Der Sport kann als Mutter aller Geschicklichkeitsspiele verstanden werden. Es geht um Wettkampf, Leistungsvergleich und schließlich um die Frage, wer der beste Athlet von allen ist. Ein Akteur, der aufgrund seines Talents und/oder seiner erworbenen Fähigkeiten und Fertigkeiten (physischer und/oder psychischer Natur) geschickter ist als seine Gegner, nimmt automatisch die Favoritenrolle ein und kann erwarten zu gewinnen. Ein ungeübter Akteur hingegen geht als Außenseiter ins Rennen und kann letztlich nur hoffen, als Sieger vom Platz zu gehen. Letztgenannte Ausgangslage findet sich auch bei Glücksspielen wieder. Hier ist die Vorherbestimmung als "Underdog" jedoch auf die Spielregeln zurückzuführen. Diese sind nämlich stets zu Ungunsten des Spielteilnehmers ausgelegt und verdammen ihn schließlich dazu, langfristig zu verlieren, sofern ihm Fortuna nicht zur Seite steht. Bei Geschicklichkeitsspielen hingegen ist nicht fehlendes Glück sondern in erster Linie mangelndes Geschick verantwortlich für eine Niederlage.
Bereits seit vielen Jahren wird sowohl in Österreich als auch auf internationaler Ebene darüber diskutiert, ob es sich bei Poker um ein Glücks- oder Geschicklichkeitsspiel handelt. In Brasilien beispielsweise, dem Austragungsland der FIFA Weltmeisterschaften 2014 und der Olympischen Sommerspiele 2016, wurde Poker bereits als Sport anerkannt. In Österreich hingegen wird Poker vom Gesetzgeber als Glücksspiel definiert.1 Zudem änderte die Österreichische Bundes-Sportorganisation im Jahr 2011 ihre Statuten und sprach sich darin gegen die Aufnahme von Denkspielen aus. Dies ist umso überraschender, weil die internationale Bewegung eine andere Richtung einschlägt: Im Rahmen der Generalversammlung des Weltsportverbandes SportAccord wurde am 19. April 2005 die International Mind Sports Association (IMSA) gegründet, welche die Positionierung des Denksports sowohl gesellschaftlich als auch institutionell festigen möchte, und darüber hinaus das Ziel verfolgt, mit den "World Mind Sports Games" eine Denksport-Großveranstaltung in die olympische Bewegung zu integrieren. Zu den Gründungsmitgliedern der IMSA zählen der internationale Schach-, Bridge-, Go- und Dame-Verband, und auch die International Federation of Poker soll in den kommenden Jahren als Mitglied aufgenommen werden.
Um nun die Eigenschaften des Pokerspiels zu untersuchen, wird nicht – wie dies im Glücksspielgesetz (fehlerhaft) gefordert wird – der absolute Glücksanteil des Spiels unter die Lupe genommen, sondern der Fokus auf den relativen Geschicklichkeitsvorteil eines Spielers gelegt. Diese Herangehensweise ist zwar aus juristischer Sicht nicht legitim, weil hier die Abgrenzung zwischen Glücks- und Geschicklichkeitsspiel dahingehend erfolgt, dass eine der beiden Komponenten für das Zustandekommen des Spielergebnisses überwiegt. Die Sinnhaftigkeit dieser Definition muss jedoch in Frage gestellt werden, weil sie in Bezug auf anerkannte Geschicklichkeitsspiele nicht haltbar ist. Zufallselemente, die mit der Glücksspieleigenschaft eines Spiels in Zusammenhang gebracht werden, können nämlich auch im Sport maßgeblich das Endergebnis beeinflussen. Man denke beispielsweise an den Aufwind beim Skispringen, den Netzroller beim Tischtennis oder die Fehlentscheidung des Schiedsrichters beim Fußball.
Vielmehr muss daher die Frage gestellt werden, ob es einem Spieler grundsätzlich möglich ist, durch den Einsatz seiner "Skills" einen Vorteil gegenüber seinen Mitstreitern zu erlangen. Wenn diese Prämisse erfüllt ist, muss es sich zwangsläufig um ein Geschicklichkeitsspiel handeln, denn ein "geschickter" Spieler wird einem "ungeschickten" Akteur immer überlegen sein. Ob das Spielergebnis dann auch repräsentativ dem Kräfteverhältnis der Teilnehmer gegenüber ist, muss gesondert betrachtet werden. Für die Klassifizierung eines Spiels darf dies jedoch keine Relevanz haben.
Um den relativen Geschicklichkeitsvorteil im Pokerspiel zu erheben und damit die Daseinsberechtigung von Poker als Mind Sport zu erörtern, wird in dieser Arbeit dem sog. Skill-Faktor auf den Grund gegangen.
In diesem Kontext ergeben sich folgende Fragestellungen:
- Wie ist das Pokerspiel strukturell aufgebaut?
- Welche Strategien sind spieltheoretisch optimal?
- Wie verhalten sich reale Akteure in der Spielpraxis?
- Welche Konsequenzen ergeben sich aus suboptimalen Verhaltensweisen?
- Wie kann der relative Geschicklichkeitsvorteil quantifiziert werden?
Als Methode wurde ein theoretisch-analytischer Ansatz gewählt. Zunächst wurde das Fachgebiet der Spieltheorie herangezogen, um die Spieleigenschaften von Poker zu ergründen und optimale Spielstrategien zu definieren. Anschließend wurden empirische Befunde zum Entscheidungsverhalten realer Personen in strategischen Situationen untersucht. Auf Basis der Theorie zu beschränkter Rationalität wurden schließlich für die von der Spieltheorie abweichenden Verhaltensmuster Erklärungsansätze herausgearbeitet. Die Kategorisierung von Spielweise und Spielstärke erfolgte durch Einbeziehung von Forschungsergebnissen aus dem Gebiet der künstlichen Intelligenz. Die gewonnenen Erkenntnisse wurden anschließend auf ein vereinfachtes Pokerspiel per Computer-Simulation angewandt. Die Ergebnisse wurden schließlich verwendet, um vom erwarteten Spielergebnis auf das Kräfteverhältnis der Akteure, respektive den relativen Geschicklichkeitsvorteil eines Teilnehmers, zu schließen.
Das erste Kapitel liefert eine Einführung in die Spieltheorie und bildet die Basis für weiterführende Analysen in dieser Arbeit. Es wird auf verschiedene Charakteristika von Spielen eingegangen, der rationale Akteur und dessen Nutzen im Spiel beschrieben sowie seine strategischen Handlungsalternativen aufgezeigt. Nach einer Erläuterung zur grafischen Darstellungsform von Spielen werden Lösungskonzepte präsentiert und diese schließlich auf vereinfachte Pokerspiele angewandt. Im zweiten Kapitel werden Divergenzen der Spieltheorie zur Spielpraxis aufgezeigt und der Entscheidungsprozess von realen Personen aus kognitiver und emotionaler Perspektive beschrieben. Es folgt eine Kategorisierung von Spielertypen und die Vorstellung von Spielstrategien, die auf eine fehlerhafte Spielweise der Kontrahenten ausgerichtet sind. Nach einer spielpraktischen Analyse der Pokervariante "No Limit Texas Hold´em" wird abschließend der Bezug zum Spielergebnis hergestellt und dabei verdeutlicht, dass der relative Geschicklichkeitsvorteil eines Akteurs das relevante Maß für die Abgrenzung zwischen Glücks- und Geschicklichkeitsspielen sein muss.
Bei der Erstellung der Arbeit wurde großer Wert darauf gelegt, dass auch Personen, die mit dem Pokerspiel nicht vertraut sind, den Inhalten gut folgen können und Schritt für Schritt an die Komplexität des Spiels herangeführt werden. Aber auch Leser, die sich bereits seit Jahren mit dem Pokerspiel auseinandersetzen, sollen an dieser Arbeit Gefallen finden, denn es wird strukturiert und detailliert in die Tiefe der Materie eingetaucht.
Der Mathematiker John von Neumann und der Wirtschaftswissenschafter Oskar Morgenstern gelten als Begründer der Spieltheorie. In den 1950er Jahren brachten sie mit "The Theory of Games and Economic Behaviour" ein fundamentales Standardwerk heraus, welches nachhaltig zahlreiche Wissenschaftsdisziplinen prägen sollte. Die moderne Spieltheorie findet Anwendung im Bereich der Ökonomie, Politik, Soziologie, Psychologie, Biologie und zahlreichen anderen Lehr- und Forschungsgebieten.
Seit jeher beschäftigt sich die Spieltheorie auch mit verschiedenen Gesellschaftsspielen, weil diese aufgrund der genau definierten Regeln und klaren Zielsetzungen der Teilnehmer ideale Voraussetzungen für spieltheoretische Analysen bieten. Erste Untersuchungen in der Literatur bezogen sich dabei auf Schach (Zermelo, 1913) und Poker (Borel, 1938).
In den letzten Jahren wurde vor allem auf dem Gebiet der künstlichen Intelligenz mit Gesellschaftsspielen geforscht. Das berühmteste Beispiel liefert wohl der von IBM entwickelte Schachcomputer "Deep Blue", welcher 1997 erstmals den amtierenden Weltmeister bezwingen konnte (Campbell, Hoane & Hsu, 2002). Des Weiteren findet man interessante spieltheoretische Abhandlungen zu Dame (Schaeffer & Lake, 1996), Go (Müller, 2002), Bridge (Frank, 1996) und Poker (Billings, 1995).* Das Pokerspiel rückte nicht nur durch dessen gestiegene Popularität in den Mittelpunkt des Forschungsinteresses, sondern auch aufgrund der besonderen Eigenschaften des Spiels:
The game of poker ist logistically simple yet strategically complex, and offers many properties not exhibited by chess, checkers, and most other well-studied games. Most importantly, poker is a non-deterministic game with imperfect (hidden) information. Handling unreliable or incomplete information is a fundamental problem in computer science, and poker provides an excellent domain for investigating problems of decision making under conditions of uncertainty. (Billings, 1995, S. 1)
Im Hinblick auf den Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit, scheint vor allem die Abgrenzung zur Entscheidungstheorie von Interesse zu sein. Diese beschäftigt sich nämlich ausschließlich mit Situationen, in denen gegen eine unbeeinflussbare Wahrscheinlichkeitsverteilung gespielt wird, wie dies beispielsweise bei Roulette der Fall ist. Zahlreiche Methoden und Ergebnisse der Entscheidungstheorie wurden daher aus der Untersuchung von Glücksspielen gewonnen.
Die Spieltheorie betrachtet dagegen keine Glücksspiele, sondern strategische Spiele, die allerdings auch Zufallselemente enthalten können. Als strategisches Spiel wird jede Entscheidungssituation bezeichnet, in der mehrere vernunftbegabte Entscheider Einfluss auf das Resultat haben und ihre eigenen Interessen verfolgen. (Rieck, 2009, S. 36)
Nachdem das Spielergebnis bei einer strategischen Interaktion von den Wahlhandlungen aller beteiligten Akteure abhängt, muss sich jeder Spieler auch Gedanken über das Verhalten seiner Gegner machen. Zudem muss berücksichtigt werden, dass auch die Gegenspieler Erwartungen in Bezug auf das eigene Verhalten bilden und daraufhin ihre Strategien entsprechend ausrichten.
Ziel der Spieltheorie ist es schließlich, durch eine detaillierte Analyse der Spieleigenschaften, für jeden Spielteilnehmer eine optimale Strategie zu finden und damit eine Verhaltensempfehlung für Entscheidungssituationen zu definieren. Kann für jeden Akteur eine solche Strategie gefunden werden, gilt das Spiel als gelöst (Lück & Weck, 2008, S. 1)
In den nachfolgenden Kapiteln sollen einleitend die zentralen Elemente eines Spiels vorgestellt und die wichtigsten Charakteristika für eine Klassifikation von Spielen angeführt werden. Im Anschluss wird auf den rationalen Spieler, seinen Nutzen und dessen strategischen Handlungsspielraum eingegangen. Des Weiteren werden die gängigsten Darstellungsformen von Spielen und ausgewählte Lösungskonzepte der Spieltheorie präsentiert, welche anhand anschaulicher Beispiele erläutert werden. Darauf aufbauend werden die strategischen Elemente von vereinfachten Pokerspielen analysiert und schließlich eine Lösung des Zielspiels "Heads Up No Limit Texas Hold´em Push/Fold" präsentiert.
Formal betrachtet kann die Charakterisierung eines Spiels auf Basis nachfolgender Elemente zurückgeführt werden (Lück & Weck, 2008, S. 2):
- Die Menge der Spieler gibt an, wie viele Akteure sich aktiv am Spiel beteiligen. Wenn der Spielverlauf zu irgendeinem Zeitpunkt vom Zufall abhängt, spricht die Spieltheorie von einer Entscheidung der "Natur" und skizziert dies als Pseudospieler. Zu derartigen Situation kommt es beispielsweise bei allen Würfel- und Kartenspielen.
- Die Strategiemenge, die jedem Spieler zur Verfügung steht, repräsentiert die Handlungsalternativen in jeder Entscheidungssituation. Nach einer spieltheoretischen Analyse wählt der Akteur schließlich eine Aktion aus der Strategiemenge aus, und zwar jene, die ihm den größten Nutzen bringt.
- Die Auszahlungsfunktion ist abhängig von den tatsächlich gewählten Strategien aller Spieler und dem daraus resultierenden Spielverlauf. Das Spielergebnis wird schließlich über den sog. Payoff angegeben. In einem Spiel wie Schach kann dieser beispielsweise drei Ausprägungen haben: Sieg, Niederlage, Unentschieden.