Harte Arbeit an frischer Luft
Man sagt, dass Eskimos34 40 verschiedene Ausdrücke für Schnee kennen. Archäologen kennen noch weitaus mehr für Dreck. Sie sprechen dann von Laufniveaus, Abbruchschichten, Verfüllungen, Aufplanierungen, Brandhorizonten oder Versturz. Das Auge des Laien kann nur ein Loch im Boden erkennen, wo Archäologen Stunde um Stunde in angeregter Fachdiskussion vor einem besonders interessanten Aufschluss oder Profilschnitt verbringen. Für Archäologen ist es vollkommen normal, Dinge zu sehen, die überhaupt nicht da sind. Auch 50 shades of brown reichen nicht aus, um die Farbwahrnehmung eines Archäologen zu beschreiben. Diese Feinheiten sind ausgemachtes Expertenwissen und nur dem Initiierten zugänglich, der auf langjährige Erfahrung als Veteran vieler Ausgrabungen zurückblicken kann. Niemand wird es auf diesem Gebiet zur Meisterschaft bringen, der nicht auf freiem Feld und in der Stadt, nicht in wüstenhafter Abgeschiedenheit und windigen Höhen, nicht in dunklen Höhlen und nebligen Ebenen gleichermaßen ausgegraben hat. Man kann das Ausgraben nicht während des Studiums erlernen. Eine zweiwöchige Lehrgrabung mit Heimfahrt am Wochenende kann nur einen bescheidenen Eindruck dessen vermitteln, was wie bei einem Eisberg unter der Oberfläche schlummert. Erst muss man sengende Hitze, beißende Kälte und Schlammbäder wie in den Grabenkämpfen des ersten Weltkrieges am eigenen Körper erfahren haben. Wer dann trotz nasser Füße für die Dokumentation eines bedeutenden historischen Befundes ungefragt seine Kaffeepause hinausschiebt, der darf sich wahrhaftig Archäologe nennen.
Abb. 13. Archäologische Methodik hat es sogar bis in jedermanns Alltagskultur geschafft.
(E. KRÜGER: BASSERMANN RÄTSEL. RÄTSELBLOCK 221. MÜNCHEN 2016.)
Bei allem Pathos: Ausgraben ist und bleibt die Königsdisziplin der Archäologie. Archäologen definieren sich selbst durch Ausgrabungen und werden auch in der Öffentlichkeit fast ausschließlich darüber wahrgenommen (Abb. 13). Archäologen bauen ihre ganze Wissenschaft darauf auf, alte Abfälle wieder aus der Erde zu holen und bilden damit das exakte Gegenteil von Müllmännern. Inhalte von Latrinen sind das tägliche Brot der Archäologen. Ausgraben ist dabei keine leichte Sache, die man etwa als Autodidakt erlernen könnte. Nicht umsonst gibt es das Studium des Grabungstechnikers, eines technischen Leiters archäologischer Ausgrabungen.
Ausgrabungen zur Forschung oder Rettung
Häufig werden die Spuren, die von den Menschen unterschiedlicher Zeitalter im Boden hinterlassen wurden, als Bodenurkunden bezeichnet. Sie können durch Archäologen aufgrund ihrer speziellen Ausbildung, vor allem aber vermittels langer Erfahrung „gelesen“ werden. Anders als der Historiker die Urkunden in den Archiven, kann der Archäologe seine Urkunden durch weitere Ausgrabungen vermehren. Tut er das gezielt an von ihm ausgewählten Plätzen, um noch offene Fragen zu klären, so spricht man von einer Forschungsgrabung. Gehässige Kollegen aus der Bodendenkmalpflege, die auf die geringe gesellschaftliche Relevanz der Steckenpferde mancher Universitätsangehöriger verweisen wollen, verwenden für diese Art der Archäologie konsequent den Begriff der „Lustgrabung“.
Viel häufiger werden in Deutschland Not- oder Rettungsgrabungen durchgeführt. Dafür kommt in den meisten Bundesländern heute das Verursacherprinzip zum Tragen. Wann immer Bodendenkmäler durch einen Bodeneingriff bedroht sind, so wird der Verursacher zur Kasse gebeten. Soll also in einem mittelalterlichen Stadtkern eine Tiefgarage, auf einer bandkeramischen (eine jungsteinzeitliche Kultur) Siedlung am Rand eines Dorfes ein Gewerbegebiet oder auf einem hallstattzeitlichen (eine älter eisenzeitliche Kultur) Gräberfeld im Wald eine Windkraftanlage errichtet werden, dann werden zuerst die Archäologen tätig.
Man kann sich vorstellen, dass sich die zuständigen Bodendenkmalämter damit wenig Freunde unter Bauherren und Gemeindevertretern machen. Der ständige Kampf um den Erhalt oder die fachgerechte Ausgrabung und Dokumentation archäologischer Denkmäler hat viele Amtsarchäologen zermürbt, woraus ein Gutteil ihrer Übellaunigkeit gegenüber ihren Kollegen an den Universitäten erklärbar wäre. Diese wiederum beneiden die Fachämter um ihre technische und personelle Ausstattung, vertreten sie an ihrer Hochschule doch stets das kleinste Fach und müssen bereits für neue Eimer einen aufwändigen Drittmittelantrag stellen35.
Neben der Finanzdecke gibt es noch ein weiteres gravierendes Unterscheidungsmerkmal zwischen Lust- und Notgrabung. Die Erstere wird gerne von völlig verkopften Theoretikern durchgeführt, die ihre erste Ausgrabung selber leiten und dazu nahezu unbegrenzte Zeit zur Verfügung haben. Da sie ganz genau gelesen haben, was man alles machen kann und weil wirklich alles wichtig ist, pinseln sie sich durch dezimeterstarke Brandhorizonte, messen jede darin gefundene Scherbe per GPS dreidimensional ein, dokumentieren mindestens alle zwei Tage den Grabungsfortschritt mittels 3D-Scanner oder Structure from Motion Technik36, zeichnen und beschreiben schließlich alle geborgenen Fundstücke einzeln. Sie halten sich bei der Führung der Dokumentation jedoch grundsätzlich nicht an die entsprechenden Vorgaben der Denkmalämter, die sie als zu oberflächlich ansehen, und schaffen es oft erst nach mehreren Jahren, Funde und andere Unterlagen in deren Obhut zu geben. Die letztere Ausgrabungsart läuft hingegen im Akkord. Mit einem Höchstmaß an Maschineneinsatz und Effizienz wird der zuvor abgesteckte Zeitplan eingehalten (Abb. 14). Koste es, was es wolle! Zuweilen mit dem Erfolg, dass man genauso gut alles gleich hätte abbaggern und danach gründlich aussieben können, um wenigstens die Funde für die Nachwelt zu bergen.
Abb. 14. Trotz maschineller Unterstützung verlangen archäologische Ausgrabungen noch immer ein Höchstmaß an körperlicher Fitness.
(ANNETTE ZEISCHKA-KENZLER)
Ausgraben macht Spaß
Gleichgültig welchen Typus von Ausgrabung man durchführt, egal wie sehr die beteiligten Archäologen und Studierenden über die harte körperliche Arbeit klagen: Ausgrabungen machen einen Mordsspaß! So viel Spaß, dass manche Leute Geld bezahlen, nur um an einer Ausgrabung teilnehmen zu dürfen. Musste man früher Kriegs- oder Strafgefangene einsetzen – in Lübeck habe ich dies in den neunziger Jahren noch selbst erlebt – findet man heute Freiwillige. Die meisten Archäologen, die aus beruflichen Gründen nicht mehr selber zum Ausgraben kommen, weil sie etwa an einem Museum beschäftigt oder in der Hierarchie so weit nach oben gestiegen sind, dass sie nur noch Verwaltungsarbeiten ausführen, sind damit unsagbar unglücklich. Kommen sie einmal aus ihren Büros heraus und besuchen eine Ausgrabung, dann entreißen sie dem Grabungsleiter sogleich die Spitzkelle und begeben sich in eine angeregte Befunddiskussion.
Zwar betonen Bodendenkmalpfleger bei jeder Gelegenheit, dass sie gar nicht ausgraben und forschen wollen, da der ungestörte Verbleib der archäologischen Überreste im Boden der beste Schutz für das Denkmal sei. Doch in Wahrheit würden auch sie gerne den Spaten ansetzen und freuen sich wie kleine Kinder an Weihnachten über geplante Großbauten auf besonders spannenden archäologischen Fundplätzen. Zugeben könnten sie dies aber niemals. Am Ende würden Bauherren nicht mehr für die Dokumentation gefährdeter Bodendenkmäler zahlen oder gar noch Geld dafür verlangen.
Auf Ausgrabungen kann man seine Kindheitsträume ausleben. Man kann im Dreck spielen und nach verschütteten Schätzen suchen. Und man kann Bagger fahren. Was auch dem Laien deutlich vor Augen führen sollte, dass Archäologen nicht mit Minaturlöffelchen arbeiten, sondern Erde bewegen müssen. Versuchen Sie mal eine antike Stadt freizupinseln!
Gefahren
Bagger zu fahren, ist für viele das Größte überhaupt. Die Geländegängigkeit und Wendigkeit eines Kettenfahrzeugs sind unübertroffen. Allerdings braucht es viel Übung seine linke und rechte Hand so zu koordinieren, dass der Bagger nicht mit voller, lang ausgestreckter Schaufel ins Kippen gerät. Sich mit einem Bagger zu überschlagen, von einem Bagger zerquetscht zu werden oder eine Baggerschaufel an den unbehelmten Kopf zu bekommen, gehört zu den größten der mannigfaltigen Gefahren eines Archäologenlebens. Dicht gefolgt davon, in einem tiefen, engen Grabungsschnitt verschüttet zu werden, den mit gutem Grund auf eigene Anweisung hin nur der Chef selber betreten durfte. Außerdem kann man wegen konsequentem Ignorierens sämtlicher gültiger Sicherheitsbestimmungen von freigestellten Kellermauern erschlagen oder von einer Planierraupe überrollt werden, hinter der man sein Frühstücksbrot gegessen hatte, da dort der einzige schattige Platz weit und breit zu finden war. Nicht unerwähnt bleiben sollen auch Blindgänger oder nicht verzeichnete Stromleitungen. Entgegen eines verbreiteten Irrglaubens spielen Flüche, Nachstellungen durch Mumien oder erboste Tempelpriester unter den Todesursachen von Archäologen nur eine periphere Rolle.
Abb. 15. Das Einüben und peinlich genaue Einhalten der Laufwege kann auf Ausgrabungen helfen, Unfälle zu verhindern.
(UNIVERSITÄT TÜBINGEN)
Im Winter durch eine dünne Eisdecke in einen voll Wasser gelaufenen Grabungsschnitt einzubrechen oder das Arbeiten in schimmelpilzverseuchten Grüften stellen hingegen ernstzunehmende Bedrohungen für die Gesundheit dar. Ebenso wilde Tiere, unter denen durch den Baggerbetrieb aufgescheuchte Wildsauen mit ihren Frischlingen und Erdnester von Wespen oder Hummeln die vorderste Stellung einnehmen. Stürze in tiefe Ausgrabungsschnitte gehören zum Standard und wiederfahren oftmals unachtsamen Besuchern (Abb. 15). Bei der eigenen Grabungsmannschaft kann man die Aufmerksamkeit leicht erhöhen, indem das Eintreten von Profilkanten durch die Zahlung eines Kastens Bier bestraft wird. Ungewöhnlicher sind Verletzungen durch die falsche Handhabung des Ausgrabungswerkzeuges, wie etwa die Möglichkeit sich mit der Spitzhacke in den eigenen Kopf zu schlagen. Ernsthaft – ich habe das bei einem meiner Mitarbeiter erlebt. Die Spitzhacke ist dem armen Kerl vom Boden abgeprallt und direkt auf seinen Kopf. Zum Glück ohne gravierendere Folgen, außer einer blutenden Wunde und leichter Benommenheit. Problematischer war für mich das Ausfüllen der Unfallmeldung, vor allem die Frage: „Was wurde unternommen, damit derartige Unfälle in Zukunft nicht mehr auftreten?“
Mittlerweile mache ich für alle Mitarbeiter grundsätzlich Sicherheitsbelehrungen und halte alle Bestimmungen des Arbeitsschutzes peinlich genau ein. Die Erfahrung hat mich gelehrt, dass man nie so dumm denken kann, wie es am Ende kommt. Gerade Studierende sind extrem unfallgefährdet, da sie fast immer unsportlich und handwerklich unbegabt sind. Manch ein Student von heute hat noch nie einen Spaten in der Hand gehabt. Das hat man nun von der Abschaffung der Wehrpflicht!
Wir waren da früher aus einem ganz anderen Holz geschnitzt. Ich habe niemals eine Sicherheitsbelehrung erhalten, weder als Student noch als Angestellter von Denkmalämtern. Ich habe mehrjährige Großgrabungen mit bis zu 50 Mitarbeitern, einem Maschinenpark mit Baggern, Raupen, Bus und Geländewagen genutzt, ohne je über den Arbeitsschutz oder die Baustellensicherung aufgeklärt worden zu sein. Im Nachhinein muss man sich schon wundern, dass in diesen ach so goldenen Zeiten nicht wesentlich mehr folgenreiche Unfälle passiert sind.
Archäologie und Zerstörung
Aber zurück zum Spaß an der Archäologie. Mir hat es stets besondere Freude gemacht, ein eingespieltes Team aus Grabungsarbeitern, Zeichnern, Fotografen, Vermessern und einen angemessenen Maschinenpark zu dirigieren. Wenn ich alles gut im Griff hatte, konnte ich mich als Chef guten Gewissens zurücklehnen und bei einer heißen Tasse Kaffee bereits die ersten Ergebnisse zu Papier bringen, während draußen die Regentropfen an das Fenster des Grabungsbüros prasselten. Auch wenn dies gegenüber den Grabungsarbeitern etwas gemein klingt, ist dies eine Win-win-Situation, denn wer möchte schon, dass ihm der Chef die ganze Zeit über die Schulter schaut?
Meine schönste diesbezügliche Zeit habe um die Jahrtausendwende im Süden von Leipzig verbracht. In den dortigen Braunkohlentagebauen blieb kein Archäologentraum ungelebt. Wie jedes Kind, so haben auch Archäologen Spaß an der Zerstörung. Ich durfte ein ganzes Dorf, den Ort Breunsdorf, mit mehr als 60 großen Höfen und einer spätgotischen Kirche (Abb. 16), insgesamt eine Fläche von 20 ha, wegreißen und ausgraben.
Abb. 16. Reduktion der Breunsdorfer Kirche auf das nach ihrem Abriss akribisch erforschte Bodendenkmal.
(SÄCHSISCHES LANDESAMT FÜR ARCHÄOLOGIE)
Wo hat man schon eine solche Chance, um die Entwicklung eines Ortes von seiner Gründung am Beginn des 12. Jahrhunderts bis zu seiner Verwüstung im Jahr 1995 nachzuvollziehen? Ohne irgendwelche Rücksichten auf bestehende Gebäude oder Interessen von Bewohnern zu nehmen. Sollte tatsächlich so wenig Braunkohle unter Leipzig sein, dass sich eine Umsiedlung nicht lohnt? Schade nur, dass an Stelle von Breunsdorf heute ein immenses Loch in der Landschaft klafft.
Ausdrücklich muss betont werden, dass es sich bei sämtlicher Braunkohlenarchäologie um Rettungsgrabungen handelt. Nicht wir Archäologen wollen oder forcieren die Zerstörung von Ortschaften, sondern die Betreiber der Tagebaue, die im öffentlichen Interesse handeln. Nun kann man sich über Sinn und Unsinn des Abbaus von Braunkohle und der letztlich wenig umwelt- und ressourcenschonenden Erzeugung von Energie aus diesem fossilen Brennstoff trefflich streiten. Die Umsiedlung der Einwohner, die in der Vergangenheit weder in Ost- noch in Westdeutschland angemessen entschädigt worden sind, und der Verlust der Kulturlandschaft sind eine Tragödie. Doch Archäologen unterstützen nicht den Abbau von Braunkohle in Deutschland. Sie versuchen sich nicht politisch vereinnahmen zu lassen. Man stelle sich aber vor, was ohne die vorherige archäologische Untersuchung gewonnen wäre. Bewohner wären trotzdem umgesiedelt, Ortschaften dennoch z...