Heideggers Kerngedanke
Das In-der-Welt-sein des Menschen
Heidegger verwendet eine neue Methode der Wahrheitsfindung, die sogenannte Phänomenologie. Man darf auf keinen Fall, wie dies die moderne Wissenschaft praktiziert, einen vorgefertigten Fragenkatalog über den Forschungsgegenstand stülpen, denn dann bekommt man, so Heidegger, immer nur die Antworten, die bereits in der Frage angelegt sind. Als guter Philosoph muss man die Phänomene möglichst vorurteilsfrei und interesselos auf sich wirken lassen, oder wie Heidegger es formuliert:
Mit dieser von seinem Lehrer Husserl übernommenen Methode der Phänomenologie kam Heidegger zu einer radikal neuen Sichtweise des Menschen. Während frühere Philosophen, wie Descartes oder Kant, immer davon ausgegangen sind, dass der Mensch und die Welt zwei voneinander getrennte Einheiten sind, behauptet Heidegger, dass sie phänomenologisch gesehen eins sind. Unsere Selbstwahrnehmung sei untrennbar mit der Wahrnehmung der Welt verbunden. Sobald wir nämlich die Augen aufmachen, sind wir bereits eingebunden in einen Strom von Eindrücken und Empfindungen. Es ist also nicht so, dass ich zuerst als ‚ich-Selbst’ als abstraktes Subjekt da bin und dann den Wecker klingeln höre und die Uhrzeit ablese, sondern beides, das wahrnehmende Ich und die Wahrnehmung, ist immer gleich ursprünglich. Sobald ich nämlich meine Aufmerksamkeit auf etwas richte, bin ich selbst auch schon mitten drin. Denn, so Heidegger:
Deshalb spricht Heidegger nicht mehr vom menschlichen Subjekt einerseits und der Welt als Objekt andererseits, sondern vom „In-der-Welt-sein“. Damit wollte er die seiner Meinung nach falsche und künstliche Subjekt-Objekt Trennung der bisherigen Philosophie überwinden.
Auch ist das Dasein als In-der-Welt-sein, wie Heidegger betont, nicht nur rational verstehend in der Welt, sondern auch immer schon emotional „gestimmt“. Wir befinden uns nämlich jeden Augenblick in irgendeiner Stimmung. Diese Tatsache hätte Kant und die rationalistische Philosophie völlig übersehen. Mal sind wir freudig erregt, mal gelangweilt, mal angespannt, mal gut gelaunt, ein anderes Mal vielleicht niedergeschlagen oder gedrückt. Immer aber sind wir gestimmt, selbst wenn wir uns leer oder uninspiriert fühlen. In der Stimmung oder wie Heidegger auch sagt, in der Befindlichkeit ist die Welt vor jeder Erkenntnis erschlossen:
Die Art und Weise, wie wir die Welt wahrnehmen, hängt also davon ab, wie wir gestimmt sind. Ein und derselbe Gegenstand kann je nach Stimmung ganz unterschiedlich wahrgenommen werden. So wird beispielsweise ein Fuchs, der sich ängstlich in seiner Höhle unter den Wurzeln der Eiche vor dem Jäger versteckt, diesen Baum ganz anders empfinden als der Specht, der in großer Höhe sein Nest baut, oder das Eichhörnchen, das lustvoll von Ast zu Ast springt, oder das Liebespaar, das sich darunter küsst, oder der Waldarbeiter, der den Baum mühsam fällen muss.
Jemand, der in gedrückter Stimmung ist, sieht oft alles grau in grau. Sein gedrücktes In-der-Welt-sein lässt ihn die ganze Welt sowie sein eigenes Darin- Sein düster erscheinen, so wie man umgekehrt im Übermut die ganze Welt mit einer rosaroten Brille sieht.
Das In-der-Welt-sein als Befindlichkeit, in der das Dasein sich selbst und die Welt gleich ursprünglich erschließt, ist die unhintergehbare Wirklichkeit des Menschen. Das In-der-Welt-Sein ist somit gemäß Heidegger ein Existenzial, ebenso wie der nun folgende Sorgecharakter des Daseins.
Der Sorgecharakter des Daseins
Hier kommen wir zu einem weiteren zentralen phänomenologischen Befund Heideggers hinsichtlich der Struktur des menschlichen Lebens. Das Dasein ist, so Heidegger, nicht nur ein Seiendes, das wie ein Stein einfach nur vorhanden ist, sondern es ist sich selbst ein Stück ‚vorweg’.
Was meint Heidegger damit? Er will die strukturelle Beschaffenheit beschreiben, dass wir uns ständig um die Welt, um die Mitmenschen und natürlich um uns selbst sorgen. Unser Dasein kann niemals ganz in der Gegenwart aufgehen. Der Mensch lebt sozusagen nicht nur im Augenblick, sondern plant ständig voraus und entwirft sein Dasein in jeder Sekunde auf die Zukunft hin. Er ist sich selbst vorweg. Er betreibt Vorsorge für den nächsten Moment, den nächsten Tag, die nächste Woche oder das Alter. Er besorgt Lebensmittel für das Abendessen, ist fürsorglich zu den Kindern und sorgt sich generell um das, was war, was ist und was wohl noch kommen wird. Unser In-der-Welt-sein, so Heidegger, ist immer schon ein sorgendes In-der-Welt-sein. Es ist stets auf das bezogen, was uns aus der Welt entgegenkommt und was auf uns zukommt. Wir sind, so Heidegger, in unserer Sorge immer auf etwas aus:
Mit dem Sorgecharakter des Daseins als einem Existenzial meint Heidegger aber nicht die einzelnen konkreten Alltagssorgen, auch nicht die mehr oder weniger sorgfältigen Pläne für die Zukunft und auch nicht all dies zusammen. Er meint vielmehr die grundsätzliche menschliche Eigenart, in Raum und Zeit zu leben und sich darin selbst entwerfen zu müssen, mit der Betonung auf ‚müssen‘. Interessanterweise kann der Mensch nach Heidegger nicht einfach damit aufhören, sich um seine Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu sorgen, und sich beispielsweise gar nicht mehr auf die Zukunft hin entwerfen. Denn selbst, wenn er keinerlei Pläne mehr macht und sich schweigend in eine Ecke setzt, hat er sich bereits entworfen, nämlich als ‚planlos in der Ecke Sitzenden’. Es gibt also kein Entkommen aus dem existenziellen Entwurfcharakter des Daseins:
Deshalb ist auch der Sorgecharakter des Daseins unhintergehbar. Das Sich-selbst-Entwerfen auf das mögliche Sein-können in der Gegenwart und Zukunft ist ein Existenzial und gehört zum Sorgecharakter des Daseins. Es ist unhintergehbar. Heidegger spricht an dieser Stelle auch vom „geworfenen Entwurf“, da wir vor der Geburt nicht gefragt werden, ob wir entwerfend in der Welt sein wollen oder nicht. Wir sind es einfach und müssen aus dem, was wir vorfinden, das Beste machen, egal wo und wann wir geboren werden, egal ob wir groß oder klein, reich oder arm sind. Und das bleibt, so Heidegger, nicht ohne Konsequenzen. Denn durch das ständige Entwerfen des Daseins auf eine mögliche Zukunft hin befindet sich dieses auch in einem ständigen Umstrukturierungsprozess:
Wir sind, so Heidegger, deshalb ständig mehr, als wir gerade sind, weil der Entwurf, den wir auf die Zukunft hin machen, sich immer auch schon auf die Gegenwart auswirkt und über diese hinaus weist. So gewinnt beispielsweise ein Spitzensportler allein aus der Vorstellung, bei der nächsten Olympiade zu siegen, eine ungeheure Motivation, in der Gegenwart hart dafür zu trainieren. Ein sich selbst als künftiger Sieger entwerfender Sportler ist deshalb bereits mehr als nur ein Trainierender. Er ist bereits ein möglicher Sieger, ein Siegertyp, auch wenn der Wettbewerb noch bevorsteht oder wie Heidegger sagt:
Diese strukturelle Möglichkeit, sich selbst als mehr beziehungsweise als etwas anderes zu entwerfen, als was man gerade ist, macht den Sorgecharakter des Daseins aus. Wir können uns jederzeit neu entwerfen, z.B. vom Dorf in die Stadt ziehen, Kinder bekommen, neue Freunde gewinnen, die Arbeitsstelle wechseln oder vielleicht auch ganz aussteigen und in ein Schweigekloster ...