Ist es nicht erstaunlich, dass es Gefühle, Gedanken, Sprache, Moral und Kunst gibt, wo doch die Welt ursprünglich nur aus Raum, Zeit und Materie bestand?
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Ist es nicht erstaunlich, dass es Gefühle, Gedanken, Sprache, Moral und Kunst gibt, wo doch die Welt ursprünglich nur aus Raum, Zeit und Materie bestand?

Eine naturphilosophische Rekonstruktion

  1. 528 Seiten
  2. German
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Ist es nicht erstaunlich, dass es Gefühle, Gedanken, Sprache, Moral und Kunst gibt, wo doch die Welt ursprünglich nur aus Raum, Zeit und Materie bestand?

Eine naturphilosophische Rekonstruktion

Über dieses Buch

Die geistigen und psychischen Fähigkeiten des Menschen sind untrennbar mit Lebensprozessen verbunden. Sie haben Wurzeln, die tief in der biologischen Evolution verankert sind. Auf dieser natürlichen Basis konnten die Kulturen entstehen. Die Entwicklung von der Natur zur Kultur wird interdisziplinär rekonstruiert. Was den Menschen auszeichnet und ihn von Tieren unterscheidet, ist die Fähigkeit, andere als Individuum mit eigenen mentalen Fähigkeiten wahrnehmen zu können, ihre Perspektive einnehmen, mit ihnen mitfühlen, die Aufmerksamkeit mit ihnen teilen und mit ihnen kooperieren zu können. Aus diesen sozialen Fähigkeiten werden kulturelle Errungenschaften wie Sprache und Moral abgeleitet.

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1. Einleitung

Dieses Buch nimmt eine naturalistische Position ein. Es geht davon aus, dass sich nicht nur die biologischen Eigenschaften des Menschen evolutionär entwickelt haben, sondern dass auch seine geistigen und psychischen Fähigkeiten Wurzeln haben, die tief in der natürlichen Entwicklung des Menschen verankert sind. Auf dieser natürlichen Basis konnten die Kulturen entstehen.
Die naturalistische Position geht weiter davon aus, dass Geist und Psyche biochemische und neuronale Grundlagen haben. Wahrnehmen, Denken, Fühlen, Bewusstsein und Gedächtnis sind ohne einen Organismus und ohne Gehirntätigkeiten nicht möglich. Die mentalen Fähigkeiten des Menschen hängen von der Funktionsweise des Organismus und des Gehirns ab. Wir können nur mit den Mitteln erkennen, die uns die Natur bereitstellt. Geist und Psyche sind kein Privileg des Menschen, sondern sind – in unterschiedlichen Ausprägungen – bei allen Lebewesen zu beobachten.
Deshalb ist es naheliegend, die geistigen und psychischen Fähigkeiten des Menschen aus der Natur abzuleiten. Die Ergebnisse der Evolutionstheorie, der Gehirnforschung, der Synergetik und der Systemtheorie werden dazu herangezogen.
Die naturalistische Position trennt nicht – wie Kant – einen natürlichen Bereich, in dem die Naturgesetze gelten, den Kant „Reich der Notwendigkeit“ genannt hat von einem geistigen Bereich, von Kant als „Reich der Freiheit“ bezeichnet. Das Geistige ist mit den Naturgesetzen kompatibel.
Im Gegensatz zum Dualismus, für den Geist und Körper auch unabhängig voneinander existieren können, sind für den Naturalismus, der in dieser Frage eine monistische Position einnimmt, Geist und Körper untrennbar miteinander verbunden. Mehr noch: die vitalen Prozesse eines Lebewesens und seine geistigen und psychischen Fähigkeiten sind unterschiedliche Aspekte desselben Organismus. Das bedeutet aber nicht, dass Geist und Psyche auf Physik und Chemie reduziert werden können. Die naturalistische Position vertritt (zumindest in der Version dieses Buches) keinen Reduktionismus.
Der Naturalismus lehnt auch jede Hierarchiebildung ab, d.h. der Geist ist der Materie nicht übergeordnet. Er unterstützt nicht die Vorstellung, dass das Leben von außen an die Materie herangetragen wurde, ihr wurde kein Odem eingehaucht (1. Mo 2,7). Lebewesen wohnt auch kein lebendig machendes Prinzip inne, das als Pneuma, Anima, Spiritus, Élan vital (Bergson) oder als Lebenskraft bezeichnet wird. Im Gegensatz dazu sieht der Naturalismus Leben als eine spezielle Organisationsform der Materie an.
Im Wort „Materie“ steckt „mater = Mutter“, d.h. schon im Begriff steckt die Möglichkeit Neues zu gebären. Aus Materie sind Leben und Geist hervorgegangen und Materie ist das Substrat, ohne das Leben und Geist nicht möglich sind. Materie hat nicht nur bestimmte Eigenschaften, ist also nicht nur Aktualität, sondern enthält auch Möglichkeiten für Anderes, ist also auch Potentialität, was Aristoteles in den Begriff „Entelechie“ (Verwirklichung des in ihm angelegten Möglichen) gefasst hat und was auch die Quantentheorie bestätigt (siehe Kapitel 2 „Materie“).
Ein Denkmodell der Physik besteht darin, dass ein Ganzes aus Teilen besteht („Das Teil und das Ganze“ ist der Titel eines Buches von Werner Heisenberg) und dass dieses Ganze, um es zu verstehen, in seine Komponenten zerlegt und aus den Eigenschaften der Komponenten und ihrer Wechselwirkung rekonstruiert wird. Dieses Denkmodell – das Ganze und seine Teile – ist nicht unproblematisch, wie in Kapitel 2 „Materie“ und in Kapitel 6 „Denken“ ausgeführen wird.
Diesem Theorieansatz stellt die Systemtheorie ein ganz anderes Denkmodell gegenüber. Ein System wird von Prozessen (also nicht von Komponenten) gebildet und aufrechterhalten. Es organisiert, reguliert und strukturiert sich selbst. Es ist autopoietisch (wörtlich: es erschafft sich selbst), d.h. es erzeugt sich durch die Prozesse aus denen es besteht. Die Strukturen, die das System selbst bildet, ermöglichen weitere Prozesse. Dieses systemtheoretische Modell ist besser geeignet, geistige, psychische und soziale Phänomene zu beschreiben.
Die Vorzüge dieses systemtheoretischen Theorieansatzes zeigen sich deutlich in Kapitel 3 „Leben“. Lebewesen sind hoch organisierte und detailliert strukturierte biochemische Systeme. Sie werden durch die internen Lebensprozesse aufrechterhalten und stabilisiert. Lebewesen sind zwar operativ, d.h. bezüglich ihrer Prozesse geschlossen, gleichzeitig sind sie aber offen, d.h. sie nehmen Energie und Stoffe auf und geben sie auch wieder ab. Damit sind die Voraussetzungen für Strukturbildung erfüllt. Denn nach der Systemtheorie und der Synergetik können Systeme nur dann Strukturen aufbauen, wenn sie gleichzeitig operativ geschlossen und offen sind. Das gilt für alle Lebewesen, auch für die Bausteine des Lebens, die Zellen. Und es gilt auch für geistige, psychische und soziale Systeme: Prozesse bilden Strukturen und Strukturen ermöglichen Prozesse.
Lebewesen sind autokatalytisch, d.h. die Prozesse, die den Organismus in einem ständigen Fließgleichgewicht halten, haben die Fähigkeit, sich fortgesetzt immer wieder neu selbst anzustoßen.
Wenn sich Lebewesen fortpflanzen, wird ihr Erbgut gemischt, was die enorme Vielfalt an unterschiedlichen Individuen einer Art erklärt. Kein Lebewesen gleicht dem anderen, nicht einmal zwei Blätter eines Baumes sind völlig identisch. Bei der Vermischung wird das Erbmaterial auch immer leicht modifiziert. Mutationen sind zufällige Veränderungen der Gene. Hier zeigt sich ein generelles Prinzip der Natur: die Vielfalt der Individuen einer Art ist das Ergebnis eines geeigneten Wechselspiels von Zufall und Gesetzmäßigkeit („Zufall und Notwendigkeit“ ist der Titel eines Buches von Jacques Monod). Wäre die Natur nur gesetzmäßig, wäre sie starr wie ein Kristall. Wäre sie nur zufällig entstanden, wäre sie strukturlos und amorph. Durch das Zusammenwirken von Zufall und Gesetzmäßigkeit ist die Natur geordnet, aber auch vielfältig.
Wie sich Leben aus unbelebter Materie entwickelt hat, gehört zu den erstaunlichsten Phänomenen. Leben ist eine emergente Hervorbringung der Materie. Unter Emergenz versteht man die Herausbildung von neuen Eigenschaften oder Strukturen eines Systems infolge des Zusammenspiels der Prozesse des Systems. Dabei lassen sich die emergenten Eigenschaften des Systems nicht auf Eigenschaften der Elemente zurückführen, die diese isoliert aufweisen. Geist und Psyche bilden sich in emergenter Weise aus den Lebensprozessen eines Organismus.
Bereits einzellige Lebewesen zeigen die Merkmale operativer Geschlossenheit bei gleichzeitiger Offenheit. Sie grenzen sich mit einer semipermeablen Wand von ihrer Umwelt ab. Semipermeabel bedeutet, dass nur bestimmte Substanzen durch die Membran durchgelassen werden, andere nicht. Das setzt selektive Wahrnehmung voraus. Wahrnehmung ist also untrennbar mit Leben verbunden. Etwas erkennen und es von Anderem unterscheiden zu können ist bereits ein geistiger Vorgang. Geist beginnt mit dem Leben. Alle Pflanzen und Tiere nehmen in unterschiedlicher Weise ihre Umwelt wahr. Wahrnehmung ist eine aktive Konstruktionsleistung und keine passive Abbildung der Umwelt. Sie hat eine lebenserhaltende Funktion. Nur strukturierte Systeme können wahrnehmen und was sie wahrnehmen sind Gestalten, also Strukturen (siehe Kapitel 4 „Wahrnehmen“).
Auch elementare Gefühle sind untrennbar mit den homöostatischen Prozessen im Körper verbunden, sie sind Teil dieser Regelungsprozesse. Deshalb rufen viele Gefühle auch Körperreaktionen (z.B. Zittern, Erröten) hervor. Gefühle (z.B. Angst) können auch Erkenntnisse ermöglichen (z.B. den zähnefletschenden Hund als gefährlich erkennen), oder eine urteilende und wertende Funktion haben. Gefühle können zu Handlungen motivieren, z.B. kann Mitleid Antrieb zu moralischem Handeln sein. Schließlich haben Gefühle (z.B. Scham) auch einen sozialen Aspekt und sind Ausdruck unseres Selbstverständnisses (siehe Kapitel 5 „Fühlen“).
Unser Denkvermögen hat Wurzeln, die in das Tierreich zurückreichen. Tiere besitzen bemerkenswerte kognitive Fähigkeiten. Nach der evolutionären Erkenntnistheorie hat sich unser Denkvermögen im Laufe der Evolution durch ständige Auseinandersetzung mit der Umwelt und in Anpassung an sie entwickelt. Das erklärt die Möglichkeiten, aber auch die Grenzen unseres Denkens.
Die Hirnforschung dagegen betont das konstruktive Element unserer Erkenntnis. Die Sinnesorgane übersetzen die Wahrnehmung der Außenwelt in elektrische Impulse. Die Leistung des Gehirns besteht darin, dem Feuerwerk von elektrischen Impulsen Bedeutung zuzuweisen. Erkennen ist kein Abbilden, sondern ein Konstruieren (siehe Kapitel 6 „Denken“). Ein Gehirn repräsentiert seine Umwelt, ohne sie abzubilden. Denken ist das geistige Bearbeiten dieser Repräsentation. Das geschieht mit Denkstrukturen, die Kant Verstandeskategorien genannt hat.
Diese Denkstrukturen haben sich im Laufe der natürlichen und kulturellen Entwicklung herausgebildet. Wie alle Strukturen sind sie aus Prozessen (in diesem Fall aus Denkprozessen) entstanden. Sie ermöglichen selbst wiederum Prozesse, schränken diese aber auch ein. Denkstrukturen korrespondieren mit Sprachstrukturen, denn Denken geschieht zu einem großen Teil in der Sprache. Die Struktur einer Sprache, ihre Grammatik, bildet sich im Laufe der Zeit aus Kommunikationsprozessen und ermöglicht wiederum Kommunikation, die sie aber auf bestimmte Formen begrenzt. Sprachstrukturen (die Grammatik einer Sprache), bilden sich in der Kommunikation vieler Generationen. Die strukturierte Sprache wiederum ermöglicht Kommunikation, denn eine Mitteilung kann nur verstanden werden, wenn sie strukturiert ist. Daher kann der Spracherwerb eines Kindes als Selbststrukturierung des Sprachzentrums im Gehirn verstanden werden (siehe Kapitel 13 „Sprechen“).
Eines der erstaunlichen Phänomene höher entwickelter Lebewesen ist das Bewusstsein. Wir sind in der Lage, etwas bewusst wahrzunehmen, zu fühlen, zu denken oder zu wollen. Viele Regulierungsprozesse im Körper geschehen unbewusst und auch vieles Kognitive geschieht außerhalb unserer Aufmerksamkeit. Aus der Hirnforschung wissen wir, dass das Bewusstsein ein emergenter Anregungszustand der Großhirnrinde ist. Die Aktivitäten vieler Regionen der Großhirnrinde sind miteinander korreliert, sodass eine langreichweitige Struktur entsteht. Auffallend sind die Parallelen zu den Strukturbildungen in der belebten und unbelebten Natur (Siehe Kapitel 7 „Bewusstsein“).
Unser ästhetisches Wahrnehmen (siehe Kapitel 9) hat evolutionäre Wurzeln. Sie liegen einmal in der Attraktivität des anderen Geschlechts und zum anderen in der Schönheit der Natur. Künstler thematisieren in ihren Werken – bewusst oder unbewusst – nicht nur das, was sie darstellen, sondern auch wie wir wahrnehmen. Deshalb kann die Analyse unserer Wahrnehmungsstrukturen uns Stilrichtungen oder sogar einzelne Kunstwerke verständlich machen. Insbesondere gilt das für die Gestaltwahrnehmung, die an einzelnen Bildern erläutert wird. Der Mechanismus, der in der Natur Strukturen hervorbringt, korrespondiert mit Prinzipien des strukturellen Aufbaus von Kunstwerken und mit unseren Wahrnehmungsstrukturen. Das wird unter anderem an den Beispielen Gesetzmäßigkeit/Zufall, Symmetrie und Proportionen gezeigt.
In Kapitel 10 „Glauben“ wird die These vertreten, dass Religiosität, die zu allen Zeiten, in allen Kulturen, überall auf der Welt anzutreffen ist, aus unseren geistigen und psychischen Strukturen, mit denen wir uns denkend und fühlend die Welt erschließen, zu erklären ist. Unsere mentalen Wahrnehmungs- und Denkstrukturen begünstigen religiöse Vorstellungen.
Ein handelnder Mensch verfolgt sein Ziel in einer bestimmten Situation, in der er äußeren Bedingungen unterworfen ist und in der ihm nur eingeschränkt Mittel zur Verfügung stehen. Er unterliegt den Normen und Werten der Gesellschaft, in der er lebt. Er ist in seinen Entscheidungen geprägt durch seine Herkunft, Ausbildung und Lebenserfahrung. Er hat Präferenzen und Gründe für sein Handeln. Trotz dieser vielfältigen Determination ist er frei in seinen Entscheidungen. Freiheit und Determination schließen sich nicht aus. „Freiheit ist nicht nur mit Bedingtheit verträglich, sie verlangt Bedingtheit und ist ohne sie nicht denkbar“ (Peter Bieri). Natürlich sind wir auch durch die Aktivitäten unseres Gehirns determiniert. Alle unsere Überlegungen und Wünsche, die zu einer Entscheidung führen, sind neuronal verankert. Die Gehirnfunktionen schränken daher unsere Freiheit nicht ein (siehe Kapitel 11. „Frei Sein“).
Nach den beiden einleitenden Kapiteln 2 und 3 „Materie“ und „Leben“ wurden in den Kapiteln 4 bis 9 die geistigen Fähigkeiten des Menschen: Wahrnehmen, Fühlen, Denken, Bewusstsein, Zeitbewusstsein und ästhetisch Wahrnehmen behandelt, gefolgt von den Kapiteln 10 und 11 „Glauben“ und „Frei sein“. In Kapitel 12 „Anerkennen“ folgt der Schritt vom Individuum zum sozialen Wesen. Der Dreh- und Angelpunkt dieses Übergangs ist die „gegenseitige Anerkennung“.
Was uns von den Tieren unterscheidet und was die Grundlage ist für den Menschen als soziales Wesen, ist die Fähigkeit andere Menschen als Person wahrnehmen zu können, als Wesen mit eigenen Gedanken, Gefühlen und Wünschen. Es ist zweitens die Fähigkeit, die Perspektive eines anderen Menschen einnehmen zu können, d.h. etwas aus seinem Blickwinkel heraus betrachten zu können. Drittens ist es die Fähigkeit zur Empathie, d.h. mit anderen mitfühlen zu können. Es ist viertens die Fähigkeit, die Aufmerksamkeit mit anderen teilen zu können und schließlich fünftens die Fähigkeit mit anderen gemeinsame Ziele zu entwickeln und zu verfolgen, d.h. die Fähigkeit zur Kooperation.
Zusammengefasst werden diese Fähigkeiten als „gegenseitige Anerkennung“ bezeichnet und sind die Grundlage der sozialen Welt des Menschen. In den folgenden Kapiteln 13 bis 15 werden aus dieser Fähigkeit Sprache, soziale Strukturen und Moral abgeleitet.
Die gegenseitige Anerkennung befähigt den Menschen zu einer besonderen Form des Lernens, für die Michael Tomasello den Begriff „kulturelles Lernen“ geprägt hat. Im Gegensatz zur bloßen Imitation kann beim kulturellen Lernen der Lernende die Intention des Lehrenden erkennen, er kann seine Perspektive einnehmen, er ist in der Lage zu verstehen, was der Lehrende mit dem was er sagt oder zeigt, beabsichtigt. Beim kulturellen Lernen kann das einmal erreichte Wissen gehalten und weiterentwickelt werden. Nur so ist wissenschaftlicher Fortschritt möglich.
Die gegenseitige Anerkennung ist auch Voraussetzung für die Entwicklung der Sprache. Nach Tomasello hat sie sich aus der Zeigegeste entwickelt. Wenn die Mutter auf etwas zeigt, teilt sie mit dem Kind ihre Wahrnehmung. Damit übernimmt das Kind auch die Intention der Mutter. Mutter und Kind gewinnen ein intersubjektiv geteiltes Wissen. Zeigen ist – wie später die Aussage – auf eine gemeinsame Aufmerksamkeit angewiesen. Zeigen ist eine erste Form der gemeinsam geteilten Welt. Weil die Zeigegeste für die Bedeutungsfülle unserer Gedanken nicht mehr ausreichte, musste die Lautsprache als zusätzliches Mittel hinzukommen.
Um die relativ unspezifische Zeigegeste zu differenzieren, wird sie mit hörbaren Lauten begleitet. Abends am Lagerfeuer wird das gemeinsam erlebte Abenteuer erzählt. Jetzt spielt der Laut die Hauptrolle und die Zeigegeste begleitet die Lautäußerung. Die Zeigegeste hat ihre Bedeutung verloren, weil das Objekt nicht präsent ist. Aber noch heute „reden wir mit den Händen“, d.h. wir begleiten unsere Rede mit Gesten. Der Laut kann das Objekt imaginativ präsent machen. Schließlich emanzipiert sich der Laut ganz von der Zeigegeste, die Sprache ist entstanden. Wesentliche Voraussetzung dafür ist, dass Menschen in der Lage sind, eine gedankliche Welt miteinander zu teilen.
Wir sind soziale Wesen. Wir entwickeln unsere emotionalen und kognitiven Fähigkeiten, sowie unsere Persönlichkeit im Kontakt mit Anderen. Aus den Wechselbeziehungen der Menschen untereinander bilden sich soziale Strukturen. Nach dem amerikanischen Soziologen Talcott Parsons wird eine Gesellschaft durch eine von allen geteilte normative Ordnung zusammengehalten und stabilisiert.
Der zentrale Begriff der Sozialphilosophie von Jürgen Habermas ist das kommunikative Handeln. Kommunikation hat auch eine handlungskoordinierende Funktion. Damit erklärt Habermas das Zustandekommen sozia...

Inhaltsverzeichnis

  1. Widmung
  2. Inhaltsverzeichnis
  3. 1. Einleitung
  4. 2. Materie
  5. 3. Leben
  6. 4. Wahrnehmen
  7. 5. Fühlen
  8. 6. Denken
  9. 7. Bewusstsein
  10. 8. Zeitbewusstsein
  11. 9. Ästhetisch wahrnehmen
  12. 10. Glauben
  13. 11. Frei sein
  14. 12. Anerkennen
  15. 13. Sprechen
  16. 14. Soziale Strukturen
  17. 15. Moralisch Handeln
  18. 16. Würde
  19. Bildnachweis
  20. Namenregister
  21. Impressum