Wirtschaftswachstum und Mobilität von Menschen und Gütern werden zumeist von einer Zunahme des Verkehrs begleitet. Nach weit über hundert Jahren Entwicklung der Eisenbahn in Deutschland liegt der Schwerpunkt zurzeit nicht mehr nur auf dem Neu- und Ausbau von Strecken sondern insbesondere zunehmend auch auf der Erhöhung der Leistungsfähigkeit der vorhandenen Eisenbahninfrastruktur. Hierzu ist die Leistungsfähigkeit des Eisenbahnnetzes durch Prozessoptimierung mit Hilfe von innovativen Leistungsuntersuchungen möglichst ohne größere Veränderung der Infrastruktur zu erhöhen. Zur Infrastrukturgestaltung und langfristigen Betriebsplanung in spurgeführten Verkehrssystemen gehören zwei wichtige Anforderungen. Einerseits ist die Infrastruktur so zu gestalten, dass die negativen Einflüsse auf die Betriebsdurchführung möglichst minimal sind und andererseits ist der Betrieb so zu planen, dass die Infrastruktur optimal ausgelastet wird.
Im spurgeführten Verkehrssystem werden die Betriebsqualität und Kapazität der Infrastruktur durch Engpässe im bestehenden Netz stark beeinflusst. Engpässe entstehen dabei häufig in Infrastrukturbereichen mit komplexen Gleisstrukturen. Diese können durch ungeeignete Nutzung der Infrastruktur oder mangelhafte Dimensionierung und Gestaltung der Infrastruktur verursacht werden. Zur Erhöhung der Infrastrukturkapazität und Verbesserung der Betriebsqualität sollen geeignete Maßnahmen ergriffen werden, um die Wirkung bestehender Engpässe gezielt zu entschärfen.
Die zwei Hauptaufgaben einer Engpassanalyse im Rahmen eisenbahnbetriebswissenschaftlicher Leistungsuntersuchungen bestehen darin, Engpässe im Untersuchungsraum exakt zu erkennen und deren Ursachen in der Infrastruktur sowie im Betriebsprogramm zu bestimmen. Darauf aufbauend können anhand der erkannten Ursachen geeignete Maßnahmen in der Infrastrukturgestaltung oder der Betriebsplanung abgeleitet werden.
Es existiert bereits eine Reihe von Methoden bzw. Verfahren, bei denen die Wirkungen von Engpässen in Form von Warteschlangen und Wartezeiten erkennbar und auswertbar sind. Die Infrastrukturelemente an denen Warteschlangen entstehen, sind jedoch oftmals selbst nicht die Ursache des Engpasses. Während es bei einfachen Infrastrukturen vergleichsweise leicht ist, die verursachenden Infrastrukturelemente direkt zu bestimmen, ist dies bei komplexen Teilnetzen mit heterogenen Betriebsprogrammen auf überschaubare Weise bislang nicht möglich. Bei komplexen Gleisstrukturen entstehen Engpässe nämlich oftmals nicht nur aus einer einzigen Ursache sondern aus dem Zusammenwirken der verschiedenen Verkehrskomponenten - Infrastruktur, Betriebsprogramm und Fahrzeuge. Aus diesem Grund ist die Bestimmung der tatsächlichen Ursachen nicht trivial.
Das Ziel des vorliegenden Forschungsprojekts besteht darin, komplexe Gleisstrukturen der Eisenbahninfrastruktur unter Berücksichtigung stochastischer Bedingungen zu bewerten, um so die eigentlichen Ursachen für Engpässe zu identifizieren. Dafür sollte ein neues Verfahren entwickelt und algorithmiert werden, um Engpässe präzise zu lokalisieren und deren Ursachen zuzuordnen.
Im Rahmen des Forschungsprojekts wurde ein neues Beschreibungsmodell für komplexe Gleisstrukturen entwickelt (Kapitel 3), das die ursachenbezogene Engpassanalyse mit Simulationsverfahren zielorientiert unterstützt. Darauf basierend wurden ausgewählte Kenngrößen (Kapitel4) für die nachfolgenden Bewertungsansätze berechnet. Im Rahmen der Zielsetzung des Projekts wurden neue Algorithmen zur exakten Lokalisierung von Engpässen und zur frühzeitigen Erkennung der Ursachen entwickelt (Kapitel5), um geeignete Maßnahmen Minderung der Engpasswirkung abzuleiten. Aufbauend auf diese Ergebnisse wurde das Bewertungsverfahren zur Leistungsuntersuchung weiterentwickelt (Kapitel 6), sodass eine komplexe Infrastruktur umfassend und aussagekräftig bewertet werden kann.
Die Engpassanalyse ist eine Teilaufgabe der eisenbahnbetriebswissenschaftlichen Leistungsuntersuchung. In diesem Kapitel werden relevante Grundbegriffe (Abschnitt 2.2) im Sinne der vorliegenden Arbeit und Untersuchungsmethoden aus zwei unterschiedlichen Aspekten (Abschnitte 2.3) zusammengefasst. Die offenen Fragen bei bereits existierenden Methoden, die den Anlass zu diesem Forschungsprojekt gaben, werden in Abschnitt 2.4 beschrieben.
Belegungselement: Der Begriff „Belegungselement“ bezieht sich in der vorliegenden Forschungsarbeit auf Teile der befahrbaren Infrastruktur. Ein Belegungselement kann gerichtet (z.B. Fahrstraße) oder ungerichtet (z.B. Strecke oder Teilstrecke) sein. In Kapitel 3.4 werden verfeinerte Begriffe („Basisstruktur“ als ungerichtetes und „Fahrwegkomponente“ als gerichtetes Belegungselement) eingeführt.
Betriebsprogramm: Im Sinne eisenbahnbetriebswissenschaftlicher Leistungsuntersuchungen ist das Betriebsprogramm die umfassende Beschreibung von Betriebsvorgängen und den an diesen Vorgängen beteiligten Verkehrseinheiten, je nach erforderlichem Detaillierungsgrad und Aufgabenstellung. Die wichtigsten Merkmale eines Betriebsprogramms sind z.B.
- Menge der Verkehrseinheiten
- Struktur, Reihenfolge, Eigenschaften und Verhältnis der Verkehrseinheiten zueinander
- zeitliche Verteilung der Verkehrseinheiten
Zugmix: Struktur des Betriebsprogramms, die die Eigenschaften der Modellzüge und das anteilige Verhältnis der Zugzahl jeder Gruppe (Zugfamilie) umfasst. In der vorliegenden Forschungsarbeit wird der „Zugmix“ auch als „grobes Betriebsprogramm“ bezeichnet.
Fahrplan: In [Pachl 2011] wird der Fahrplan als „vorausschauende Festlegung des Fahrtverlaufs der Züge hinsichtlich Verkehrstage, Fahrzeiten, zulässige Geschwindigkeiten und zu benutzender Fahrwege“ definiert. Der Fahrplan kann auch als die betriebliche Realisierung des Betriebsprogramms verstanden werden.
Betriebsqualität: „Qualität des Betriebs“. Die Qualität ist im jeweiligen Einzelfall über das Zusammenwirken der unterschiedlichen Qualitätsaspekte zu beurteilen [DB Netz AG 2008].
Kenngrößen: Messbare, berechenbare oder mit Hilfe von rechnerunterstützten Tools ermittelbare Größen, mit denen eine Untersuchungsvariante bei Leistungsuntersuchungen z. B. Teilnetz oder Eisenbahnknoten, quantitativ oder qualitativ bewertet werden kann.
Leistungsverhalten: In [Pachl 2011] wird das Leistungsverhalten als die Beschreibung des Zusammenhangs zwischen drei Größen: Belastung (bei gleichbleibender Struktur des Betriebsprogramms), Betriebsqualität und Bahnanlagen definiert. Aus zwei Größen als Eingangsgrößen lässt sich dabei die dritte als Ausgangsgröße ermitteln.
Belastung: Auch Leistungsanforderung genannt, ist die Anzahl der Zugfahrten pro Zeitintervall im Untersuchungsraum.
Behinderung: Behinderungen entstehen, wenn an einem Belegungselement zu einem Zeitpunkt mehr Anforderungen als Fahrmöglichkeiten vorliegen und deshalb eine Forderung nicht sofort erfüllt werden kann.
Untersuchungsraum: Ein abgegrenzter Abschnitt der Infrastruktur, für den die Leistungsuntersuchung durchgeführt wird.
Untersuchungszeitraum: Zeitraum, für den die Leistungsuntersuchung durchgeführt wird.
Engpass: Eine eindeutige Definition für den Begriff „Engpass“ ist nicht vorhanden, da die Definition meistens im Zusammenhang mit der Aufgabestellung und dem Bewertungsverfahren steht.
- Definition in [DB Netz AG 2008]: Engpass ist „maßgebendes Netzelement für das Leistungsverhalten, dessen Nutzungsgrad1 der Nennleistung2 im mangelhaften Bereich der Qualität liegt“.
- Definition in der vorliegenden Forschungsarbeit ([Hantsch & Li et al. 2013]): Ein Infrastrukturabschnitt (ein ungerichtetes Belegungselement oder Kombination von mehrereren benachbarten ungerichteten Belegungselementen) ist dann ein Engpass, wenn andere Fahrten wegen der Belegung auf diesem Infrastrukturabschnitt so stark beeinträchtigt werden, dass der Betrieb auf benachbarten Abschnitten behindert und damit die Betriebsqualität negativ beeinflusst wird, d.h. dieser Infrastrukturabschnitt wirkt betriebsbehindernd.
Eisenbahnknoten: Bahnhöfe, in denen mindestens zwei Strecken oder Abzweigstellen miteinander verknüpft sind. Eisenbahnknoten werden in der eisenbahnbetrieblichen Fachwelt oftmals vereinfacht als „Knoten“ bezeichnet. In der vorliegenden Arbeit wird der Begriff „Eisenbahnknoten“ zur Unterscheidung vom Begriff „Knoten“ bei der Infrastrukturmodellierung verwendet.
Eisenbahnbetriebswissenschaftliche Leistungsuntersuchungen können sowohl für die Infrastrukturgestaltung und –bemessung als auch für die Betriebsplanung während aller zeitlichen Planungsphasen angewandt werden. Eine der wichtigsten Aufgaben von Leistungsuntersuchungen ist die Ermittlung des Leistungsverhaltens einer Infrastruktur bei einem gegebenen Betriebsprogramm. Ziel der Leistungsuntersuchungen ist u.a. die Verbesserung des Leistungsverhaltens durch Optimierung der Infrastruktur oder/und des Betriebsprogramms. Die Engpassanalyse ist ein wichtiger Bestandteil der Leistungsuntersuchungen, um Belegungselemente und Ursachen zu bestimmen, durch die das Leistungsverhalten negativ beeinflusst wird und um anschließend geeignete Optimierungsmaßnahmen gezielt abzuleiten. In Abhängigkeit von der konkreten Aufgabenstellung und dem dafür eingesetzten Softwarewerkzeug werden Leistungsuntersuchungen mit verschiedenen eisenbahnbetriebswissenschaftlichen Methoden und unterschiedlichem Detaillierungsgrad durchgeführt.
Es gibt eine Reihe von Verfahren bzw. Ansätzen zur Leistungsuntersuchung und Engpassanalyse, die allgemein auf zwei grundsätzlichen Methoden beruhen: die analytische und die simulative Methode. Die Untersuchung von Eisenbahnknoten ist sowohl mit der analytischen Methode als auch mit Simulationen möglich. Für die Beschreibung des Leistungsverhaltens ist die Wartezeit bei beiden Methoden die maßgebende Kenngröße zur Bewertung der Betriebsqualität.
Bei der analytischen Methode erfolgt die Ermittlung von Wartezeiten auf Grundlage der Bedienungstheorie (auch Warteschlangentheorie genannt). Der Untersuchungsraum (Infrastruktur) wird in einem Bedienungssystem modelliert. Eine geschlossene analytische Leistungsuntersuchung ist nur bei einer Strecke möglich, da eine Strecke (richtungsweise) unkompliziert in mehrere Teilstrecken aufzuteilen ist, die ein einkanaliges Bedienungssystem darstellen. Anhand gegebener Infrastrukturdaten, Eigenschaften der Modellzüge und des Betriebsprogramms (Häufigkeit der Zugfolgefälle) kann die mittlere Mindestzugfolgezeit und der verkettete Belegungsgrad berechnet werden. Mit eingegebenen Einbruchsverspätungen wird der Erwartungswert der Wartezeiten berechnet [Pachl 2011]. Die Betriebsqualität wird anhand der beiden Kenngrößen, verketteter Belegungsgrad und der Erwartungswerte der Wartezeiten, bewertet. Die Teilstrecken, deren Betriebsqualitäten im mangelhaften Bereich liegen, werden als Engpässe identifiziert [Vakhtel 2002; Wendler et al. 2002]. Im Vergleich zu Strecken nimmt die Anzahl der Zugfolgefälle in einem Eisenbahnknoten aufgrund komplexer Gleisstrukturen und Fahrtmöglichkeiten überproportional zu. Daher ist die reine mathematische Berechnung für Eisenbahnknoten in einer ganzheitlichen Betrachtung ohne unverhältnismäßig großen Modellierungsaufwand nicht möglich. Um die Berechnung mit der analytischen Methode bei der Untersuchung von Eisenbahnknoten zu ermöglichen, muss ein Eisenbahnknoten in kleinere Bedienungsstellen zerlegt werden. Bei analytischen Verfahren wird ein Eisenbahnknoten nach der Funktionalität in Gesamtfahrknoten (GFK) und Gleisgruppen sowie deren Verbindungen modelliert. Eine solche vereinfachte Modellierung kann nur für eine grobe Evaluation eines Eisenbahnnetzes verwendet werden und ist in der Praxis für die detaillierte Lokalisierung der Schwachstellen in der Infrastruktur nur stark eingeschränkt nutzbar. Aus diesem Grund wurde die Unterteilung eines GFKs in Teilfahrstraßenknoten (TFK) in [Schwanhäußer 1978] vorgeschlagen. Ein TFK wird nach der Bedienungstheorie als einkanalige Bedienungsstelle betrachtet, in der maximal eine Fahrmöglichkeit zu einem Zeitpunkt stattfinden kann. Bei der Engpassanalyse durch die analytische Methode werden TFK als Engpässe identifiziert, an denen hohe Wartezeiten entstehen und deren Qualitätsfaktor nicht der gewünschten Qualitätsnorm entsprechen. Die Infrastrukturmodellierung mit TFK nach [Vakhtel 2002] wird in Abschnitt 3.1 beschrieben.
Seit der Entwicklung der Rechentechnik werden Simulationsverfahren auch immer häufiger bei Leistungsuntersuchungen eingesetzt. Simulationsverfahren sind bei Leistungsuntersuchungen für Infrastrukturen mit komplexen Gleisstrukturen von Vorteil, da die Berechnung mit analytischen Verfahren für solche vielschichtigen Infrastrukturen wegen des sehr hohen Aufwands kaum möglich ist. Die simulative Methode ermöglicht es, alle Teile des Eisenbahnknotens (Fahrstraßenknoten, Gleisgruppen und Teilstrecken) in eine Untersuchung einzubeziehen und dabei den Betriebsablauf detailliert nachzubilden. Darüber hinaus können dispositive Maßnahmen und ihre Auswirkungen abgebildet und untersucht werden3.
Simulationsverfahren sind experimentelle Methoden, bei denen sich die Kennwerte aus mehreren „Betriebsversuchen“ ergeben. Bei diesen Verfahren wird ein vorgegebenes Betriebsprogramm (Fahrplan) auf einer Infrastruktur in Simulationswerkzeugen realitätsnah abgebildet. Für jede Simulation werden verschiedene Kennwerte der Betriebsqualität (z.B. Wartezeit) für die entsprechende Belastung als Ergebnisse generiert. Die Bewertung erfolgt nach einer hinreichenden Anzahl von Simulationen.
Mit Simulationsverfahren kann der Betrieb komplexer Infrastrukturen auch realitätsnah abgebildet werden. Es gibt zahlreiche Möglichkeiten, die Betriebsqualität der Infrastruktur zu bewerten. So können auch zufällige Störungen verschiedener Arten sehr detailliert in der Betriebsdurchführung/Simulation eingefügt werden. Dies ist bei analytischen Verfahren so nicht möglich.
Simulationsverfahren werden in der Praxis oftmals auch für die Feinoptimierung der Infrastruktur und der Betriebsprogramme verwendet. Bei Leistungsuntersuchungen komplexer Infrastrukturen haben Simulationsverfahren gegenüber analytischen Verfahren Vorteile, da bei letzteren eine genaue mathematische Berechnung nicht möglich ist. Um eine Lösung für komplexe Infrastrukturen mit analytischen Verfahren zu berechnen, muss das Modell daher stark vereinfacht werden, wodurch es zu großen Ungenauigkeiten kommen kann.
Statistisch gesicherte Ergebnisse können sich nur aus zahlreichen Simulationen ergeben, die mitunter einen erheblichen Zeitaufwand erfordern. Weil diese Einschränkung nicht auf theoretischen Bewertungsansätzen sondern technischen Beschränkungen beruht, wird die damit einhergehende Limitierung durch die rasante Entwicklung der Rechentechnik weitgehend aufgehobe...