Zum Leben zu wenig: 12.000 ältere Menschen in München erhalten einen Zuschuss vom Staat, weil ihre Rente nicht ausreicht. Sie müssen bei der Tafel essen, viele nehmen im hohen Alter noch einen Nebenjob an. Sie kämpfen mit Einsamkeit und Schamgefühlen.
Dass es einmal soweit kommen würde, hätte Udo Gerlach nie erwartet. Dass er, der ein Leben lang geschuftet hat, einmal in einer kleinen Sozialwohnung wohnt und mittags bei einer Tafel für arme Menschen essen muss. Dass er auf Sozialhilfe angewiesen ist, weil seine Rente vorne und hinten nicht reicht. Und dass er unglaublich einsam ist.
Im vergangenen August hat Udo Gerlach, der seinen richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen will, den Kampf aufgegeben: Er ist aus seiner geliebten Wohnung gezogen, in der er mehr als 30 Jahre gewohnt hat, und in eine preiswerte Sozialwohnung in Milbertshofen übergesiedelt. "Das war einfach zu teuer, das ging nicht mehr", sagt der 84-Jährige. Seit 53 Jahren lebt der Berliner in München. "Aber das Bairische hab ich mir nie angewöhnt", berlinert er und grinst. Als junger Mann hat Gerlach als Raumausstatter in Spandau gearbeitet. Voller Freude auf die Zukunft war er da. Er hatte eine Frau, drei kleine Kinder und der Job machte ihm Spaß. Als sein Chef 1960 eine Zweigstelle in München eröffnete, sagte Gerlach zu. Mit der Familie zog er in den Süden, um die Filiale zu leiten. Ein paar Jahre später übernahm er die Firma und war fortan sein eigener Chef.
"Genau das war das Problem", sagt Gerlach. "Ich hab ja nie regelmäßig eingezahlt in die Rentenkasse." Noch dazu ging das Geschäft irgendwann pleite. Dann kam auch noch die Trennung von seiner Frau. Und Unterhaltszahlungen nach der Scheidung. Es blieb nichts übrig zum Sparen.
Heute bekommt er 700 Euro Rente und vom Staat zusätzlich 100 Euro Grundsicherung im Alter, wie der Sozialhilfezuschuss für bedürftige Rentner heißt. Für seine Sozialwohnung bezahlt er 340 Euro Miete. Abzüglich weiterer Ausgaben für Strom und Versicherungen bleiben ihm knapp 300 Euro im Monat zum Leben. Für ein Leben in München zu wenig.
Fälle wie den von Udo Gerlach kennt Karin Majewski, Geschäftsführerin des Paritätischen Wohlfahrtsverbands Oberbayern, zur genüge. "Teilzeitarbeit, Selbständigkeit, Arbeitslosigkeit oder Kindererziehung sind die Gründe für zu wenig eingezahlte Rente", sagt sie. "Deshalb sind Frauen auch noch viel stärker von Altersarmut betroffen als Männer." 12.000 Münchner erhalten derzeit Grundsicherung im Alter. Und die Aussichten sind nicht gut: Das Münchner Sozialreferat schätzt, dass sich die Zahl der Altersarmen in den nächsten Jahren nahezu verdoppelt. Das Amt geht davon aus, dass es 2020 bereits 23.000 Leistungsempfänger geben wird.
"Vorhänge konnte ich mir bisher noch nicht leisten"
Um beim Essen zu sparen, geht Gerlach jeden Tag zum Mittagstisch in das Alten- und Service-Zentrum (ASZ) Milbertshofen. Dort bezahlt er nur elf Cent pro Mahlzeit. Etwa 20 Bedürftige kommen täglich hierher. Das Essen für Frühstück, Abendbrot sowie für das Wochenende, an dem es keinen Mittagstisch gibt, kauft Gerlach im Discounter. So kommt er gerade hin. Für Extras wie Kleidung oder Möbel bleibt nichts übrig. "Vorhänge konnte ich mir bisher noch nicht leisten", sagt der alte Mann und deutet auf die Fenster, die zur Schleißheimer Straße hinaus gehen, einer großen Hauptverkehrsader, auf der die Autos laut vorbeibrausen.
Doch auch wenn Vorhänge fehlen und bisher nur Glühbirnen für Beleuchtung sorgen, sagt Gerlach: "Ich hab doch alles, was ich brauche." Die Wohnung ist einfach möbliert, das Sofa durchgesessen, aber alles ist sauber und ordentlich. Im Bücherregal stehen deutsche Klassiker, in denen er gerne liest. Er seufzt: "München ist so teuer. Manchmal träum’ ich von Berlin, dort ist es ja billiger. Aber ich bin schon so lange nicht mehr dort gewesen, ich glaub’ ich würde nichts mehr erkennen."
Was, wenn plötzlich der Kühlschrank kaputt geht?
Aus seiner Wohnung kommt er selten heraus, seit einer Knieoperation vor ein paar Jahren kann er schlecht laufen. Freunde hat er nur wenige.
Und seine drei Kinder reden seit der Scheidung von seiner Frau, die einem Rosenkrieg glich, nicht mehr mit ihm. Er weiß nicht einmal, wo sie sind.
Die Einsamkeit macht ihn manchmal sehr traurig, sie ist vielleicht das Schlimmste für ihn. Er schaltet dann oft den alten Computer an und liest Nachrichten im Internet.
Einsamkeit und Armut im Alter: Die Probleme breiten sich immer weiter aus, auch auf gut bürgerliche Viertel wie etwa Schwabing. Charlotte Grohl, die ebenfalls anders heißt, sitzt mit Bärbel Röhner im Café Münchener Freiheit. Röhner hat im vergangenen Jahr in München den Verein gegen Altersarmut gegründet. Ehrenamtlich berät die 52-Jährige alte Menschen in Geldschwierigkeiten. "Die Altersarmut wird auch im reichen München immer schlimmer, da kann man nicht zuschauen, da muss man helfen", sagt Röhner, die von Beruf Designerin ist.
Charlotte Grohl wollte auf keinen Fall zu Hause in ihrem kleinen 18-Quadratmeter-Appartement in Schwabing besucht werden. "Da schäme ich mich", sagt die gebürtige Dortmunderin, die seit 20 Jahren in München lebt. Sie ist 73 Jahre alt, aber mit ihrer schlanken, sportlichen Figur, ihren kinnlangen grauen Haaren und dem roten Lippenstift wirkt sie jünger.
Dass sie im Alter in eine derart schwierige Lage geraten würde, hätte Grohl als junge Frau nicht gedacht. Sie hat sich einst zur Dolmetscherin ausbilden lassen und lange als Journalistin gearbeitet. "Aber wegen meiner drei Kinder habe ich zehn Jahre pausiert", erzählt sie. Danach hat sie wieder angefangen zu arbeiten, aber stets nur in Teilzeit. Privat vorsorgen konnte sie nie. Das Geld war immer knapp, vor allem als ihr Mann nach der Scheidung keinen Unterhalt zahlte. Als die Kinder groß waren, zog sie für den Job bei einer Zeitschrift für fünf Jahre nach Marbella, Spanien. Damals war das ein gelebter Traum. Heute ist es eine Versorgungslücke bei ihrer Rente.
75 Euro bleiben ihr nach den fixen Ausgaben im Monat zum Leben. In München viel zu wenig. Grohl jobbt nebenher in einem Callcenter, aber nur stundenweise. Ganz schön anstrengend sei der Job an der Telefonhotline. "So lange ich fit bin, geht das ja", sagt sie. Es soll sich kämpferisch anhören, doch in ihren Augen sieht man auch Verzweiflung.
Bärbel Röhner geht mit Charlotte Grohl noch einmal alle Möglichkeiten durch, wie sie zu etwas mehr Geld kommen kann. Was Zuschüsse angeht, ist schon alles ausgeschöpft.
"Wie hoch sind denn die wöchentlichen Ausgaben für Essen", fragt Röhner. "Etwa 50 Euro", lautet die Antwort. "Das ist eindeutig zu viel", sagt die Beraterin. "Aber ich kaufe ja schon im Discounter ein und nur das Billigste", entgegnet Grohl. Noch mehr sparen gehe nicht. "Doch, das geht. Bei der Münchner Tafel oder in den Alten- und Servicezentren kann man sehr billig essen", hält Röhner dagegen. "Ich bei einer Tafel essen? Auf gar keinen Fall! Das ist unter meiner Würde" - Grohl schüttelt energisch den Kopf. "Lieber esse ich nichts."
Karin Majewski vom Paritätischen Wohlfahrtsverband kennt diese Problematik: Viele Bedürftige wollen nicht bei der Tafel essen, weil sie sich für ihre Armut schämen. "Aus Scham oder Unkenntnis verzichten sogar viele auf die ihnen zustehenden Sozialhilfeansprüche", sagt sie. Schätzungen des Münchner Armutsberichts zufolge haben mindestens 10.000 Münchner, die einen Anspruch auf Grundsicherung im Alter hätten, diesen nicht geltend gemacht. Sie schränken sich stark ein oder brauchen ihr letztes Erspartes auf, statt Unterstützung in Anspruch zu nehmen.
Arme Rentner sind noch dazu auch gesundheitlich benachteiligt. Die gesetzlichen Krankenkassen haben in den vergangenen Jahren ihre Leistungen reduziert. Kosten für eine Brille oder manche Medikamente werden nicht mehr übernommen. Und aus eigener Tasche zahlen geht oftmals nicht.
Weder Charlotte Grohl noch Udo Gerlach verfügen über Erspartes. Und wenn plötzlich der Kühlschrank kaputt geht? Oder eine andere Anschaffung nötig ist? Grohl zuckt mit den Schultern und sagt: "Ich bin eine Lebenskünstlerin, ich wurstel mich schon irgendwie durch." Auch Gerlach zuckt mit den Schultern. "Keine Ahnung, dann müsste es halt mal ohne Kühlschrank gehen."
Anna Riss ist eine starke Frau. Fleißig und mutig, mit viel Humor. Sie hat gern Leute um sich, das war schon früher so. Wenn die Schwabingerin Anekdoten erzählt, hängen die Zuhörer an ihren Lippen. Vielleicht, weil die 79-Jährige sich traut, auszusprechen, was sie bewegt. Weil sie sich nicht scheut, ihr Leben, das alles andere als leicht war, vor Fremden auszubreiten. Und weil sie kämpft.
Anna Riss entstammt der Kriegsgeneration. Sie hat zwei Kinder, ihr Mann ist erst vor wenigen Wochen gestorben. 32 Jahre lang hat sie ihn gepflegt, zum Schluss rund um die Uhr. "Ich war 47, als mein Mann 44-jährig an einem Gehirntumor erkrankte", erinnert sie sich. Damals hatte man ihr gerade eine Vollzeitstelle im Stadtarchiv angeboten.
Hätte sie zugesagt, bekäme sie jetzt 400 Euro Rente mehr pro Monat. Aber sie schlug aus, nahm stattdessen drei Minijobs an - als Reinigungshilfe. So konnte sie sich parallel um ihren hilfsbedürftigen Gatten und die Kinder kümmern. Geld zum Zurücklegen für später blieb keines übrig.
Heute lebt Anna Riss von der Grundsicherung.
In die ist sie gerutscht, als ihr Mann vor fünf Jahren ins Pflegeheim kam. Mit ihrer eigenen Rente von 680 Euro und der ihres Mannes allein waren die Heimkosten von mehr als 2000 Euro nicht mehr zu stemmen. Zumal noch die Miete von rund 900 Euro für Riss’ Zwei-Zimmer -Wohnung zu finanzieren war. Jahrelang musste sie deshalb mit knapp 500 Euro im Monat auskommen - für Strom, Telefon, Versicherungen, aber auch für Kleider, Essen und was man sonst noch so zum Leben braucht.
So wie Anna Riss geht es vielen älteren Menschen, vor allem Frauen. Es ist die klassische Konstellation: Raus aus dem Beruf, Kinder erziehen, neben dem Teilzeitjob ehrenamtliche Tätigkeiten ausüben und Angehörige pflegen. "Die Frauen opfern sich auf, sind meist sehr organisiert, und wenn sie dann in Rente gehen, rutschen sie in die Bedürftigkeit", erklärt Sophie Eder, Leiterin des Alten- und Service-Zentrums in der Schwabinger Hiltenspergerstraße.
Dass die Tendenz zur Altersarmut steigt, beobachten auch Eders Kolleginnen in den ASZ Schwabing-Ost und Freimann. "Wir merken das an ganz alltäglichen Dingen", sagt Daniela Spießl vom Zentrum in Freimann. "Viele Leute schämen sich, in unsere Schuldnerberatung zu kommen - und wenn sie den Weg dann doch finden, haben sie immer dasselbe an." Wer kein Geld im Portemonnaie hat, kann sich keine neuen Hosen, Pullis und Jacken leisten.
In der Kleiderkammer des Caritas-Zentrums Schwabing-Milbertshofen, die jeden Donnerstagnachmittag geöffnet hat, dürfen derzeit 334 Menschen gespendete Kleidung mitnehmen. "Die Ausgabe der kostenlosen Lebensmittel in Kooperation mit der Münchner Tafel, die gleichzeitig stattfindet, mussten wir inzwischen sogar in zwei Gruppen aufteilen", erläutert Monika Jörg-Müller von der Gemeindeorientierten Sozialen Arbeit im Caritas-Zentrum. So stark sei die Anzahl der Berechtigten angestiegen.
Wer unter drückendem Geldmangel leidet, nimmt aber auch an keinem Kurs teil, bucht keine Ausflüge und besucht keine Vorträge, die die Alten- und Service-Zentren anbieten.
"Die 1,50 Euro, die wir zum Beispiel für einen Vortrag über das Thema Schlaganfall verlangen, um die Redner bezahlen zu können, sind oft schon zu viel", bestätigt Eder.
60 Senioren kommen Woche für Woche in die Cafeteria des Westschwabinger ASZ zum Mittagessen. Fünf Euro kosten Salat, Suppe, Hauptspeise und Dessert regulär. Aber nur ein Viertel der Besucher zahlt diesen Preis. Alle anderen essen entweder für 25 Cent, weil ihre Einkünfte so gering sind, dass sie durch die Grundsicherung abgefangen werden müssen. In diesem Fall kommen die Sozialbürgerhäuser für den Differenzbetrag von 4,75 Euro auf.
Auch Anna Riss geht jeden Tag zum Essen in die Hiltenspergerstraße. Das, und ab und zu ein Abstecher in den Seniorenclub der Pfarrei Sankt Sebastian ist alles, was sie sich gönnt. Urlaub kann sie sich nicht leisten.
Die Kleidung, die sie trägt, ist geschenkt, nur die Schuhe sind neu. Eigentlich, meint sie bescheiden, sei sie "ganz zufrieden" mit ihrem Leben. Sorgen macht sie sich momentan trotzdem.
Denn noch ist der Bescheid ihrer künftigen Witwenrente nicht da. Sollte sie mit dieser neuen Kalkulation knapp über der Grundsicherung liegen, die sich aus einem derzeit in München geltenden Regelsatz von 393 Euro und den Kosten für eine angemessene Wohnung zusammensetzt, hätte sie keinen Anspruch mehr auf Leistungen aus der Sozialhilfe.
Sie bekäme dann auch kein Geld für eine später vielleicht benötigte Haushaltshilfe. Aufgeben wird Anna Riss nicht: "Ich habe mich bisher immer irgendwie durchgewurschtelt - da wird das auch noch gehen."
Alt, arm, allein: Schicksalsschläge und Krankheit können von heute auf morgen Existenzen zerstören. Die Rente reicht nicht mehr zum Leben - es ist kein Geld für Tabletten da und am Monatsende gibt es nur noch Kartoffeln und Reis. Am unerträglichsten ist jedoch die Einsamkeit.
Diese Stimme. So warm und tief. Dazu das rollende R - altes Münchnerisch eben. Und dann erzählt Joseph T. auch noch, dass er Schreiner gelernt hat. Man kann in dem Moment gar nicht anders, man muss an den Meister Eder denken: an die Werkstatt mit ihrem vom Pumuckl beschriebenen Wohlgeruch nach Holz, an das alte Kutscherhaus in der Widenmayerstraße mit der Wohnung vom Eder mit Anrichten und Lampen, die schon 1979, bei Drehbeginn, altertümlich wirkten und heute gerade deshalb wieder begehrt wären.
Auch in der Wohnung von Joseph T. wirken die Möbel, als stünden sie an diesem Ort, seit das Haus Mitte der 1960er Jahre erbaut wurde. Doch romantisch ist hier nichts. Das graue Sofa und die Sperrholzschränke sehen aus, wie Möbel aussehen, wenn sie jahrzehntelang benutzt wurden.
Das Radio im Regal wäre ein Stück fürs Deutsche Museum. Wie aus der Zeit gefallen wirkt die Ein-Zimmer-Wohnung, was Joseph T. nichts auszumachen scheint. Was ihm fehlt, sind keine neuen Möbel. Was ihm fehlt, ist ein unterhaltsamer Geselle, wie ihn der Meister Eder im Pumuckl gefunden hatte.
Früher, als er noch arbeiten konnte, habe er immer gern Menschen um sich gehabt, erzählt Joseph T. (alle Namen geändert). Bis vor vier Jahren, bis zu seinem 71. Lebensjahr, hat er als selbständiger Bodenleger sein Geld verdient. "Ich hab’ mich zu wenig versichert", sagt der 75-Jährige heute, und er geht selbst hart mit sich ins Gericht. Zu viel geraucht habe er, so viel, dass er sich am Ende einen Wecker gestellt hatte, um zwischen zwei Zigaretten wenigstens zehn Minuten Pause einzuhalten. Dann hörte er auf, von einem Tag auf den anderen. Weil er sich so geärgert hatte "über meine Ohnmacht".
Zukunftssorgen hatte er da noch keine. "Du wirst eh nicht alt, dachte ich mir. Und so lange kannst Du Deine Arbeit machen."
Es kam anders. Die Firma, für die T. tätig war, hatte für die Bayerische Landesbank gearbeitet. Als die 2008 einen Rettungsschirm benötigte, brachen die Aufträge weg.
T.s Lager war voll mit Parkett und Teppichböden, die Miete lie...