1 Wofür sind soldatische Traditionen gut?
Zu den Aufgaben der Chefs und Kommandeure in den Streitkräften sowie der Dienststellenleiter im zivilen Bereich der Bundeswehr gehört es, Soldaten und zivile Mitarbeiter mit der Tradition und der Traditionspflege in der Bundeswehr vertraut zu machen. Sie sollen also deren Verständnis wecken, ihre Bereitschaft zur Weitergabe von Traditionen fördern, Vertrauen in das von der Bundeswehr vorgegebene Traditionsgut stärken und selbst die Herausbildung neuer Traditionen anregen. Das ist keine ganz einfache Aufgabe. Sie verlangt von Vorgesetzten, sich selbst intensiv mit Fragen der Tradition zu beschäftigen, eine begründete eigene Meinung zu erarbeiten und anderen Meinungen genauso wie neuen Ideen aufgeschlossen gegenüberzustehen. Sie müssen sich also trotz enormer Auftragsdichte die Zeit nehmen, um Bücher und Artikel zu lesen, Gespräche mit ihren Soldaten und zivilen Mitarbeitern zu führen, konkrete Projekte zur Traditionspflege durchzuführen und das ein oder andere Mal auch an öffentlichen Debatten über Traditionsfragen teilzunehmen. Äußerst hilfreich wäre es für sie, wenn ihre Soldaten und zivilen Mitarbeiter bereits Vorkenntnisse über das Traditionsgut der Bundeswehr mitbrächten und vor allem Interesse an kontrovers diskutierten Traditionsfragen zeigten.
Wir sind uns darüber im Klaren, dass, bevor der Leser sich die Mühe macht, diese Einführung weiter zu lesen, er sich die kritische Frage stellt, ob sich denn der ganze Aufwand überhaupt lohne. Ist Tradition nicht etwas, was den Soldaten von seinen gegenwärtigen und künftigen Herausforderungen ablenkt? Hat er angesichts der hohen Einsatzbelastung nicht Besseres zu tun? Und wenn Tradition mit Streit und Pathos daherkommt: Ist der Soldat der Bundeswehr, harmonisch in sich selbst ruhend, bisher nicht ganz gut ohne diese so beschwerlichen geistigen Dinge ausgekommen?17 Aus Sicht vieler Soldaten gibt es zudem dringendere Probleme, die ihre Emotionen anheizen. Dazu gehören beispielsweise die von ihnen so wahrgenommene fehlende Anerkennung ihres Dienstes in Politik und Gesellschaft sowie das „System der Mangelbewirtschaftung“18, das nicht nur ihre tägliche Arbeit
erschwert, sondern auch zynische Kommentare in den Medien über die Bundeswehr heute auslöst. Zudem scheint Tradition ein heikles Thema zu sein. Karriereorientierte Offiziere haben hierfür eine hohe Sensibilität. Dass Deutschland zu den wenigen Ländern gehört, die einen von einem Minister unterschriebenen Erlass benötigen, um den Umgang ihrer Armee mit der Vergangenheit zu regeln19, deutet schon darauf hin, dass Tradition nicht nur eine harte, sondern auch eine heikle, ja sogar gefährliche Arbeit sein kann. Offiziere wissen: Trotz bester Absichten und in der festen Überzeugung, alles richtig getan zu haben, können sie plötzlich im gleißenden Rampenlicht der Öffentlichkeit stehen und dadurch die politische Leitung sowie die militärische Führung zum Krisenmanagement zwingen.20 Karrierenachteile sind dann eine wahrscheinliche Folge.
Vorgesetzte müssen also abwägen. Hoher Zeitaufwand und persönliches Risiko sprechen gegen ein beherztes Engagement in der Traditionspflege in der Bundeswehr. Und was spricht dafür? Welchen Vorteil bringt es für die Soldaten und insbesondere für die Chefs und Kommandeure, wenn sie Traditionen kennen, pflegen, weiterentwickeln und darüber diskutieren?
1.1 Warum benötigen Soldaten Traditionen?
Bei der Suche nach einer Antwort auf diese Frage mögen dem einen oder anderen Zitate aus Sonntagsreden sowie schöngeistige Bonmots in den Sinn kommen. Häufig werden darin Vergangenheit und Zukunft in eine positive Beziehung zueinander gesetzt. Der Theologe Dietrich Bonhoeffer, der noch kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges im Konzentrationslager Flossenbürg (Oberpfalz) ermordet wurde, schrieb dazu: „Die Ehrfurcht vor der Vergangenheit und die Verantwortung vor der Zukunft geben fürs Leben die richtige Haltung.“21 Gern zitiert wird auch der Satz, dass „Tradition bedeutet, an der Spitze des Fortschritts zu marschieren.“ Diese schneidige Definition des preußischen Generals Gerhard von Scharnhorst (1755-1813) kennen viele Angehörige der Bundeswehr. Sie verfügt über eine hohe Autorität, denn Scharnhorsts 200. Geburtstag am 12. November 1955 war schließlich der Gründungstag der Bundeswehr.22
Allerdings können Vergangenheit und Zukunft in einem durchaus konfliktträchtigen Verhältnis zueinander stehen. So manche Aussage mit Autoritätscharakter spielt Zukunft und Vergangenheit gegeneinander aus. Gesellschaftskritische Slogans wie „Unter den Talaren der Muff von tausend Jahren“ aus der Zeit der Studentenbewegung („68er“) wirken in ihrer Plattheit als der Weisheit letzter Schluss; andere Gedankenblitze wie beispielsweise Albert Einsteins Bonmot „Mehr als die Vergangenheit interessiert mich die Zukunft, denn ich gedenke in ihr zu leben“ harmonieren mit dem Glauben an eine bessere Zukunft ohne die lästigen Fesseln der Vergangenheit. Sie passen durchaus zu der Realität, in der Chefs und Kommandeure ihre Führungsaufgaben wahrzunehmen haben. Denn diese sind auf Grund der Rahmenbedingungen ihres Dienstes gezwungen, ihr Denken und Handeln so stark an ihren eng getakteten Aufträgen auszurichten, dass für Bonhoeffers Ehrfurcht vor der Vergangenheit höchstens das schale Gefühl eines „Schön wär’s ja“ übrig bleibt.
Schauen wir der Realität des militärischen Dienstes ins Auge: Der Arbeitstag eines Chefs oder Kommandeurs wird sehr stark von bürokratischen Tätigkeiten dominiert. Sie sind viel zu häufig an ihren Schreibtisch gebunden. Selbst für Gespräche mit ihren Soldaten und Mitarbeitern bleibt ihnen wenig Zeit.23 Die Beschäftigung mit der Vergangenheit überlassen sie notgedrungen und vielleicht auch nur der Einfachheit halber den Militärhistorikern und Geschichtslehrern in der Bundeswehr. Dabei gibt es nicht wenige Chefs und Kommandeure, die sich dafür durchaus interessieren. Und unter den Offizieren im Truppen- und General-/Admiralstabsdienst wird die Gruppe von studierten Historikern von Jahr zu Jahr größer. Viele Vorgesetzte ahnen wohl, dass Traditionen ihnen wirklich helfen könnten, ihren Auftrag und die damit verbundenen Aufgaben zu erfüllen. Ihnen dürfte zudem bewusst sein, dass Traditionspflege auch etwas mit der Erziehung von Soldaten zu tun hat. Helfen Traditionen nicht sogar bei der Führung der Truppe und auch dabei, selbst ein guter militärischer Führer zu sein? Offensichtlich ist Traditionspflege auch für die Außenwirkung der Bundeswehr wichtig. Sie zeigt, welch Geistes Kind die Streitkräfte sind. ‚Sage mir, welche Traditionen die Truppe pflegt, und ich sage Dir, wie sie ihr Verhältnis zu Politik und Gesellschaft sieht.’ Dies ist ja auch der Grund, weshalb nicht wenige Menschen in unserem Land sich für das Traditionsverständnis der Bundeswehr interessieren – manche vielleicht sogar mehr als für die mangelhafte materielle Einsatzbereitschaft der Truppe.
Es gibt also innerhalb und außerhalb der Bundeswehr ein gewisses Bewusstsein für die Bedeutung von soldatischen Traditionen und für die Notwendigkeit ihrer Pflege. In der Praxis ist bisher allerdings nicht viel passiert. Aktiv werden Chefs und Kommandeure oftmals erst dann, wenn sie durch Politik und Öffentlichkeit gezwungen werden, sich dafür Zeit zu nehmen. Dies ist häufig nicht angenehm – weder für die betroffenen Soldaten noch für die Bundeswehr insgesamt. Die Vorfälle, welche die Bundesministerin der Verteidigung und den damaligen Generalinspekteur, General Volker Wieker, im Frühjahr 2017 veranlassten, einen neuen Traditionserlass in Auftrag zu geben und Kasernen nach „Wehrmachtsdevotionalien“ zu durchsuchen, sind dafür ein anschauliches Beispiel. Sie schadeten dem öffentlichen Ansehen der Bundeswehr und belasten weiterhin das so wichtige Vertrauensverhältnis der Soldaten zur politischen Leitung und militärischen Führung.24
Ein Blick in die Geschichte der Bundeswehr zeigt, dass der Umgang ihrer Angehörigen mit der Wehrmacht und mit rechtem Gedankengut oftmals Auslöser für kritische Debatten über das Traditionsverständnis der Bundeswehr war.25 Damit drängt sich folgende Frage auf: Wie kann es sein, dass die Bundeswehr dafür irgendwie anfällig ist, obwohl sie schon über sechzig Jahre besteht und damit deutlich älter ist als Reichswehr und Wehrmacht zusammen? Mancher Kritiker der Bundeswehr sieht eine Ursache darin, dass die zehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges gegründeten neuen deutschen Streitkräfte trotz ihrer festen Verankerung in den bereits bestehenden demokratischen Staat nicht wirklich aus dem Schatten der Wehrmacht heraustreten konnten.26 Vielleicht hat es aber auch mit dem frühen Scheitern der Inneren Führung als verbindlicher Führungsphilosophie zu tun. Dies hatte ihr wesentlicher Mitbegründer, Wolf Graf von Baudissin, wenige Jahre nach seinem Ausscheiden aus dem aktiven militärischen Dienst beklagt. Oder sind wir zu wenig politisch und historisch gebildet, um den Erfolg Deutschlands nach 1949 zu sehen und darauf stolz zu sein? Oder liegt es ganz einfach nur an Ignoranz und Desinteresse seitens der Soldaten selbst, was Populisten nun für ihre Zwecke ausnutzen?27
Doch ist die Frage „Wie hältst Du es mit der Wehrmacht?“ wirklich die „Gretchenfrage“ für die Angehörigen der Bundeswehr?28 Neuerdings weisen Kenner der Debatte darauf hin, dass der Umgang mit der Wehrmacht nur ein Symptom ist für fehlende Antworten auf die eigentliche Fragestellung. Diese lautet: „Wofür soll der Soldat dienen?“ Hinter dem Traditionsverständnis lauert also die Frage nach dem Sinn des soldatischen Dienens.29 Und da diese Frage seit jeher kontrovers in Politik und Öffentlichkeit diskutiert wird, ist es auch nicht verwunderlich, dass es keinen Konsens über das Erbe des deutschen Soldaten gibt. Ohne ein klares Verständnis, wofür wir Soldaten auch in Zukunft brauchen, ist die Arbeit beispielsweise an einer Ahnengalerie mit ausgewählten Vorbildern schwierig, da ihr Zweck nicht klar ist. Erschwerend kommt hinzu, dass manche öffentliche Personen die Kritik am Traditionsverständnis der Bundeswehr als Hebel benutzen, um die Verteidigungspolitik der jeweiligen Bundesregierungen in Frage zu stellen. Sicherheitspolitische Kontroversen werden so auf dem Rücken der Soldaten ausgetragen.30 Wesentliche Funktionen von Tradition wie beispielsweise die Vermittlung von Verhaltens- und Orientierungssicherheit, die Stabilisierung von Organisationskulturen sowie die Stiftung von Identität31 sind damit ausgeblendet, ja sogar untergraben. Was dies für die Innere Führung als Führungsphilosophie der Bundeswehr sowie für die politische und strategische Kultur in Deutschland bedeutet, darauf werden wir in unseren Ausführungen immer wieder hinweisen müssen.
Vielleicht sollten wir bei der Beantwortung der Frage, wofür Soldaten Traditionen benötigen, nicht gleich auf die aktuellen Probleme der Bundeswehr blicken, sondern ganz fundamental deren Bedeutung für die menschliche Existenz im Allgemeinen betrachten. Denn die kritische und oftmals kontroverse Debatte über soldatische Traditionen verkennt die Tatsache, dass Menschen schon immer in Traditionen stehen, ob sie dies nun wollen oder nicht. Dies liegt daran, dass Menschen historische Wesen mit einem Gedächtnis sind. Ihr Denken und Handeln ist maßgeblich von dem bestimmt, was sie selbst erlebt, aber auch davon, was sie von anderen gehört, gelesen oder gesehen haben. Das, was Menschen überliefern, besitzt sogar eine gewisse Autorität; denn wir können einfach nicht alles, was wir lernen, einer kritischen Reflexion unterziehen. Unser Leben ist dafür zu kurz.32
Nehmen wir unseren Umgang mit der Wehrmacht als ein Beispiel dafür. Jeder Erwachsene weiß irgendetwas über die Wehrmacht – aus der Schule, aus den Erzählungen von Familienangehörigen, aus Büchern und Zeitschriften sowie aus Filmen. Großen meinungsbildenden Einfluss haben heute Dokumentarsendungen, die in den öffentlichen und privaten Fernsehkanälen laufen, sowie die vielfach wertenden Kommentare in den sozialen Netzwerken. Man muss also nicht Geschichte studiert haben, um ein mehr oder weniger fundiertes Vorverständnis von der Wehrmacht zu besitzen. Es ist zumindest unterschwellig immer da.
Kenntnisse und Urteile über die Wehrmacht werden also auf vielen Wegen überliefert. Die Menschen stehen in diesen Überlieferungen, sie können sich nicht gänzlich dagegen abschotten. Bereits die jungen Frauen und Männer, die in die...