Unterschiedliches ist gut
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Unterschiedliches ist gut

Theater, Lyrik, Essays, Literaturkritik

  1. 236 Seiten
  2. German
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Unterschiedliches ist gut

Theater, Lyrik, Essays, Literaturkritik

Über dieses Buch

Unterschiedliches, das sind Gedichte und Theatertexte, das sind Literaturkritiken aus fast 30 Jahren und das sind Essays, zur Malerei der Gegenwart, zu Erinnerung im digitalen Zeitalter, zur Geschichte, Gegenwart und Zukunft von Schule, zu Kunst und Gewalt sowie zur Wirkung von Sprache: "Weltflucht, Wortkeule und Zaubervers".

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Information

Jahr
2019
ISBN drucken
9783741252167
eBook-ISBN:
9783749417650
Auflage
2
Thema
Poesie

„Ich suche nicht X. Ich suche das Weib“ – „Ich bin weder das
eine noch das andere.“

Zur Funktion des Weiblichen bei Wedekind: Von Subversionen
und Aversionen.
Eine Semiotik der Geschlechter, die sich nicht damit begnügt, unterschiedliche Prägungen des Männlichen und des Weiblichen gleichberechtigt nebeneinander aufzulisten, könnte von Untersuchungen zur Funktion des Weiblichen nur gewinnen: So ist in diesen beispielsweise für die nicht unwichtige Frage nach der Konstitution von Geschlechtlichkeit eine Vorgehensweise entwickelt: Sie führt über die Frage nach dem, was als weiblich konstituiert wird, zur Funktionalität des Weiblichen innerhalb der Ordnung, in der es situiert ist, und verweist damit auch auf den Ort des Männlichen. Von Interesse müssten auch die Ergebnisse dieser Untersuchungen sein. Sie lassen sich in der These zusammenfassen, dass „die Tötung des Weiblichen konstitutiv für die Kunstproduktion wie für die Hervorbringung der kulturellen männlichen Ordnung überhaupt sei.“2
Im Folgenden soll es nicht einfach darum gehen, diese These mit Ausführungen zum Werk Frank Wedekinds zu illustrieren. Gezeigt werden soll vielmehr auch, dass sich, von ihr ausgehend, neue Fragen stellen lassen. Dazu ist zunächst auf die Lulu-Dramen „Erdgeist“ und „Die Büchse der Pandora“ einzugehen, weil in ihnen die Tötung des Weiblichen in spezifischer Weise thematisch wird.
Der Forschung galt Lulu lange Zeit als Inbegriff von Weiblichkeit. Uneins war man sich allerdings in der Frage, welche Weiblichkeit in ihr so treffend verkörpert sei: „Wandelnde(r) Männermord“3 meinten die einen, „unbedingte Moral“4 die anderen. Zur einen wie zur anderen Festschreibung, zur Dämonisierung wie zur Idealisierung, sagt Lulu selbst schlicht: „Ich bin weder das eine noch das andere“.5 Mit diesem Satz weist Lulu die Vorstellungen zurück, welche sich die männliche Hauptfigur im „Erdgeist“, Dr. Schön, von ihr macht. Ihre Verkennung ist damit im Stück selbst schon dargestellt. Hellhörige Interpretationen haben die Suche nach Lulus Wesen dann auch aufgegeben und stattdessen die inszenierten Männerprojektionen nachgezeichnet, wozu schon der Prolog im „Erdgeist“ einlädt: Zwar präsentiert der Tierbändiger Lulu stereotyp genug als „Schlange“6, als „Urgestalt des Weibes“7. Paradoxerweise ermahnt er sie aber anschliessend, nicht aus der Rolle zu fallen und markiert damit selbst die Künstlichkeit des angeblich wesenhaft Weiblichen; die „Urgestalt des Weibes“8 erscheint als Effekt einer Zurichtung.
Allerdings ergibt sich aus der These, in den Lulu-Dramen sei der Vorgang männlicher Projektion dargestellt, auch ein Problem: Diese These impliziert die Frage, worauf denn projiziert werde. Die Antwort aber droht, wenn auch auf einem anderen Reflexionsniveau, die Festschreibung der Lulu-Figur zu wiederholen, was sich leicht an der Wortwahl der genannten Interpretationen zeigen lässt: So erinnert beispielsweise die Bestimmung Lulus als „Hohlform männlicher Projektionen“9 doch unvermeidlich an die Gefässmetapher und bewegt sich damit bereits wieder auf eine Idealisierung zu. – Als wenn sich Lulu nicht die Finger schmutzig machte!
An dieser Stelle hat eine andere Lektüre der Lulu-Dramen eingesetzt und gezeigt, dass die disparaten Teile der bisherigen Forschung im altbekannten Mythos der ‚femme fatale‘ vereint sind: Lulu ist eben einerseits schön und anziehend, was nicht erst im 4. Akt von „Erdgeist“ überdeutlich wird: Im 3. Auftritt zieht sie gleichzeitig einen Ehemann, eine Verehrerin, einen Verehrer, zwei Liebhaber und zwei Männer, die sie zumindest ursprünglich haben heiraten wollen, in ihren Bann. Lulu ist aber auch zerstörend, davon zeugen nicht nur eine Reihe sterbender Männer, sondern auch eine vergiftete Frau.10
Das Besondere an Wedekinds Text liegt nun darin, dass er den langlebigen Mythos von der schönen aber dämonischen Frau gerade nicht in einer neuen Auflage wiederholt, sondern als Mythos selbst thematisch macht: Immer wieder wird auf die Künstlichkeit dieses Mythos verwiesen, auf seine Formierung durch ein männliches Begehren, und zwar so, dass keine Referenz auf eine ‚tatsächliche‘ Frau mehr möglich ist: Lulu ist weder Inbegriff weiblicher Natur noch Opfer männlicher Projektionen, ist nichts als deren Verkörperung. Zu den Verfahrensweisen, welche die Lulu- Dramen absetzen von der blossen Wiederholung des Mythos ,femme fatale‘ ebenso wie vom Drama einer verkannten Frau gehört etwa das Zitieren und Zusammenführen von Präsentationsformen des Weiblichen aus den unterschiedlichen Kunstbereichen Malerei, Zirkus, Revue und Theater. Die Verdoppelung und Vervielfältigung der ,künstlichen‘ Präsenz des Weiblichen aber macht erst auf eine prinzipielle Absenz aufmerksam: Wie die zahlreichen Namen Lulus auf das Fehlen eines eigenen Namens und damit auf das Fehlen eines eigenständigen Selbst verweisen - denn ‚Lulu‘ ist nur der Name ihres ersten Mannes, ihres inzestuösen Vaters Schigolch -, so gibt die schillernde „Inszenierung der inszenierten Weiblichkeit“11 die „Tragödie vom Fehlen der Frau“12 zu erkennen. Indem die Lulu-Dramen die Tötung des Weiblichen als dessen Zurichtung durch und für ein männliches Begehren nicht wiederholen, sondern inszenieren, unterbrechen sie aber deren Vollzug.
Wer in den Lulu-Dramen zumindest einen Ansatz für eine radikale Kritik der Geschlechterverhältnisse sieht, wird von den erst kürzlich wieder lückenhaft publizierten Tagebüchern Wedekinds enttäuscht sein. Wo immer das Ich sein Verhältnis zu Frauen thematisiert, erscheinen diese als Hure oder als Heilige. Daran ändern die häufigen Ortswechsel ebenso wenig wie der Lauf der Zeit. Ob das Ich noch auf dem elterlichen Schloss Lenzburg aus Langeweile mit nahen Bekannten tändelt, ob es als Einzelgänger in München oder Berlin keusch-schüchtern Tantalusqualen leidet oder in Paris als Bohemien mit schnell schwindendem väterlichen Erbe der Hurerei frönt, endlos wiederholt sich die Spaltung des Weiblichen in eine äusserst anziehende und eine sehr abstossende Hälfte: So kontrastiert die dauerhafte Vorliebe für Stupfnasen mit einem pauschalen Rundumschlag gegen alle Münchnerinnen13; Prostituierte erscheinen als „Priesterinnen“14 oder als „scheussliche Huren“15; auch macht die Spaltung selbst vor Körpergrenzen nicht Halt: Beispielsweise beschreibt das Ich Wilhelmine zunächst noch ganzheitlich als „reizend“16, erwägt aber kurz danach, ihr den Mund zuzunähen.
An einigen Stellen aber wird die Funktion dieser durchgängigen Verobjektivierung des Weibliche deutlich, etwa, wenn sich das Ich vergegenwärtigen muss, was es sucht: „Ich suche nicht X. Ich suche das Weib.“17 Wie der anschliessende Satz zeigt, will sich das Ich nicht gänzlich von X trennen: „In jeder Gestalt soll es mir willkommen sein“18 - also auch in der Gestalt von X. Schon zwei Jahre zuvor hatte das Ich einer anderen Frau in reizender Manier eröffnet, „sie in erster Linie als Typus und dann erst als Individuum zu betrachten“19. Weniger souverän ist es jetzt allerdings damit beschäftigt, sich selbst diesen Satz einzuhämmern, aus Gründen, die ebenfalls zur Sprache kommen: Das Ich fürchtet angesichts der angeblichen Verliebtheit von X, selbst den Kopf zu verlieren. Die Eintragung beginnt dann auch mit dem nachdrücklichen Appell: „Kopf hoch! Kopf hoch! Ihr gegenüber die Maske nicht fallen lassen.“20 Lesbar wird somit ein direkter Zusammenhang zwischen der Entsubjektivierung des Weiblichen und der Furcht des Ich vor Selbstverlust: Das Ich bleibt Herr der Lage nur, indem es eine Distanz zum/des Weiblichen erdichtet, die Verortung des Andern hat die Funktion, dem Ich die Einzigartigkeit zu sichern: „Ich bin nicht weniger, ich bin mehr als jeder andere.“21 - eine Vorstellung, die übrigens nicht zuletzt von seinem Selbstverständnis als Künstler verfestigt wird.22
Die Gegenüberstellung der Lulu-Dramen und der Tagebücher von Frank Wedekind wollte vor allem eines nicht: Ein weiteres Mal einem männlichen Autor sein gespaltenes Frauenbild nachweisen. Nicht länger aber sollten Fragen zur Funktion des Weiblichen mit Hilfe der Opposition Autor-Werk auf die Texte beschränkt werden, die als ‚Werk‘ kursieren. Die Berücksichtigung der Tagebücher erfolgte vielmehr in der Absicht, einen ersten Ansatz zur Auffächerung dieser Opposition anzudeuten; ausgehend von der Verschriftlichung eines Autors wären mit dem ‘Werk‘ auch so unterschiedliche Textsorten wie Briefe, Notizbücher und Agenden in den Fragehorizont einzubeziehen. Anders als bei Vergleichen innerhalb eines Genres ginge es dabei nicht darum, subversive Texte von festschreibenden Texten nur zu unterscheiden. Vielmehr wären Texte aus unterschiedlichen Genres miteinander in Beziehung zu setzen, wobei auch genretheoretische Überlegungen berücksichtigt werden müssten.
In den Vergleich der Tagebücher mit den Lulu-Dramen ist beispielsweise mit einzubeziehen, dass Tagebücher wie Autobiographien bis zum Ende des 19. Jahrhunderts einen nicht zu überschätzenden Beitrag zur Subjektivierung der Menschen leisten.23 Vor diesem Hintergrund ist aber die Frage zu stellen, ob nicht die Verfestigung des Ich in den Tagebüchern, die ja einhergeht mit einer Verobjektivierung des Weiblichen, die Voraussetzung dafür bildet, dass in den Lulu-Dramen eine Bewegung, eine Verflüssigung, eine Subversion auch der erstarrten Weiblichkeitsmuster stattfinden kann. Zieht man diese Möglichkeit in Betracht, so stellt sich auch die Frage, ob eine Texttheorie, welche ganz allgemein ein „Subjekt im Prozess“24 postuliert und als dessen Voraussetzung nur nennt, die Kastration müsse traumatisch gewesen sein25, nahe genug an das vermutete Beziehungsgeflecht von Texten herankommt, um für eine radikale Kritik der Verobjektivierung des Weiblichen, die ja nicht zuletzt auch eine andere Konzeption des Männlichen im Blick haben müsste, zu taugen.26

Bilder des Andern – Das Andere der Bilder

Literatur und Theorie anhand von Wolfgang Koeppens „Der Tod
in Rom“
Seit kurzem ist es wissenschaftlich bewiesen: Fremdenfeindlichkeit und Fremdenhass stehen in keinem direkten Zusammenhang mit dem Anteil der AusländerInnen an der Gesamtbevölkerung eines Landes. Eine Nationalfondsstudie hat den Nachweis erbracht, dass in den letzten 100 Jahren die Phasen verstärkter Thematisierung von Überfremdungsängsten in der Schweiz nicht mit den Phasen übereinstimmen, in denen der Anteil der ausländischen Wohnbevölkerung angestiegen ist.27 Auch wirtschaftliche Krisen lassen sich nicht als direkte Ursachen von intensiv betriebener Abwehr gegenüber den AusländerInnen ausmachen. Damit sind aber nur zwei zentrale Mythen offizieller politischer Rede widerlegt. Einen dritten Mythos lassen die Autoren der Studie unwidersprochen, sind sie selbst doch der Ansicht, die Hauptursache von Fremdenfeindlichkeit sei eine tiefgreifende Verunsicherung und Identitätskrise der Gesellschaft, wie sie im Prozess der Modernisierung phasenweise immer wieder auftrete: „Das Fremde ist immer auch das Unvertraute. Es braucht schon sehr viel Selbstsicherheit, um nicht mit Verunsicherung, Bedrohungsgefühlen zu reagieren.“28 Diese Aussage von Gaetano Romano, einem der Leiter des Projektes, steht in einem diametralen Gegensatz zu dem, was in den folgenden Ausführungen zur Sprache gebracht werden soll. In ihrer Konsequenz bedeutet die Aussage, dass die Ausbildung von Selbstsicherheit eine Strategie zur Bekämpfung von Fremdenfeindlichkeit darstellt, die wahren AntirassistInnen also an ihrer unerschütterlichen Identität zu erkennen sind. Dagegen steht am Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen die These, dass die Ausbildung von Identität notwendig mit der Ausschliessung des Anderen einhergeht. Zur Illustration muss hier die Reflexion auf den bisherigen Verlauf dieses Textes genügen: Über eine Absetzung von einer anderen Position gewinnt die eigene Position nach und nach an Kontur…
Dreierlei soll in der Folge gezeigt werden: Dass diese Ausschliessung des Anderen jeweils in einem komplexen Geflecht abwertender und idealisierender Bilder des Anderen erfolgt, dass eine Kritik dieser Bilder, die auf ein Bilderverbot abzielt, das Kind mit dem Bade ausschüttet und dass der literarische Diskurs Strategien zur Arbeit an den Bildern des Anderen bereitstellt, von denen der theoretische Diskurs meist nur träumt.
Wolfgang Koeppens Roman „Der Tod in Rom“, 1954 erschienen und von der Kritik gut aufgenommen, aber noch immer nicht ausgeschöpft,29 versammelt eine Reihe deutscher Touristen im Rom der fünfziger Jahre. Einige von ihnen haben zuhause Goethes „Italienische Reise“ im Bücherschrank; mit dem einsetzenden Wirtschaftswunder wird auch Italien als „Land der Sehnsucht, Land der Deutschen“30 (27) wieder aktuell. Doch weist schon der Titel des Romans darauf hin, dass nicht nur das klassische, idealisierte Bild von Italien als Land schöner Natur, bildender Kultur und edler Menschen zur Sprache kommt, sondern auch dessen Kehrseite, Italien als todbringender Ort, seit Thomas Manns „Der Tod in Venedig“ im deutschsprachigen literarischen Diskurs mit gleicher suggestiver Differenziertheit verbildlicht wie die Idealisierung.31 Die Verschiebung des Handlungsortes von Venedig, schon vor Thomas Mann als Ort morbiden Reizes bekannt, nach Rom, dem klassischen Ort abendländischer Kulturtradition, deutet eine Radikalisierung an, die für Koeppens Roman kennzeichnend ist. Zwar fahren erneut Touristen nach Rom in der Erwartung einer Begegnung mit der abendländischen Kulturtradition, doch wird im Verlauf des Textes, der aus der Perspektive mehrerer deutscher Reisender während zweier aufeinanderfolgender Tage erzählt ist, Rom nahezu durchgängig mit dem Tod in Verbindung gebracht. So werden alle erwähnten Sehenswürdigkeiten mit dem Tod assoziiert. Das Nationaldenkmal von Vittorio Emanuele 11 am Ende des Corso wird ausdrücklich als „Ehrenmal des toten Soldaten“ (58) vorgestellt, von der Engelsburg werden insbesondere die „Mordgruben, Todesbrunnen“ (115) beschrieben, auch der Petersdom wirkt nicht nur „kalt kalt kalt“ (110), sondern vermag vor allem durch eine Skulptur, die einen Toten darstellt - Michelangelos Pietà - zu beeindrucken. Doch nicht nur Sehenswürdigkeiten werden mit dem Tod in Zusammenhang gebracht: Der Abstieg zum Tiber wird als Gang „zu den Toten hinab“ (115) bezeichnet, ein nächtlich stiller Platz wird zum „stillen und toten Platz“ (82), ebenso ist „Am späten Abend [ ... ] die Via dei Lavatore eine tote Strasse“ (59), und selbst der Trevi-Brunnen wird mit dem Tod konnotiert. Die ‚Ewige Stadt‘ ist in Koeppens Roman also auf vielfältige Weise mit dem Tod verknüpft. Eine genaue Lektüre zeigt dabei, dass diese Verbildlichung Roms durchgängig als Projektion der deutschen Touristen markiert ist. Besonders deutlich wird dies an einer Textstelle, an der das tote Rom deutschen Reisenden als Spiegel erscheint: „(...) und es war Adolf recht, dass die Stadt den Frieden eines Friedhofs hatte, und vielleicht war auch er gestorben, es war ihm recht, und ging als Toter durch die tote Stadt und suchte als Toter die Gasse mit der Absteige der reisenden Kleriker, auch sie Tote, tot in ihren toten Betten in ihrer Totenabsteige (…).“ (84) Verweist die Todeskonnotation Roms auch nur unbestimmt auf eine Kehrseite der «schönen Italienfahrt», so wird immerhin klar, dass sich im todesfixierten Bild vom anderen Land eigene Probleme artikulieren, dass die Wahrnehmung kultureller Differenzen überschattet ist von inneren Differenzen. Noch bevor anhand der Hauptfiguren des Romans genauer untersucht wird, welche Probleme hier zur Sprache drängen, ist die Komplexität, mit der Koeppen Bilder des Anderen zueinander in Beziehung setzt, theoretisch zu reflektieren. Bemerkenswert ist insbesondere, dass der scheinbar zentrale Bildzusammenhang des Textes, die Wahrnehmung Italiens durch die Deutschen, nicht nur in seiner Widersprüchlichkeit und Ambivalenz, im Schwanken zwischen Begeisterung für das schöne Italien und Abwehr der zahlreichen Hinweise auf den Tod ausgebreitet wird. Vielmehr wird deutlich, dass in der Idealisierung ebenso wie in der Abwertung immer schon verschiedene Bildbereiche überlagert sind: Italien wird als schöne Natur oder als bildende Kultur gepriesen; die Abwehr bemüht nicht nur das Andere des Subjektes, den Tod, sondern verweist ausserdem auf weitere, bisher noch nicht konkretisierte eigene Problembereiche der deutschen Figuren. Herrscht im theoretischen Diskurs oft eine Fixierung auf einen bestimmten Bildbereich des Anderen vor, etwa in der isolierten Thematisierung kultureller, sexueller oder sozialer Differenz, so zeigt Koeppens Roman in aller Deutlichkeit, wie sich stets verschiedene Bildbereiche des Anderen überlagern. Damit nimmt „Der Tod in Rom“ nicht zuletzt wichtige Forschungsergebnisse vorweg, die Tzvetan Todorov erst rund 30 Jahre später in einer Untersuchung über „Die Eroberung Amerikas. Das Problem des Andern“ vorgelegt hat. Am Ausgangspunkt von Todorovs Überlegungen stehen die Folgen der ersten europäischen Begegnung mit dem Anderen in der Neuzeit: „Nie mehr sollte es eine Begegnung von derartiger Intensität geben,...

Inhaltsverzeichnis

  1. Widmung
  2. Inhaltsverzeichnis
  3. Vorwort
  4. Lyrik: Das Ungesagte
  5. Literaturkritik
  6. Essay: Kunst und Gewalt – (un-) versöhnliche Komplizen
  7. Literaturkritik
  8. Essay
  9. Literaturkritik: Nicht nur für PsychiaterAntónio Lobo Antunes: Einblick in die Hölle
  10. Essay: Ohne Titel
  11. Literaturkritik: Wo die Seele sitztDavid Albahari: Fünf Wörter
  12. Essay: Traumbilder-Bilderleere-Denkbilder: Albrecht Schnider II
  13. Theater: Passionen der Lehre – Stationen des Lernens
  14. Lyrik: Tarifa 2015
  15. Essay: Weltflucht, Wortkeule und Zaubervers
  16. Lyrik: Arbeit
  17. Essay: Was heisst und wozu brauchen wir Erinnerung im digitalen Zeitalter
  18. Lyrik: Februar
  19. Theater: Rasender Stillstand
  20. Lyrik: Schneller Abgang
  21. Essay: Amnestie – Schule jenseits des Reformismus
  22. Lyrik: Oktoberblau
  23. Nachbemerkung
  24. Anmerkungen und Verweise
  25. Impressum