I. Die offene Logik der Mikrostruktur
Die Vorgänge innerhalb des mikroformalen Bereichs sind kaum zu verstehen ohne die Logik der großformalen Anlage. Die verschiebbare Großform ist gewissermaßen eine Projektion des Mikrobereichs nach außen. Oder erwächst aus der großformalen flexiblen Anlage die Mikrostruktur? Wir werden in der Feinstruktur des Werks eine der Großform sehr ähnliche Verschiebbarkeit der kleinsten Bausteine finden. In diesem Bereich hat der Komponist jedoch seine definitive Wahl getroffen. Nur die Groß- und auch die Medioform, also die mittlere Ebene innerhalb der "Formanten", wird auch vom Interpreten beeinflusst.
Die III. Sonate besteht aus fünf Teilen, die Boulez "Formanten" nennt.
Zum Formant-Begriff schreibt Boulez:
"Die Klangfarbe entsteht hauptsächlich durch die Verteilung der Obertöne: diese schließen sich zu mehr oder weniger vorherrschenden Gruppen zusammen, je nach ihrem höhen- oder lautstärkemäßigen Verhältnis zum Grundton; man nennt das die 'Formanten' einer Klangfarbe. Könnte man nicht auch von 'Formanten' eines Werkes sprechen?"(37)
Boulez möchte auf formaler Ebene alle vorgegebenen historischen Muster vermeiden. Derartige formale "Themen" mit ihren "bereits integrierten Eigentümlichkeiten" widersprechen offensichtlich der seriellen Idee.
"Der 'Formant' indessen - die nicht integrierten Eigentümlichkeiten wäre für die Physiognomie des Werkes verantwortlich, für seinen einmaligen Charakter."(37)
Dies schrieb Boulez schon 1954. Er sah zu dieser Zeit sehr deutlich das formale Grundprinzip der III. Sonate:
"Wir wünschen, dass das musikalische Werk nicht eine Flucht von Zimmern sei, die man unbarmherzig besichtigen muss, eines nach dem anderen; wir wollen es uns als einen Bereich vorstellen, in dem man gewissermaßen seine eigene Richtung einschlagen kann."(38)
"Antiphonie" und "Trope" sind, wie in der Abbildung oben sichtbar, untereinander austauschbar, desgleichen "Strophe" und "Séquence". Diese beiden Formant-Paare kreisen um "Constellation". Statt "Constellation" kann man auch die Spiegelform spielen. Der dritte Formant ist als "Constellation-Miroir" veröffentlicht. Boulez hat zwei der fünf Formanten, "Strophe" und "Séquence", definitiv zurückgezogen. In seinen frühen Interpretationen mit Boulez selbst am Klavier spielte er gern zu Beginn "Constellation", gefolgt von den unfertigen Formanten "Strophe", "Séquence" und 'Antiphonie", abgeschlossen dann von "Trope". Das erste Mal präsentierte er diese fragmentarische Sonate zweimal nacheinander in Darmstadt am 25. Juli 1957 bei der Kranichsteiner Musikgesellschaft auf einem "Kompositionsabend Pierre Boulez". Es handelte sich um einen Kompositionsauftrag der Stadt Darmstadt. Es gibt Aufnahmen der Sonate einschließlich der fragmentarischen Formanten. Boulez selber spielte diese Version öfter, z.B. am 11. Mai 1959 in der Reihe "das neue werk" des NDR in wiederum geänderter Reihenfolge.
Größere Teile von "Antiphonie" werden auch in jüngerer Zeit neben den fertiggestellten Formanten von dem Pianisten und Musikwissenschaftler Peter O'Hagan gespielt. Um "Antiphonie" hat Boulez lange Jahre gekämpft. Ein Bruchstück daraus durfte durch seinen Verleger, die Universal Edition Wien, ins "UE-Buch der Klaviermusik des 20. Jahrhunderts", UE12050, S.88-89 als "Sigle" ("Kürzel") aufgenommen und veröffentlicht werden, ist aber nicht als spielbare Partitur gedacht. Zumindest bis 1963 arbeitete Boulez an "Antiphonie". Die Skizzen dazu gehören zu den umfänglichsten in der gesamten Boulez-Sammlung der Paul Sacher Stiftung.(12) O'Hagan schreibt:
"...the work has remained in an unresolved state for four decades, notwithstanding the fact that the sketches for it are among the most extensive for any of the works in the Pierre Boulez Collection at the Paul Sacher Foundation. The first drafts date from as early as 1955, with the dedication to Heinrich Strobel of an unidentified fragment of the fifth Formant, "Séquence", "à l'occasion du dixième anniversaire de son activité en Südwestfunk", whilst work on the expanded version of "Antiphonie" continued at least until the summer of 1963 with the completion of the unpublished "Trait initial".
Ursprünglich nahm Boulez für "Trope" nur acht Aufführungsmöglichkeiten an. Diese ergeben sich, wenn die Paare I, II und IV, V immer als zusammengehörend gespielt werden und um III kreisen. Boulez spielte 1959 im Norddeutschen Rundfunk Hamburg die Reihenfolge IV, I, III, V, II. Er trennte also die Paare I, II und IV, V. Dadurch kommen wesentlich mehr als nur acht Kombinationsmöglichkeiten zustande.(39)
Zum Aufbau der einzelnen Formanten hat sich Boulez im Aufsatz "Zu meiner Dritten Klaviersonate" näher geäußert.(40) Wir werden uns in der Analyse der Feinstruktur auf den zweiten Formanten "Trope" beschränken.
"Trope" besteht aus den "Entwicklungen" A)"Texte", B)"Parenthèse", C)"Commentaire", D)"Glose". "Glose" kann auch vor "Commentaire" treten. Boulez erhält dadurch zwei originale Reihenfolgen: A) B) C) D) und A) B) D) C). Boulez schreibt in seinen Skizzen: a - β - γ - δ oder α - β - δ - γ.(12)
Die Anlage sowohl von A) B) C) D) als auch A) B) D) C) ist kreisförmig: Man kann bei jeder beliebigen "Entwicklung" einsteigen. Erstens ist also der Gesamtformant "Trope" beweglich im Gesamtnetz der III. Sonate. Zum zweiten sind seine Teile noch einmal in sich beweglich.
Der Titel "Trope" bezieht sich auf die Einschiebsel innerhalb des gregorianischen Gesangs. Als Tropen sind, allein vom Titel her, die Entwicklungen "Parenthèse", "Commentaire" und "Glose" (Glosse) zu erkennen. "Texte" muss als Ausgangsform betrachtet werden. Hier wird das Material in seiner einfachsten Form dargestellt. Alle vier Entwicklungen, auch "Texte", sind ihrerseits von Tropen durchsetzt. Boulez arbeitet mit verschiedenen Strukturebenen, von denen jeweils eine die Hauptebene darstellt. Einige Beispiele: In "Texte" sind 1. in die Kette rhythmisch strenger Großzellen...