurde der LKW quer über die Fahrbahn zurück katapultiert und kippte in eine gefährliche Seitenlage. Sämtliche Scheiben des Führerhauses zerborsten in unzählige Glassteine. Hunderte! Tausende kleine Splitter! Enorm einwirkende Kräfte von unvorstellbarem Ausmaß hatten Fahrer und Beifahrer regelrecht aus dem Führerhaus gerissen. Der führerlose LKW schlug mit seinen mehr als 40 Tonnen Gewicht in Seitenlage auf die Fahrbahn auf. Er schlitterte noch einige Meter über den Asphalt. Knirschende, schabende Geräusche. Feuerfunken stoben zwischen Geschoss und Straße empor und erhellten die Nacht wie ein Feuerwerk. Die beiden Fahrinsassen waren auf der Stelle tot, sie hatten keine Chance. Vom Aufschlag des LKWs auf dem Beton der Autobahn, hatten sie nichts mehr gespürt. Die Stricke der angebundenen Pferde im Innenraum der Ladefläche des LKWs rissen allesamt durch die Wucht, mit denen ihre schweren Körper durch die Gegend katapultiert wurden. Die Gesetze der Physik fanden ihre Wirkung. Die Pferdekörper flogen kreuz und quer durch das Abteil der Ladefläche. Die Tiere kollidierten miteinander. Kopfüber, seitlich, ineinander, übereinander und sie prallten gegeneinander. Abgetrennte Gliedmaßen lagen zwischen ihren leblosen Körpern und es war überall Blut. Das Blut verteilte sich zwischen den Tieren. Unheimlich viel Blut gab es. Überall. Es war grausam. Ein Albtraum. Die Verladerampe wurde durch den Aufprall abgetrennt, als der LKW seitlich aufschlug. Regelrecht abgerissen wurde sie mit solch einer Wucht, dass sie gegen das hintere Auto flog, das nicht mehr rechtzeitig bremsen konnte, während der LKW umkippte. Knarren, Knirschen, Splittern…! Geräusche hallten durch die Nacht, die an eine Massenkarambolage aus einem Horrorfilm erinnerten. Ewig schien es zu dauern, bis der völlig demolierte und ramponierte Körper des LKW zum Stillstand kam. Endlich hörte man nichts mehr. Es war es vorbei. Grabesstille breitete sich aus. Der Nebel hatte sich gelichtet. Ein runder, praller Vollmond schob sich zwischen die Wolken am Himmel hindurch. Er erleuchtete alles in hellem Schein.
Tödliche Stille.
Menschenschreie. Weit draußen. Irgendwo im Nirgendwo.
Hilferufe.
Blinkende Lichter. Immer wieder rote und blaue Lichtblitze, die die Nacht erhellten und sich an den Autos spiegelten.
Irgendwo ging eine Sirene. Schreie! Immer wieder Schreie. Im Innenraum des LKWs stöhnten die Pferde. Ihre Körper lagen größtenteils übereinander. Einige zuckten mit den Beinen. Es roch nach Blut und Sterben.
Letzte Lebenszeichen gaben sie von sich, bevor das Licht auf ewig erlöschen würde. Eines der Pferde, das ziemlich weit oben auf den anderen Tieren lag, hob den Kopf und versuchte aufzustehen, sich aufzurichten. Das Pferd war blutüberströmt. Überall war Blut.
An den Wänden des LKW.
Auf dem Boden.
Der Innenraum war trotz der Karambolage beinahe unversehrt geblieben. Beängstigend war das. 15 Minuten dauerte es, bis die Rettungseinsatzkräfte eintrafen und sich dem Bild des Grauens stellen mussten. Der Anblick, der sich ihr an der Unfallstelle bot, war jedenfalls nichts für schwache Nerven. „Ellen“, war das erste Mal zu einem derartigen Einsatz gerufen worden. Die junge Rettungsärztin hatte soeben ihr Examen beendet und arbeitete erst seit kurzer Zeit in der Unfallklinik. „Steve“, der erfahrene Einsatzleiter, auf den Ellen vor Ort traf, schüttelte den Kopf, als er den Teil, wo sich einst die Fahrerkabine des LKWs befunden hatte, ausleuchtete. „Hier kommt jede Hilfe zu spät, vermute ich. Wir müssen gucken, ob wir den Fahrer finden, den hat es anscheinend aus dem Führerhaus gerissen. „Wahrscheinlich war eine zweite Person mit dabei, Tiertransporteure fahren selten allein!“ Seine Worte klangen ernst und in Ellens Ohren ziemlich brutal, aber sie entsprachen der grausamen Realität. Die Einsatzkräfte sperrten den Bereich der Autobahn ab, indem sie Warndreiecke aufstellten und den nachfolgenden Verkehr stoppten, der mittlerweile sowieso zum Erliegen gekommen war.
Zum Glück waren keine weiteren Autos mehr in die beiden verunfallten LKWs gekracht, trotzdem standen einige von ihnen kreuz und quer zur Fahrbahn. Kleinere Blechschäden waren nicht auszuschließen. Geschockt standen einige Autofahrer neben ihren Autos.
Hilflos.
Verängstigt.
Steve lief zu dem anderen LKW. Zu der Zugmaschine, auf die der Pferdetransporter aufgefahren war. Die Männer aus dem LKW schienen unversehrt, sie standen bereits hinter der sicheren Absperrung der Leitplanke, hatten aber einen Schock erlitten. Steve führte sie zum Rettungsfahrzeug. Dort wurden ihnen Decken gereicht und Ellen sollte die beiden untersuchen, welche Verletzungen sie davongetragen hatten. Alles schien gut auf den ersten Blick. Die Männer waren lediglich mit dem Schrecken davongekommen. Als Steve die beiden toten Männer gefunden hatte, nachdem er die Autobahn ein gutes Stück abgelaufen war, bedeckte er die Leichen mit einer Decke und zog sie beiseite. Abseits der neugierigen Blicke der Autofahrer, der Schaulustigen, die immer irgendwo an einem Unfallereignis zugegen waren. Steve kannte es nicht anders. Manchmal hasste Steve seinen Job. Leichen zu beseitigen, sie ansehen und bergen zu müssen, war kein leichtes Unterfangen. Natürlich hatte er nach 20 Jahren eine gewisse Routine entwickelt, aber jedes Mal wenn er seinen Job erledigte, überkam ihn das Grauen und Entsetzen, wie grausam das Leben doch sein konnte. „Was ist mit den Tieren hinten drin? Was ist mit den Pferden?“ Aufgebracht liefen einige Menschen durch die neblige Nacht und schrien hilflos durch die Gegend. Menschen, die genau wussten, dass sich Pferde an Bord des LKWs befanden. Waren es Tierschützer, Menschen, die vielleicht selbst Pferde besaßen, Menschen, die unter Schock standen und verzweifelt durch die Nacht irrten? Wollten sie helfen oder erschwerten sie den Rettungskräften ihren Einsatz unnötig? Als Ellen die Verletzten des Unfalls erstversorgt hatte, lief sie zu Steve. „Was ist mit den Pferden? Gibt es noch lebende Tiere da drin?“, fragte sie vorsichtig. Steve hatte noch nicht nachgesehen. Wenn er ehrlich war, graute es ihm davor, in den Innenraum des LKW zu klettern um zu schauen, was sich dort drinnen abspielte. Es war erstaunlich still geworden im Laderaum. Kein Wiehern. Kein Trampeln. Stattdessen nur bedrohliche Stille. Eine beklemmende Atmosphäre und niemand wusste so recht, was zu tun war. Einen Tiertransporter zu bergen, war eine undankbare Aufgabe für die Rettungskräfte und kam auch nicht sehr häufig vor. Steve war im Besitz einer Waffe, mit der er im Notfall leidende Tiere erschießen, sie von ihren Qualen erlösen durfte. Sollten es einige der Pferde im Innenraum überlebt haben, ihre Verletzungen aber so gravierend waren, musste er ihr Leiden beenden und sie töten. Seine Gedanken kreisten um den genauen Ablauf des Bergungsvorgangs. Wie sollte er vorgehen? Zuerst würde er die Tiere einzeln erschießen müssen. Wenn der Abschlepp- LKW, der bereits auf dem Weg war, eingetroffen war, würde dieser das Fahrzeug mitnehmen und man müsste später die toten Tiere mit einem Kran von der Ladefläche wuchten. Dazu musste das Dach des LKW zunächst mit einer Schere aufgeschnitten werden. Gut, das würde nicht mehr zu seinem Job gehören. Jedoch gehörten zu seinem Job die unzähligen Gedanken, die in seinem Kopf kreisten. Er war kein Mensch, an dem das Schicksal anderer Menschen abprallte, auch wenn er darauf trainiert war, cool zu bleiben und die eigenen Gefühle zu unterdrücken. Oftmals gingen ihm die Tragödien, die sich an den Unfallstellen abspielten, sehr nahe und zu Herzen. Einige Bilder verfolgten ihn noch Tage später. Albträume waren nicht selten an der Tagesordnung. Dennoch liebte Steve seinen Job. Steve kletterte beherzt in den Innenraum des LKWs, der sich in Seitenlage befand. Der Gestank von Ammoniak, Blut und verbrannten Materialien setzen sich in seiner Nase fest. Ein widerlicher Geruch. Einige der Tiere, die hilflos übereinander lagen, zappelten kraftlos. Steve hatte wenig Ahnung von Pferden. Seine Frau, von der er sich vor einigen Wochen getrennt hatte, war eine große Pferdeliebhaberin gewesen. Er dachte kurz an sie und die Bilder der Erinnerungen sausten durch seinen Kopf. Warum hatte man sich eigentlich getrennt? Gut, das waren Dinge, die gehörten nicht hierher. Die Situation war zu ernst. Aber die Trennung von „Kerrin“ war auch ein ernstes Thema. Steve vermisste sie unheimlich. Wäre sie jetzt hier gewesen, vor Ort, sie hätte ihm sicherlich helfen können mit ihrem Fachwissen über Pferde. Ellen, die mittlerweile die Menschen notdürftig versorgt hatte, war ebenfalls in den Innenraum des LKWs geklettert. „Brauchst du Hilfe, Steve?“, rief sie. Ihre Stimme zitterte. Ellen hatte Angst. Angst vor dem, was sie erwarten würde im Inneren des schweren Gefährts. Dass es sich um ein Lebendtiertransportfahrzeug...