Das Tibetische Totenbuch
Zunächst müssen mal wieder ein paar Begriffe geklärt werden. Im tibetischen Buddhismus geht man davon aus, dass manche höher realisierten Mönche oder Yogis in der Lage sind, Dinge so zu verstecken, dass sie zur ´richtigen´ Zeit, das kann auch Jahrhunderte später sein, wieder gefunden werden. Da es sich hierbei meist um Belehrungen oder Reliquien handelt, wurden sie als „verborgene Schätze“ bezeichnet und die nennen sich in Tibet Terma. Jemand, der einen solchen Schatz findet, wird als Tertön bezeichnet (muss man nicht wissen, aber Lesen bildet).
Das Tibetische Totenbuch soll von Padmasambhava im 8. Jahrhundert verfasst und versteckt worden sein und es wurde (vorgeblich) im 14. Jahrhundert gefunden. 1927 wurde der Hauptteil des Textes von Walter Evans-Wentz ins Englische übertragen und 1935 wurde eine deutsche Version in der Schweiz veröffentlicht. Dieses Werk war das erste Buch über den tibetischen Buddhismus, das von einer breiteren Öffentlichkeit im Westen gelesen wurde. Auf dieses Buch gehe ich allerdings nicht ein, denn 2008 gab der arkana-Verlag die „Erste Vollständige Ausgabe“ des Tibetischen Totenbuchs heraus, die von Stephan Schuhmacher ins Deutsche übertragen wurde.
Einschub: Ob Padmasambhava, auch Guru Rinpoche genannt, tatsächlich eine historische Person war, wird angezweifelt, denn es gibt extrem viele Legenden aber keine Aufzeichnungen über ihn. In der Ningma-Tradition gibt es eine Aufzeichnung, dass er nicht geboren wurde, sondern als rund 10-jähriges Kind wundersamerweise auf einem Lotus erschien. Er wurde vom König Indrabhuti, der zufällig gerade vorbei kam, als Pflegesohn angenommen (wie wahrscheinlich ist das denn?). Ende Einschub.
Beim Studieren dieses Textes fielen mir einige Ungereimtheiten auf. Etliche Aussagen passten überhaupt nicht mit dem zusammen, was ich in 25 Jahren meinte über Buddhismus gelernt und verstanden zu haben. Also besorgte ich mir zusätzliche Literatur. Dies war etwa „Geheimlehren Tibetischer Totenbücher“ von Detlef-I. Lauf; wenn der Titel von einem ´esoterischen´ Buch das Wort ´Geheimlehre´ beinhaltet, dann kann man eigentlich nicht erwarten, belastbare Informationen zum Thema zu erfahren. Dieses Buch wurde meiner Vermutung durchaus gerecht.
Die dritte Quelle wurde mir von Prof. B. Scherer empfohlen (er ist ordentlicher Professor für religiöse Studien an der Canterbury Christ Church University; den Kontakt hatte ich über das Kagyü-Graswurzel-Netzwerk); ich hatte ihm von meinem Buchvorhaben geschrieben und dass ich das Tibetische Totenbuch aufgrund des Inhalts für eine Fälschung halten würde. Er antwortete: „Das ist ja immer so eine Sache mit historischen und spirituellen 'Wahrheiten'. Natürlich ist das tib. Totenbuch historisch gesehen kein Text von Guru Rinpoche, sondern stammt aus dem 14. Jh.“. Er empfahl mir „The Hidden History of the Tibetan Book of the Dead“ (Die versteckte Geschichte des Tibetischen Totenbuch) von Dr. Bryan J. Cuevas, der als Professor an der Florida State University lehrt.
Man soll nicht immer alles glauben
Ich möchte in diesem Unterkapitel nur kurz ein unterhaltsames Beispiel dafür geben, dass man nicht alles unbesehen glauben sollte, auch wenn es in offiziellen Papieren niedergeschrieben wurde, denn es könnten Motivationen involviert sein, mit denen man nicht rechnet.
Es geht hier um den Ministerialdirigenten a.D. Dr. h.c. Edmund F. Dräcker. Er arbeitete seit 1910 für den diplomatischen Dienst des Deutschen Reiches und hatte im Laufe seiner Karriere viele verschiedene Positionen inne, verschwand bisweilen für längere Zeiten völlig von der Bildfläche und arbeitete zwischendurch immer wieder als Sondergesandter in diversen Einsätzen (unter anderem nahm er 1981 eine große Eisscholle für die Bundesrepublik Deutschland in Besitz).
Wenn man es ganz genau nimmt, dann begann sein ´Leben´ jedoch erst 1936 in Rom. Dort arbeitete der Legationssekretär Hasso von Etzdorf in der deutschen Botschaft und einige Routinesitzungen gingen ihm fürchterlich auf den Senkel. Also erfand er Edmund F. Drägger, wobei das ´F´ von Friedemann von Münchhausen ausgeborgt war. In so einer Sitzung informierte ihn ein Amtsgehilfe, der Ministerialrat Dräcker müsse Herrn von Etzdorf sofort in einer äußerst dringenden Angelegenheit sprechen. Also musste er aus der Sitzung raus und ging in die nächste Eckkneipe, um sich einen Dräcker zapfen zu lassen.
Da er die Story in seinem Bekanntenkreis herum erzählte, entwickelte Herr Dräcker ein Eigenleben. Er wurde später offiziell von den USA entnazifiziert und bekam sogar eine Personalakte im Auswärtigen Amt (ein damals Beteiligter erzählte mir, dass dies fast zu größeren Problemen geführt hätte, denn jemand, der für das Auswärtige Amt arbeitet, muss ja auch ein Gehalt bekommen; da man sich nicht unbedingt strafbar machen wollte, war einiges an Raffinesse notwendig, um die Personalabteilung auf eine andere Spur zu setzen).
Noch kurz ein paar Fakten aus seinem Lebenslauf:
E. F. Dräcker wurde am 1. April 1888 in Suleyken geboren.
Sein Vater war Gotthilf Dräcker und seine Mutter die Komtesse von Stoltze-Ohnezaster.
1910 trat er in den Diplomatischen Dienst ein und war schon ein Jahr später Vizekonsul in Bombay. 1914 erarbeitete er zusammen mit Gottlob Nagelmann, ein Verfassungsjurist und gleichfalls erfunden, die Grundlagen für völkerrechtlich verbindliche Verträge zum Import von Weihnachtsbäumen aus Ostafrika aus (also eine Art TTIP 0.01).
Worauf ich hinaus will ist, dass nicht alles, was irgend jemand eventuell sogar offiziell geschrieben hat, auch wahr sein muss. Doch jetzt zur Begründung, warum es das Kapitel über Das Tibetische Totenbuch unbedingt in diesem Buch geben musste.
Das Tibetische Totenbuch
Übersetzung von S. Schuhmacher
Die Textzitate in diesem Unterkapitel beziehen sich alle auf dieses Buch (eingerückt und kursiv).
Ich werde mich in diesem Kapitel kritisch mit diesem Text auseinander setzen. Ich habe im Rahmen mehrerer Phowa-Kurse umfangreiche Belehrungen über den Sterbevorgang erhalten und über die Abläufe innerhalb des Bardo (Zwischenzustand; in diesem Fall der Zwischenzustand zwischen dem letzten Leben und der Wiedergeburt). Die Belehrungen, die ich bekam (so wie viele tausende andere auch), beinhalteten jedoch keinerlei Beeinflussung von außen, etwa durch das Rezitieren von Belehrungen während des Sterbevorgangs oder lange Zeit danach.
Das Phowa wird auch als der Weg der Nichtmeditation bezeichnet. Dies hat seine Begründung darin, dass man normalerweise in seinem Leben eine ganze Menge Meditationserfahrung gesammelt haben muss, um im Bardo zur Befreiung gelangen zu können (man ist angeblich deutlich intelligenter als im Leben zuvor, was sehr hilfreich sein soll). „Weg der Nichtmeditation“ wird das Phowa genannt, weil man einen Kursus von lediglich ein paar Tagen macht (plus vorbereitende Meditationen) und das ist eben im Verhältnis zum ´normalen´ Weg so gut wie nichts. Möglich ist dieser Weg, weil Buddha Amitabha ein reines Land schaffen wollte, das besonders leicht zu erreichen ist. Dieses reine Land heißt Devachen (das ´ch´ wird wie ´tsch´ ausgesprochen). Vom reinen Land Devachen ist im gesamten Tibetischen Totenbuch nicht ein einziges mal die Rede, also muss es sich beim Tibetischen Totenbuch um eine andere ´Abkürzung´ des langen und schwierigen Wegs handeln, den man eigentlich ohne sehr viel Meditationspraxis nicht gehen kann.
Es ist bei den Kagyüs durchaus üblich, für verstorbene Verwandte oder Freunde eine Phowa-Sitzung zu machen, allerdings wünscht man den Verstorbenen hierbei nur eine gute Wiedergeburt, lässt sie aber ansonsten in Ruhe. Es steht vielleicht ein Photo von ihnen auf dem Altar, das war es dann auch. Dass das Phowa für einen selber im Moment des Sterbens von großem Vorteil sein kann, hatte ich ja schon beschrieben. Bei den tibetischen Totenbüchern geht es jedoch darum, dass jemand gegen Bezahlung einen Verstorbenen auf seiner Reise durch den Bardo zu einer guten Wiedergeburt leitet. Dass es diese Beeinflussungsmöglichkeit theoretisch geben könnte, kann ich nicht völlig ausschließen, aber je weiter ich die Übersetzung las, um so mehr kam ich zu der Überzeugung, dass es so, wie dort dargestellt, eigentlich nicht gehen kann.
Wir fangen mal mit der Prophezeiung an, die das Auffinden dieses Terma ankündigt (Seite 55).
In der Zukunft, während des letzten Zeitalters, des Zeitalters des Niedergangs, wenn die Mönche [sich verhalten] wie Schweine [und] Frauen schwängern, wenn tugendhaftes Handeln Unmut erzeugt und aufrechterhält, wenn der edelste der Mönche sich eine Braut nimmt, wenn Parteilichkeit und Krieg weit verbreitet sind, zu jener Zeit werden zweifellos alle, denen es an solchen Unterweisungen mangelt, in die niederen Existenzformen fallen. So habe ich denn zum Wohle dieser Fühlenden Wesen des Zeitalters des Niedergangs [diesen Zyklus von Unterweisungen] niederschreiben lassen und ihn auf dem Berg Gampodar verborgen.
Ich überlasse es Ihnen einzuschätzen, ob diese Zeichen des Niedergangs im 14. Jahrhundert in Tibet gegeben waren und für wie wahrscheinlich Sie es halten, dass das Tibetische Totenbuch etwas daran geändert haben könnte. Nur so als Nebengedanke: Eigentlich müsste der Effekt ja genau anders herum sein; wenn die Rituale wirklich helfen auch nur halbwegs Geeignete in die Befreiung zu schicken, dann ist später niemand mit geeignetem Karma da, der nachrücken könnte; der Niedergang wird also erst durch das Ritual ausgelöst oder doch zumindest beschleunigt. Ursache und Wirkung sind manchmal ganz schön schwierig! Welche zusätzlichen Schwierigkeiten es bei Vorhersagen über so lange Zeiträume hinweg geben sollte, habe ich ja schon ausgeführt.
Wenn es einem um den Sinngehalt des Tibetischen Totenbuches geht, dann wird man Schwierigkeiten haben, den zu finden (ich bin mal wieder extrem höflich und dies ist kein Sarkasmus). Ich gebe mal ein paar Auszüge und beginne mit Seite 124 und springe dann zur Seite 138 und in dem Stil geht es dann bis zur Seite 158 weiter.
Ich verneige mich vor der Versammlung der Friedlichen und Rasenden Siegreichen, vor den Vater- und Mutter-Gottheiten und ihrer [gesamten] Nachkommenschaft, [deren Essenz] das Reine Erkennen des Samantabhadra [ist,] das sich als unbefleckte Glücksseligkeit im Geheimen Schoß der Samantabhadrí offenbart. ….
Om Ah Hum
Zu dieser Zeit, da wir uns im Zwischenzustand des Lebens befinden, sind die zweiundvierzig versammelten Friedlichen Gottheiten strahlend anwesend innerhalb des himmlischen Palastes unseres eigenen Herzen, verkörpert in der Form einer Kugel fünffarbigen Lichts...
Auf Seite 162 geht es dann weiter mit den Huldigungen und die gehen bis Seite 183:
Ich verbeuge mich vor Samantabhadra, dem Buddha-Körper der Wirklichkeit, dem Vater aller Buddhas, der natürlichen Reinheit des mentalen Bewusstseins, dem Urbuddha und wandellosen Körper von Licht, der himmel[blau ist] und in der Positur Meditativen Gleichgewichts sitzt.
Ich verbeuge mich.....
Es mag ja sein, dass das Aufsagen so einer Litanei verdienstvoll ist, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass ich mich im Bardo stark inspiriert fühlen würde, wenn mir jemand so etwas erzählt (so ich es denn überhaupt mitbekommen könnte). Auf den Seiten von 190 bis 234 bekennt man dann alle möglichen Fehlverhalten, die man gemacht haben könnte oder auch nicht und diese Verse sind genauso inspirierend wie die vorhergehenden.
Beim Kapitel „Äußere Zeichen des Todes“ fängt es an, interessant zu werden (Seite 235).
Werden die Fingernägel und Fußnägel blutleer und glanzlos [so weist dies auf] Tod nach neun Monaten abzüglich eines halben Tages hin.
Wird die Hornhaut der Augen trübe, [so weist dies auf] Tod nach fünf Monaten [hin].
Wächst das Haar im Genick nach oben, [so weist dies auf] Tod nach drei Monaten [hin].
….
Wenn dann, wenn man mit den Fingern auf die [geschlossenen] Augen Druck ausübt, die [winzigen] Lichtkreise, die auftauchen, im unteren Teil des linken Auges nicht auftreten [weist dies darauf hin, dass] man nach sechs Monaten sterben könnte.
Wenn sie jedoch im oberen Teil [dieses Auges] nicht auftreten, kann es sein, dass man nach drei Monaten stirbt.
….
Wenn man zweitens die Ohren mit den Händen zuhält und einen ganzen Tag lang kein summendes Geräusch hört, sollte man wissen, dass man nach sechs Jahren sterben könnte. Wenn [das Summen] während zweier Tage nicht auftritt, dann könnte man nach sechs Jahren weniger zwei Monaten sterben....
Wenn sich [der Atem] gleichzeitig durch beide Nasenlöcher und den Mund bewegt, [weist dies darauf hin], dass man nach einem halben Tag sterben könnte. Und wenn der Atem aufhört, sich durch die Nase zu bewegen und sich stattdessen nur noch durch den Mund bewegt, heißt es, dass man sofort sterben wird.
Ich will jetzt nicht behaupten, dass sich das Wissensniveau bei europäischen Ärzten zur damaligen Zeit von den gerade dargestellten Erkenntnissen über den möglichen Eintritt des Todes deutlich unterschieden haben könnte. Aber aus heutiger Sicht ist alles das ganz eindeutig reiner Aberglaube und nicht das kleinste Bisschen an echter Erkenntnis kann sich in diesen Darstellungen finden lassen. Anschließend geht es um die Zeichen des Todes, die man in seinen Träumen finden könnte und dort geht die Litanei genauso weiter.
Dann kommen wir im Kapitel „Geheime Zeichen des Todes“ zu einem Ritual („Ritual der Täuschung des Todes“), mit dessen Hilfe sich ein Tod in naher Zukunft angeblich abwenden lassen soll (Seite 243).
Ist das Sperma eines Mannes schwärzlich grün oder ist das Menstruationsblut einer Frau weißlich, so heißt es, kann der Tod nach zwei Monaten eintreten. Ist das Sperma des Mannes rötlich, dann mag er nach sechs Monaten sterben oder Opfer übler Nachrede werden. Ist jedoch seine [natürliche] Weiße unverändert, [so weist dies darauf hin], dass es kein Hindernis [für sein Leben] gibt, und [das Sperma] sollte durch die Nase eingezogen werden, solange es noch warm ist.
Dies ist ein mit der „Rituellen Täuschung des Todes“ verbundener Ritus.
Wer an dieser Stelle noch glaubt, er könne aus diesem Buch irgendwelche wichtigen Informationen gewinnen, der hat mit Sicherheit keine naturwissenschaftlich technische Ausbildung hinter sich. Dann geht es in der gleich...