Kinder- und Jugendpartizipation
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Kinder- und Jugendpartizipation

Eine Evaluation kommunaler Pilotprojekte im Regierungsbezirk Freiburg

  1. 216 Seiten
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Kinder- und Jugendpartizipation

Eine Evaluation kommunaler Pilotprojekte im Regierungsbezirk Freiburg

Über dieses Buch

Ziel der vorliegenden Arbeit Kinder- und Jugendpartizipation ist die Evaluation von sechs kommunalen Beteiligungsprojekten, welche in Kooperation mit Schulen durchgeführt wurden. Die Fragestellung, welche Qualitätskriterien und Rahmenbedingungen zu einem gelingenden Partizipationsprozess beitragen, wurde mittels eines Mixed-Methods-Designs behandelt und ausgewertet. Grundlage der Forschung sind empirische und theoretische Erkenntnisse zum Thema Demokratiebildung und Partizipation aus soziologisch-psychologischer Perspektive. Zentrale Kriterien in der Kinder- und Jugendbeteiligung, welche in einem Leitfaden zusammengefasst werden, sind: faire Prozessbedingungen, Motivation durch Selbstbestimmung, Wirkung der Beteiligung, Bildung, Kooperations- sowie Kommunikationsstrukturen, Flexibilität und Weiterentwicklung. Die nachhaltige Etablierung von wirksamer Beteiligung kann ein relevanter gesellschaftspolitischer Faktor für den Erhalt und die Stärkung von demokratischen Gesellschaften sein.

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1 Einleitung

Eine zentrale Frage und Herausforderung in den Politik- und Verwaltungswissenschaften besteht darin, wie Demokratie und insbesondere Lokalpolitik organisiert sein muss, um aktuelle Chancen ergreifen und Herausforderungen bewältigen zu können. In Artikel 28 des Grundgesetzes und durch Landesgesetze (vgl. u.a. §§ 1, 2 GemO, Baden-Württemberg) ist die Stellung der lokalen Politik in Deutschland als kommunale Selbstverwaltung definiert. Jedoch wird die kommunale Selbstverwaltung durch Bundesgesetze und vielfältige Programme beeinflusst, wie beispielsweise dem Bund-Länder-Kommissionsprogramm „Demokratie lernen und leben“ (2002–2007). Trotzdem ist die Bedeutung der lokalen Politik nicht zu bestreiten, schließlich stellt sie die direkteste Verbindung der Politik zum Bürger dar. Seit einigen Jahren befindet sich die repräsentative Demokratie in einer postdemokratischen1 Krise, welche sich durch Desinteresse, Gleichgültigkeit und Ablehnung bemerkbar macht (vgl. Jörke, 2003; Kronauer & Siebel, 2013). Dieser Trend zeigt sich auch in sinkenden Wahlbeteiligungen und Parteimitgliederzahlen sowie einer Neigung zu Populismus (Hetherington & Husser, 2012).
Parallel steigt die soziale Ungleichheit, obwohl Gleichheit zu einem Grundversprechen von Demokratie zählt. Es kommt zu einer Ungleichverteilung von wertvollen Gütern, wie Einkommen, Macht und Bildung (Hradil, 2005). So sind Interessen von sozial schwachen Gesellschaftsgruppen in bestehenden politischen Parteien meist nicht vertreten. Mögliche Begründungen könnten in dem geringen Machtzuwachs für Parteien sowie fehlendem Lobbyismus in politischen Debatten und Entscheidungsprozessen liegen. (Linden, 2013; Urbinati & Warren, 2008)
Diese Feststellung führt zu einem Bedeutungszuwachs von alternativen Demokratietheorien, wie deliberative und partizipative Ansätze. (Habermas 1981, Papadopoulos & Warin 2007; Schmidt 2010) Zusammenfassend kann von beteiligungszentrierten Demokratietheorien und Methoden gesprochen werden (vgl. Kapitel: 2.1). Durch aktive, niederschwellige, transparente und nachhaltige Beteiligung an allen bürgerrelevanten, politischen Entscheidungen soll politisches Interesse und Engagement geweckt werden. Durch Austausch- und Partizipationsprozesse können demokratische Fähigkeiten, Einstellungen und soziales Verhalten erlernt werden. Aufgabe der Kommunalpolitik und -verwaltung ist es, innerhalb des vorgegebenen rechtlichen Rahmens Zugänge zu ermöglich, dass sich Bürger artikulieren und einbringen können. Trotz großen gesellschaftlicher Herausforderungen, wie dem demographischen Wandel, der Globalisierung, Privatisierungen, steigendem Wettbewerb, der großen Aufgabenflut von Kommunen und damit zusammenhängenden Steuerungsproblemen sowie geringer finanzieller Spielräume, müssen Voraussetzungen für Bürgerbeteiligung geschaffen werden (Schieren, 2010). Das gilt nicht nur für Erwachsene, sondern vor allem auch für Kinder und Jugendliche. Nur wenn Beteiligung früh verankert wird, schon junge BürgerInnen lernen Entscheidungen und Verantwortung zu übernehmen, dann können Lernorte für Demokratie und bürgerschaftliches Engagement entstehen. Kinder und Jugendlichen sind die Zukunft der Demokratie und deshalb ist es umso relevanter, dass sie in ihrem Lebensumfeld, in Städten oder Gemeinden, frühzeitig die Chance erhalten das Gemeinwesen in einem altersangepassten Rahmen aktiv mitzugestalten (Staatsministerium Baden- Württemberg, 2014; Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur (BMVI), 2014; vgl. Kapitel: 2.2). Durch die Einführung des kommunalen Wahlrechts ab 16 Jahren wurde Jugendlichen in Baden-Württemberg im Jahr 2013 ein höherer politischer Einfluss zugesprochen. Seit der Einführung des Paragraphen 41a der Gemeindeordnung im Oktober 2015 ist Jugendbeteiligung auf kommunaler Ebene zudem als Pflichtaufgabe verankert. Auch in der Schule haben die Themen Kommunalpolitik und Partizipation durch die Einführung des neuen Bildungsplans im Jahr 2016 einen erhöhten Stellenwert erhalten (Landesinstitut für Schulentwicklung, Bildungsplan des Gymnasiums bzw. der Sekundarstufe, 2016, S.5). In Folge dessen haben sich einige Kommunen und Schulen auf den Weg gemacht, passgenaue Konzepte für Kinder- und Jugendbeteiligung zu entwickeln (vgl. Kapitel: 2.3).
In Zusammenarbeit mit der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg und dem Regierungspräsidium Freiburg werden im Rahmen der vorliegenden Arbeit sechs Pilotprojekte aus Südbaden evaluiert (vgl. Kapitel: 2.4). In allen Projekten spielt die Kooperation von Kommune und Schule eine entscheidende Rolle. So steht auch die Vernetzung von Beteiligungs- und Demokratiebildung, der Erwerb von damit zusammenhängenden Kompetenzen sowie aktive Mitbestimmung im Fokus.
Damit untersucht die folgende Evaluation die Voraussetzungen gelingender Kinder- und Jugendbeteiligung (vgl. Kapitel: 3). Evaluiert werden in einem Mixed-Methods-Design die Relevanz, der Umfang und die Qualität von Beteiligungsprozessen (vgl. Kapitel: 4). Die Ergebnisauswertung findet anhand einer qualitativen Inhaltsanalyse sowie einer explorativen Faktorenanalyse statt (vgl. Kapitel: 5).
Abschließend werden in Leitlinien Qualitätskriterien und Rahmenbedingungen für Kinder- und Jugendbeteiligung zusammengefasst (vgl. Kapitel: 6).

1 vgl. Crouch, (2004): „People may feel vaguely aware that they have little understanding of what is going on in government and politics, and they may feel bewildered that all they hear about are political personalities, scandals and inflated bits of trivia. But the trail back from there to the logic of a certain kind of fast-moving market is impossible for them to find.“ (S. 48)

2 Theoretische und empirische Grundlagen

Zu Beginn dieser Arbeit wird auf die theoretischen und empirischen Grundlagen von Demokratiebildung und Partizipation eingegangen. Dabei liegt der Fokus vorerst auf beteiligungszentrierten Demokratietheorien sowie Modellen der Partizipation. Anschließend werden sechs Beteiligungsprojekte aus dem Regierungsbezirk Freiburg vorgestellt.

2.1 Beteiligungszentrierte Demokratietheorien

Im Folgenden werden beteiligungszentrierte Theorien vorgestellt. Im Fokus dieser Theorien steht die Einbeziehung aktiver BürgerInnen zur Bewältigung aktueller politischer und gesellschaftlicher Herausforderungen. Neben dem Empowerment und der gemeinsamen Entscheidungsfindung steht bei vielen Autoren die Reduktion sozialer Benachteiligung im Vordergrund. Durch öffentliche Kritik an der bestehenden Politik und Verwaltung der repräsentativen Demokratie sind schon in den 1960er und 1970er Jahren die ersten beteiligungszentrierten Theorien entstanden (Frevel & Voelzke, 2017).
Es gibt vielfältige deliberative und partizipative Demokratiemodelle. In der Literatur sind viele Definitionsversuche zu finden, folgend wird eine Minimaldefinition gegeben: Unter deliberativen Demokratiemodellen werden öffentliche Diskurse verstanden, welche durch einen Aushandlungsprozess zur gemeinsamen Entscheidungsfindung führen sollen (Gambetta, 1998). Partizipative Demokratiemodelle meinen hingegen die Beteiligung möglichst „vieler, über möglichst vieles“ (Schmidt, 2010, S. 236). Im Vordergrund steht der Input, das Einbringen in und Beteiligen am politischen Prozess (Barber, 1984).

2.1.1 Deliberative Demokratiemodelle

Bereits 1961 hat Habermas den Grundstein für die Theorie der Deliberation durch die Diskurstheorie gelegt. Habermas stellt die Gleichverteilung von Macht durch Partizipation in den Fokus. „Demokratie arbeitet an der Selbstbestimmung der Menschheit, und erst wenn diese wirklich ist, ist jene wahr. Politische Beteiligung wird dann mit Selbstbestimmung identisch sein“ (Habermas et al. 1961, S. 15).
Wie auch in den Theorien des Kommunitarismus befürchtet Habermas negative Folgen zunehmender Individualisierung. Im Kommunitarismus wird der Mensch als soziales Wesen in einem sozialen Kontext gesehen. Ziel ist es die Gemeinschaft unter modernen gesellschaftlichen Bedingungen zu fördern, um ein emotionales Zusammengehörigkeitsgefühl sowie gemeinsame Ziele und Werte zu etablieren. Jeder einzelne Mensch soll sich als Mitglied des Gemeinwesens mit seiner Bürgerrolle identifizieren (Ladwig, Bernd 2013). In diesem Zusammenhang sollen Ungleichheiten, welche sich bedingen, vermieden werden. Beispielweise sollen ungleiche Voraussetzungen in der Bildung nicht dazu führen, dass die Interessen der weniger Gebildeten in der Politik nicht oder schlechter vertreten werden (Walzer, 1992). Laut Habermas soll eine Beseitigung dieser Problematik durch institutionell organisierte Diskurse der Entscheidungsfindung erfolgen. Als Grundlage für eine solche Entscheidungsfindung dient auch in der Deliberation ein Diskurs. Unter bestimmten Kontextbedingungen wird abwechselnd gesprochen, um gemeinsame Entscheidungen zu treffen. Um eine geeignete Sprechsituation zu bieten, sollen jegliche Zwänge vermieden oder zumindest minimiert werden. Die Gestaltung von Kommunikationsbedingungen, wie Fairness und Akzeptanz, sind hierbei entscheidend (Habermas, 1981). Durch Aushandlungs- und Entscheidungsfindungsprozesse unter Beteiligung von BürgerInnen soll die Legitimation von politischen Entscheidungen erhöht werden. (Papadopoulos & Warin, 2007) Habermas (1994) plädiert für eine Institutionalisierung solcher Verfahren, um der Öffentlichkeit Zugänge und Beratung für Beteiligungsprozesse zu bieten. In der Theorie wird davon ausgegangen, dass die Bereitschaft an politischen Diskursen teilzunehmen durch Lokalbezug der Themen steigt. Dies spricht für die Dezentralisierung politischer Entscheidungen. Hierdurch steigt nicht nur die Verständigungsbereitschaft der BürgerInnen, sondern auch der Bezug und Handlungsdruck für die politischen Akteure. (Lamping et al., 2002) Zusammenfassend beschreiben deliberative Modelle beratende Diskurse unter demokratischen Grundvoraussetzungen. Der zwangfreien und fairen Koordination der Aushandlung heterogener Interessen liegt hierbei die Überzeugung zugrunde, dass sich das bessere Argument durchsetzt (Habermas, 1996). Voraussetzung für die Diskurspraxis bzw. dialogorientierte Methoden sind argumentative und diskursive Fähigkeiten sowie eine Verständigungsbereitschaft, welche erlernt und geübt werden sollten (Waldis, 2018, in Ziegler & Waldis 2018; Michels & Graf, 2010; Talpin, 2013, in: Geißel & Joas, 2013).
KritikerInnen werfen deliberativen Demokratietheorien vor, dass der Diskurs hin zu einem Konsens einseitig und nicht wertneutral sei. Außerdem gebe es keine Theorie zur Organisation von Institutionen, in der es möglich ist, in einem größeren Rahmen eine zwangsfreie Sprechsituation zu ermöglichen, welche unfaire und manipulative Verhaltensweisen ausschließt. (Schmidt, 2010). Daher ist fragwürdig, ob alleine durch Deliberation Themen sozialer Benachteiligung sowie kultureller und sozialer Differenzen gelöst werden können (Young, 1996: in Ziegler & Waldis, 2018). Hierfür fehlt wiederum eine nachhaltige Verankerung in Institutionen. Deshalb haben die meisten deliberativen Modelle für die Praxis nicht die erwünschte Wirkungstiefe.

2.1.2 Partizipative Demokratiemodelle

„Habermas eher abstrakte Theorien bilden einen Orientierungspunkt für viele partizipationsorientierte Überlegungen“ (Hahn-Laudenberg, 2016, S. 29). Andere partizipative Demokratietheorien stellen die aktiven Beteiligungsmöglichkeiten von BürgerInnen in den Fokus. Hierbei geht es nicht nur - wie in deliberativen Modellen - um die reine Konsensfindung, sondern um die Teilhabe am politischen Geschehen. Eine der partizipativen Theorien geht auf Barber zurück, der im Vergleich zu Habermas abstrakter Theorie ein konkreteres Modell beschreibt. Er spricht dabei von einer Form der Regierung, an der alle Menschen teilhaben können. Das Mindestmaß an Beteiligung umfasst alle öffentlichen Belange innerhalb bestimmter Zeiträume (Barber, 1984). Als geeigneten Entscheidungsraum definiert Barber die kommunale Ebene und schließt sich so vielen anderen TheoretikerInnen an. Barber erwähnt in diesem Zusammenhang schon 1984 den Einsatz von neuen Medien. Barber und Maus (1994) zeigen parallelen zu Russeaus (1977) direkter Demokratietheorie auf, in welcher die Judikative im Vordergrund steht. Sie betonen, dass Partizipation notwendig sei, um die „Volkssouveränität zu erhalten und Gesetze im Sinne eines bürgerschaftlichen Gemeinwillens beziehungsweise Gemeinsinns zu beschließen“ (Barber & Maus in: Frevel & Voelzke, 2017, S. 102-104).
Auf die Frage, wer wie beteiligt werden kann, antwortet Schmidt (2010, S.236): „Möglichst viele über möglichst vieles“. Dabei ist nicht nur das Teilhaben, -nehmen und -geben inbegriffen, sondern auch das Teil-sein und Anteil-nehmen am aktuellen Geschehen einer...

Inhaltsverzeichnis

  1. Hinweise
  2. Inhaltsverzeichnis
  3. Abbildungsverzeichnis
  4. Tabellenverzeichnis
  5. 1. Einleitung
  6. 2. Theoretische und empirische Grundlagen
  7. 3. Fragestellung
  8. 4. Methodik
  9. 5. Ergebnisdarstellung und Diskussion
  10. 6. Integration der Ergebnisse in Form von Leitlinien
  11. 7. Ausblick und Schlussbetrachtung
  12. 8. Literaturverzeichnis
  13. 9. Appendix
  14. Impressum