EIN UNTERPFAND FÜR HERRENRECHTE IN HISPANIEN
(1371 – 1372)
I.
Die kleinen Leute
Die Glocke der Ave-Marias oder des Gebetes hatte auf dem Turm der Kathedrale den letzten Schlag getan, und durch die Mauerlücken und Türen dieser Unmenge von Häusern, die sich um die Burg herum drängten und von dem engen Gürtel der ursprünglichen Stadtmauern von Lissabon derartig gedrängt und zusammengepreßt wurden, daß sie kaum darin Platz zu finden schienen, sah man hier und dort die inwendigen Lichter aufblitzen, während die verwinkelten und schmutzigen Straßen wie verworren und undeutlich unter dem Mantel der Dunkelheit ruhten. Die Stunde der Schrecknisse war gekommen; denn während der Nacht war in jenen guten Zeiten der schmale Pfad eines Waldes nicht trauriger, furchterregender und gefahrvoller als selbst die Rua-nova [Neue Straße], die prächtigste und schönste Straße der Hauptstadt. Was dort jedoch unüblich und seltsam anmutete, war die vollständige Stille und tiefe Finsternis, in die die königliche Residenz neben Skt. Martin eingehüllt erschien, in der zu dieser Zeit der König, D. Fernando, residierte, während gleichzeitig, in den Gassen und auf den Kreuzwegen, ein Getrappel von Schritten und ein Summen undeutlicher Stimmen erklang, die anzeigten, daß die Wogen der Volkserregung vom Winde Gottes aufgewiegelt worden waren, und daß dieses aufgewühlte Meer noch nicht wieder in die Trägheit und die Schläfrigkeit zurückgesunken war, die üblicherweise nach dem Sturm folgen.
Und so war es in der Tat, wie der Leser mit seinen eigenen Augen und Ohren nachprüfen kann, wenn er, ganz leise und unauffällig, mit uns in die sehr berühmte und altehrwürdige Taverne des betagten Folco Taca eintreten möchte, die sich recht nahe bei uns befindet, gleich nach dem Verlassen der Kathedrale, in der Straße, die hinauf zur Zitadelle führt, sieben oder acht Türen oberhalb des Rathauses.
Die Taverne Messer Folco Tacas, eines Genuesen, der als Schildknappe des berühmten Admirals Lançarote Peçanha als noch unreifer Jüngling nach Portugal gekommen war und vor vielen Jahren bereits den Dienst in der Marine quittiert hatte, um sich den Geschäften zu widmen, war die berühmteste unter allen in Lissabon, nicht nur wegen der Pracht ihrer Ausstattung und der Qualität der in den gewaltigen Fässern enthaltenen Getränke, mit denen sie vollgestopft war, sondern auch deswegen, weil es in einem, weiter innen liegenden und den Blicken entzogeneren Raum, eine lange Tafel aus Kiefernholz gab und viele flache Sitze oder Schemel, die den Berufsspielern alle Bequemlichkeiten boten, um in Nächten ungezügelten Spiels die schönen, von D. Alfonso geprägten Goldmünzen, die Maravedis24, oder die geschätzten Golddoublonen D. Pedros I. dort zu verlieren oder zu gewinnen, der, anders als seine Vorgänger oder Nachfolger, sich reicher und mächtiger glaubte, wenn er Münzen mit gutem Klang und Gewicht prägte, statt ihnen unter Heraufsetzung des Nominalwertes den intrinsischen Wert zu rauben, so wie es die Gewohnheit aller Könige zu Beginn ihrer Herrschaft war.
Messer Folco hatte es verstanden, einen dichten Dunstschleier über die Augen des Gerichtspräsidenten des Hofes und aller Offizieller, der Folterknechte und der weiteren Angehörigen der edlen Rasse der Verwaltungsbeamten auszubreiten, mit dem er die Illegalität eines derartigen gewerblichen Etablissements verbarg. Wir wissen nicht, welches Elixier er verwendete, um diese wundersame Blindheit zu erzeugen, aber es ist eine Gewißheit, daß es nicht mitsamt der Alchimie verlorengegangen ist; denn man sieht, daß es in segenspendenden Händen noch immer vorhanden ist und auch heute noch wiederholt Wunder bewirkt, die diesem in allem ähnlich sind.
Es war also in der Taverne mit dem Spielsaal an der Porta-do-ferro25, das gewöhnlich mit diesem Namen belegt wurde wegen der benachbarten Lage zur alten Einfriedung, wo das unbestimmte und zweifelhafte Rumoren, das durch die Straßen der Stadt schwirrte, am lautesten und deutlichsten zu hören war, so wie in einem Meeresstrudel die Wellen bei ihrem Wirbeln und Hinabstürzen im Zentrum des Schlunds am dumpfesten und dröhnendsten lärmen.
Der weitläufige Block um die Taverne war von einer Menschenmenge dicht umstellt, die bis zu dem kurzen Plateau vor der Kathedrale überquoll; alle redeten zugleich und waren, wie es schien, gereizt an heftigen Streitigkeiten beteiligt, die bisweilen von lautstarker gebrüllten Flüchen und Beschimpfungen unterbrochen wurden, einem offenkundigen Anzeichen dafür, daß die Ereignisse, die diese Zusammenrottung und diesen Tumult veranlaßt hatten, eine Angelegenheit waren, die des Volkes Zorn aufs heftigste anfachte.
Schon gegen Ende des vierzehnten Jahrhunderts war das Volk – wie auch heute noch – cholerisch. Damals: ein kindlicher Zorn; heute: der Überdruß des Alters.
Wenn auf der Straße das Stimmengewirr stürmisch und wirr erschien, konnte man den Disput innerhalb des Hauses von Messer Folco durchaus als infernalisch bezeichnen. Auf einer der Seiten, inmitten einer dichtgedrängten Traube von Männern aus dem Volke, hörte man drohende Worte, ohne daß es möglich wäre zu verstehen, wogegen oder gegen welche Individuen sich solcher Ingrimm aufhäufte. Auf der anderen Seite brach zwischen den Schreien einer dichtgedrängt stehenden Gruppe von Frauen, deren entbehrungsvolle Lebensverhältnisse an ihren Umhängen aus billigem Tuch aus Arras, ihren dunklen Rockbünden, ihren schmucklosen und schlichten Blusen und Schleiern abzulesen waren, schrilles und kreischendes Gelächter hervor, in dem sich, tief eingegraben, die Unverschämtheit und die Respektlosigkeit jener Elenden manifestierte. Auf den Tresen waren leere Weinkrüge und Becher zu sehen, und unter einigen von ihnen ausgestreckte Körper, die Leichname vortäuschen würden, wenn das Zischen und Schnarchen, das sich manchmal über das Getöse dieser respektablen Zusammenkunft hinweg durchsetzte, nicht bewiesen hätte, daß diese ehrbaren Bürger, vom Dampfe des Weines und der Hitze des Eifers sanft eingewiegt, mit einem gutem Gewissen friedvoll eingeschlafen waren. Kurz und gut, die zurückhaltende und gut beleumdete Taverne des ehemaligen Mitkämpfers um Ruhm und Ehre von Messer Lançarote war sichtbar geschändet und auf eine Ebene mit den verdrecktesten und gemeinsten Spelunken Lissabons gesunken.
Die Volksmasse hatte hier ihren ungebärdigen Zusammenkunftsort eingerichtet, und zum ersten Mal hatten das Laster und die Korruption ohne ihre Masken der Bescheidenheit und des Ernstes jene Schwelle überschritten. Auf den Lumpen des einfachen Volkes haben Verzierungen aus Rauschgold keinen Platz. Dies ist der einzige Unterschied zwischen ihm und den oberen Klassen, die sich für etwas Besseres halten, weil sie auf der höheren Schule der Zivilisation von Kindheit an die Gewandtheit und das heuchlerische Affentheater beim Benimm erlernen.
Der Schneider wird zum Wortführer gewählt
Der Stern, der mit seinem Licht die ihn umschwirrende Menge zu erleuchten und sie mit seiner Hitze zu erwärmen schien, das moralische Zentrum, das alle diese Geister umkreisten, war ein Mann, dem man seine gut vierzig Jahre wohl ansah, hochgewachsen, hager, mit dunklem Teint, tiefliegenden und funkelnden Augen, schwarzem und wirrem Haar und einem dichten, bereits graumelierten Bart. Er lehnte an einem der zahlreichen Tresen, die die großzügige Räumlichkeit schmückten, und war von einer dichten Traube von Angehörigen des Volkes beiderlei Geschlechtes umringt, die ihm in respektvollem Schweigen zuhörten; seine laute und durchdringende Stimme trat über dem allgemeinen Lärm hervor und verschmolz nur bisweilen mit einem lästerlichen Fluch, der aus einer der anderen Menschentrauben losgejagt wurde, oder mit den Modulationen der Lachsalven, die in dieser undurchdringlichen und stickigen Umgebung dröhnten, in gewisser Weise einem feuerroten Blitz ähnlich, der die feuchte und unauslotbare Dunkelheit einer unterirdischen Krypta irgendeiner Kirche aus dem sechsten Jahrhundert rasch zerrisse.
Plötzlich traten zwei Edelleute in die Taverne ein, deren Rang man an ihren seitlich mit einer Feder geschmückten Mützen aus schwarzem Samt, ihren geschlitzten Seidenhosen und ihren mit Silberschmuck verzierten Gürteln aus Hirschleder erkennen konnte, und indem sie die Reihen der versammelten Menge durchbrachen, die ihnen den Durchgang freigab, näherten sie sich dem hochgewachsenen und dunkelhäutigen Mann. Sie hatten einen Zipfel ihrer kurzen Umhänge über das Gesicht gezogen, so daß keiner der Herumstehenden erkennen konnte, wer sie waren. Zahlreiche Wünsche blitzten in vielen dieser weinseligen Gehirne auf, es zu erkunden; aber eine gleichzeitige Überlegung ließ alle Hände zugleich innehalten. Längs des linken Schenkels der Vermummten sah man Schwerter aufblitzen, und auf der rechten Seite, fest in den Gürtel geklemmt, den der hochgezogene Zipfel des Umhanges freilegte, konnte man Dolche erkennen. Ihre Legitimation, derart vermummt einzutreten, war einer Berücksichtigung wert, und wenn sich in der Menge auch einige waffengeübte Männer befanden, vornehmlich Armbrustschützen, waren doch fast alle übrigen unbewaffnet. Es wäre also nicht ungefährlich, das öffentliche Visum von ihnen einzufordern.
Die beiden Unbekannten redeten einige Minuten lang im Flüsterton mit dem großen, schlanken Mann, der ab und zu mit dem Kopf nickte, wobei er eine Geste der Zustimmung machte: dann durchbrachen sie abermals die Menschenmenge, die sie mit einer Art von Furcht musterte, der der Respekt beigemischt schien, und setzten sich auf zwei der Schemel, die entlang der Wand aufgereiht waren. Sie stützten ihre Ellenbogen an einem der Tresen ab und versenkten ihre Köpfe zwischen den Fäusten; dann verharrten sie unbeweglich und wie unbeteiligt an dem Getöse, das sich um sie herum wieder zu erheben begann. Dieses hielt nur kurze Zeit an: ein „Pst“ des großen und schlanken Mannes veranlaßte alle Augen, sich in jene Richtung zu wenden. Nachdem er einen Hocker bestiegen hatte, gab er mit der Hand das Zeichen, daß er nun zu reden beabsichtige.
„Hört zu, hört zu!“, brüllten einige von denen, die in diesem ungeordneten Haufen die Bedeutendsten zu sein schienen.
Alle Hälse reckten sich zur gleichen Zeit, und man konnte viele schwielige Hände sehen, die sich erhoben und rundeten und um die Ohren ihrer Besitzer eine Art von Schalltrichter bildeten. Der Redner hub an:
„Ihr kleinen Leute!26 Habt Ihr aus Euren Reihen schon Mitbürger gewählt, die gut reden können und vernünftig sind, um Eure Einsprüche und Überlegungen vorzutragen gegen diese verfluchte und ungeheuerliche Vermählung des Königs mit der Frau João Lourenço da Cunhas?“.
„Wir sind alle einvernehmlich der Meinung, daß Ihr es sein sollt, Meister Fernão Vasques“, antwortete ein Alter, dessen blanke Glatze die Strahlen einer der Lampen widerspiegelte, die von der Decke hingen, und unter dem versammelten Volk hoch im Ansehen zu stehen schien. „Wen gibt es hier unter uns kleinen Leuten, der für derartige Einreden besonnener und geeigneter wäre als Ihr? Wer könnte mit zwingenderen Gründen die uns zugefügte Unbill vorbringen und die Entehrung und Beleidigung des Königs erklären, als Ihr es heute während der Vorstellung tatet, die wir nachmittags dem Hofe gaben?“.
„Ein Hoch auf unseren Anführer, Fernão Vasques“, brüllte die Meute einstimmig.
„Ich bin Euch zu Dank verpflichtet, Meister Bartholomeu Chambão!“, erwiderte Fernão Vasques, nachdem der Tumult sich beruhigt hatte. Für die Argumentation von heute werde ich als Lohn das Schafott zugesprochen bekommen, wenn es der Ehebrecherin gelingt, Königin zu werden: für die morgige werden mir die Hände bei lebendigem Leibe abgehackt werden, wenn es dem König mit seinen sanften und trügerischen Worten gelingt, das Volk zu beruhigen. Und haltet es für erwiesen, Meister Bartholomeu, daß der Henker den Knoten des Seiles am Hals besser zu schnüren versteht, als ich den Zierstich auf die Hemdbrust eines Kleides, eines runden Besatzes oder einer bestickten Weste zu setzen vermag, und daß das Richtschwert des Henkers leichter in die Kehle eines Christenmenschen eindringt als Eure Axt in die Daube eines Fasses!“.
„Niemals, solange es in meinem Köcher Nachschub gibt, und der Ladestock meiner Armbrust nicht zerbricht“, rief ein Armbrustschütze der örtlichen Miliz dazwischen, der sich torkelnd unter einem der Tresen hervorwand, wo ihn gewisse Übertreibungen bei der politischen Begeisterung niedergestreckt hatten.
„Amen, dico vobis!“, rief ein Betbruder, dessen gerötete Wangen und Stentorstimme nicht zu seiner Ordenskutte aus grobem Wollstoff und den übergroßen Perlen des Rosenkranzes paßten, der ihm vom Gürtel herabhing.
„Ahoi, Bruder Roy Zambrana, sprich in verständlicher Christensprache, wenn Du auf diesem Kurs in unser Kielwasser einschwenken möchtest“, johlte ein Schiffszimmermann aus der Alfama27, der dem Anschein nach eine große Schar von Fischern, Fährleuten und Galeerenruderern aus diesem Viertel anführte, das damals fast ausschließlich von solcherart Leuten bevölkert wurde.
„Ich sage es klar und deutlich“, beeilte sich der Begarde hinzuzufügen, „daß es keinen Mann gibt, der es an Klugheit und Besonnenheit mit Fernão Vasques aufnehmen kann, wenn es morgen gilt, mit dem König in vernünftiger Weise über den beabsichtigten Abschluß der Heirat mit Leonor Telles zu sprechen, so wie auch niemand den Schiffszimmermann Ayras Gil beim Flüchten vor den kastilischen Galeeren und beim Beleidigen der guten Diener der Kirche an Wagemut übertrifft“.
Es war eine persönliche Anspielung. Ein langanhaltendes und polterndes Gelächter folgte der beißenden Revanche Bruder Roys, der seine Augen in einer Art heuchlerischer Zerknirschung senkte, so wie die Katze, die, nachdem sie ihre Krallen ausfuhr, herbeikommt, sich sanft an der Hand zu reiben, die sie blutig kratzte.
Bruder Roy war, wie auch Ayras Gil, ein volkstümlicher Held, und die zwischen dem Begarden und dem Schiffszimmermann augenscheinlich vorhandene Animosität war aus dem Wetteifer entstanden: aus einem nagenden Zweifel über die jeweilige Höhe der Throne, dem des Kreuzweges und dem aus Schmutz und Lumpen, auf denen jeder von ihnen Platz nahm.
Wenn nun also dieser Menschenauflauf nicht bereits von der intellektuellen Überlegenheit des Schneiders Fernão Vasques überzeugt gewesen wäre, dann h...