Der Marquis von Lübeck
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Der Marquis von Lübeck

  1. 456 Seiten
  2. German
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  4. Über iOS und Android verfügbar
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Der Marquis von Lübeck

Über dieses Buch

Charles de Villers, Artillerieoffizier Napoleons, muss aus Paris fliehen. In Göttingen lernt er die frisch gebackene Doktorin der Philosophie Dorothea Schlözer, kennen und lieben. Doch ihre Hochzeit mit dem reichen Kaufmann Matthäus Rodde zerstört seine Träume. Als er bei seiner weiteren Flucht Unterschlupf im Haus des Senators in Lübeck findet, genießt er die Nähe zu Dorothea. Durch den Überfall der preußischen und napoleonischen Truppen 1806 auf die freie Hansestadt beginnt auch für die Ménage à trois eine Zeit des Schreckens.Die drei historischen Figuren, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Lübeck gewirkt haben, erleben die wohl blutigste Episode in der Geschichte der Hansestadt.

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Information

Jahr
2018
ISBN drucken
9783752815122
eBook-ISBN:
9783752800654

Kapitel 1

Wie ein Leichentuch legte sich die Schwüle über die Dächer von Paris. Sie erdrückte und lähmte jede Geschäftigkeit. Selbst das Wasser der Seine schien sich an diesem warmen Sommertag im Juni 1802 nur träge plätschernd den Weg in den Ärmelkanal zu suchen. Kein Lufthauch brachte Linderung. Faulende Dämpfe stiegen aus den Gassen auf. Die Straßenköter kniffen ihre Schwänze ein und suchten schattige Plätze, von denen sie nicht vertrieben werden konnten. Die Rufe der Marktweiber klangen müde und ermattet. Türen und Fensterläden waren geschlossen, um die brütende Hitze auszusperren. Das sonst so ausgelassene und übermütige Mädchen Paris glich an diesem Tag eher einem erschöpft keuchenden alten Waschweib.
Lediglich einen Bewohner des Hauses Nummer 15 in der Rue de Nevers störte die schwüle Sommerluft offensichtlich wenig. Die Fenster in der ersten Etage waren weit geöffnet, vielleicht in der vagen Hoffnung, dass ein erfrischender Windhauch die dumpfe Hitze vertreiben könnte.
Bekleidet mit einem leichten Hemd und einer blauen Uniformhose saß Charles de Villers konzentriert an seinem Schreibtisch. Vor sich unzählige Blätter. Einige hatten sich selbstständig gemacht und waren auf den Fußboden gesegelt. Charles de Villers schrieb unaufhaltsam. Immer wieder tauchte er die Feder in das Tintenfass, hielt kurz inne, fasste seine Gedanken in Worte und kritzelte sie in hastigen Zügen nieder. Tief versunken schwebte er in einer anderen Welt. Weder die quälende Hitze noch die polternden Handkarren auf dem Straßenpflaster oder das nörgelnde Jammern übel gelaunter Kinder erreichten ihn. In Lothringen als Sohn eines Finanzbeamten und einer adligen Mutter aus dem Languedoc aufgewachsen, hatte er schon als junger Mensch alles schriftlich festgehalten, was er am Tag erlebt hatte.
Auch während seiner Schulzeit in Metz und später als Soldat hatte ihn die Faszination des Schreibens nie verlassen. Bis heute brachte er seine Gedanken zu Papier. Mit dem kleinen Unterschied, dass er sich nicht mehr nur auf die Beschreibung des Alltags beschränkte, sondern die Welt durch eine äußerst kritische Brille sah und dies in messerscharfe Worte fasste.
„Charles, komm raus aus deinem Schneckenhaus!“ Erst als die Tür zu seinem Arbeitszimmer aufgerissen wurde, sprang er auf und sah den ungehobelten Eindringling feindselig an. Seine Gesichtszüge verwandelten sich jedoch sofort in verständnisvolle Milde, als er erkannte, wer seine Gedanken auf diese impertinente Weise gestört hatte.
„Paul, du bist ein ungehobelter Mensch.“
„Aus deinem Mund ist das ein Kompliment, mein Lieber.“
Paul Martigny war wie Charles de Villers Capitaine des 2. Artillerieregiments. Beide hatten in den Revolutionskriegen tapfer ihren Mann gestanden, ihre soldatischen Fähigkeiten bewiesen und galten trotz ihrer jungen Jahre als erfahrene Offiziere. Sie waren seit langer Zeit befreundet und jeder kannte die Stärken und Schwächen des anderen nur zu gut.
„Lass mich noch kurz meine letzten Gedanken notieren, dann stehe ich dir voll und ganz zur Verfügung.“
„Tu, was du nicht lassen kannst. Gibt es denn in deiner kargen Behausung wenigstens ein Glas Wein?“
„Bediene dich! Dort auf der Kommode steht alles, was dein Säuferherz begehrt.“ Charles zeigte nach rechts, wo auf einem Tablett mehrere Karaffen und Gläser standen. Dann setzte er sich wieder an den Schreibtisch.
Paul schnallte seinen Säbel ab und zog seinen blauen Waffenrock aus. Nachdem er sich ein Glas Wein eingeschenkt hatte, warf er sich in einen Sessel und legte entspannt sein rechtes Bein über die Armlehne. Genüsslich schlürfend beobachtete er seinen Freund, der sich bereits wieder entschlossen seinen Notizen widmete. Paul musste schmunzeln.
Die beiden unterschieden sich grundlegend. Während Charles' fein geschnittenes Gesicht von blonden Haaren und Koteletten eingerahmt war und seine blauen Augen eine seltene Tiefe und Klarheit zeigten, konnte Paul seine südländische Herkunft nicht verleugnen. Sein blauschwarzes Haar, sein bronzefarbener Teint und seine fast schwarzen, ständig funkelnden Augen verrieten sein Temperament und seine Heimat im tiefen Süden Frankreichs. Charles neigte eher dazu, überlegt zu handeln, während Paul das Leben stets von der sonnigen Seite sah.
Nach ungefähr fünf Minuten des Schweigens legte Charles die Feder zur Seite und lächelte seinen Freund an. „Nun, Paul, was gibt es Neues aus der Pariser Halbwelt?“
„Es ist zum Haareraufen, dass du dich lieber hinter deinem Schreibtisch verschanzt, als dich in die Gefechte des Salonlebens zu stürzen. Die Pariser Weiblichkeit verlangt nach dir.“
„Da habe ich in dir doch einen guten und allzeit gern gesehenen Vertreter.“
„Grundsätzlich hast du recht, aber auch ich stoße an ganz natürliche Grenzen.“
„Soll das etwa heißen, dass du dem Ansturm deiner Verehrerinnen nicht mehr gewachsen bist?“ Charles stand auf, schenkte sich ebenfalls ein Glas Wein ein und prostete seinem Freund schelmisch lächelnd zu.
„Den Tag wirst du nicht erleben, mein Lieber. Aber Paris ruft nach dir. Ich habe ja absolutes Verständnis dafür, dass du dich nur zu gern in deinen Blätterwald vertiefst und deine wirren Gedanken zu Papier bringen musst, aber die Damen in den Salons warten förmlich auf junge und stattliche Offiziere, die mit ihnen intelligente Konversation pflegen, ihnen Komplimente machen, sie zum Tanz ausführen und ihnen das Gefühl geben, dass sie leben und begehrenswert sind. Dazu bist du berufen, Charles de Villers. Das ist deine Pflicht als Offizier. Verschieße dein Pulver nicht nur auf den Schlachtfeldern und in deinen schriftlichen Attacken gegen die Irrwege der Menschheit; auch auf den Boulevards von Paris gibt es genügend attraktive Zielobjekte.“
Charles musste lachen. „Paul, deine Ausführungen über die Pflichten eines Offiziers sind einzigartig. Vielleicht sollten wir sie in das Programm zur Ausbildung der Kadetten mit aufnehmen.“
„Keine schlechte Idee. An deinem Glück kommst du trotzdem nicht vorbei. Ich habe uns beide für übermorgen im Salon von Baronin de Stael avisiert. Wie du weißt, hat sie schon mehrfach sehnsüchtig dein Kommen erwartet. Enttäusche sie also nicht. Die Frau hat Einfluss. Und den hast du möglicherweise sehr bald nötig.“
„Die gute Madame de Stael mag ja ein liebenswerter Mensch sein“, sagte Charles, „aber sie ist anstrengend. Ich habe den Verdacht, dass sie weitaus mehr von mir will als nur geistreiche Anerkennung ihrer manchmal etwas wundersamen Gedanken. Wieso bist du der Meinung, dass ich in Zukunft auf ihre guten Beziehungen angewiesen sein sollte?“
„Ich will nicht die Pferde wild machen, aber im Casino herrscht unter den Offizieren seit einigen Tagen eine ganz eigenartige Stimmung, wenn dein Name fällt.“ Auf Pauls Stirn waren plötzlich deutlich Sorgenfalten zu erkennen.
„Und was meinst du, woran das liegt?“
„Wie es aussieht, sind deine jüngsten Veröffentlichungen nicht von allen Parisern mit Begeisterung aufgenommen worden. Auch unter den höheren Offizieren gibt es genügend Ignoranten, die allein schon die Tatsache für anmaßend und hochverräterisch halten, dass ein kleiner Capitaine seine kritischen Gedanken in die Öffentlichkeit posaunt.“
„Paul, wir haben uns doch schon oft genug darüber aufgeregt. Wo sind denn die hohen Ideale der Revolution geblieben? Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Dass ich nicht lache! Wie viele Köpfe sind über das Pariser Pflaster gerollt, nur weil sie freiheitliche Ideen geäußert haben, die Männern wie Robespierre, Danton und Saint-Just nicht gefallen haben. Wie sieht die gepriesene heilige Gleichheit denn heute aus? Hast du auf dem Weg zu mir einmal die Bettler gezählt, die dir die Hände entgegengestreckt haben? Und die praktizierte Brüderlichkeit beschränkt sich doch ausschließlich darauf, dass nur der mein Bruder im Geiste ist, der mir persönlich Vorteile bringt. Wir nützlichen Idioten verteidigen auch noch diese korrupte Bande mit unserem Leben, indem wir als Soldaten unter Fanfarenklängen gegen Österreich, Preußen, Italien und Holland ziehen, während der wahre Feind hinter unserem Rücken im eigenen Nest sein Unwesen treibt. Allen voran unser Erster Konsul, Napoleon Bonaparte, der schon jetzt alle Macht des Staates in den Händen hält. Haben wir nicht gerade vor gut zehn Jahren diese Art von Absolutismus bekämpft?“
Charles de Villers hatte sich in Rage geredet. Nicht das erste Mal. Er wusste, dass sein Freund ähnlich dachte wie er. So manche Nacht hatten sie über die Revolution mit all ihren politischen Verirrungen und persönlichen Schicksalen diskutiert. Ihre Treue zu Frankreich war dabei nie gefährdet gewesen. Doch ihre Fragen waren häufig genug unbeantwortet geblieben. Charles hatte daraufhin begonnen, regelmäßig seine zweiflerischen Gedanken in kritischen und satirischen Aufsätzen niederzuschreiben und im Journal de Paris zu veröffentlichen. So auch in der vergangenen Woche, was in manchen Kreisen der Pariser Gesellschaft offensichtlich nicht gern gesehen war.
„Charles, ich verstehe ja deinen Zorn und gebe dir auch grundsätzlich recht, aber du weißt genau, dass deine Thesen nicht überall gut ankommen. Die Besitzenden tönen stets lautstark, wenn es um Gleichheit geht, aber wehe, einer, der weniger hat als sie, kratzt an ihren Reichtümern, dann ist der Ruf nach schützenden Gesetzen groß. Durch deine Aufsätze bringst du dich selber in Gefahr.“
„Soll ich mir deswegen von irgendwelchen Gestrigen und Opportunisten das Maul verbieten lassen?“
„Nein, ganz bestimmt nicht, aber vielleicht wäre es besser, wenn du dich in den nächsten Wochen ein wenig zurückhältst und das Feuer mit weiteren Artikeln nicht noch schürst.“
„Da werde ich nicht schweigen. Auch in Zukunft nicht.“
„Aber genau das ist meine Sorge.“ Nachdenklich strich Paul mit dem Finger über den Rand des Weinglases.
„Es ehrt dich, lieber Freund, dass du dich um mein Seelenheil sorgst, aber ich denke, du übertreibst ein wenig.“
„Ich glaube, du bist dir deiner prekären Lage tatsächlich nicht bewusst, Charles. Die höheren Offiziere unseres Regiments befürchten, dass durch deine ketzerischen Artikel auch auf sie Schimpf und Schande fallen könnte. Außerdem ist bereits der Generalstab auf dich aufmerksam geworden. Es sieht so aus, als ob du mit General Davout einen ganz besonderen Feind gewonnen hast. Als bei der letzten Stabsbesprechung dein Name fiel, soll er gewütet haben wie ein angestochener Stier. Seitdem er mit Aimée Leclerc verheiratet und damit sogar mit Napoleon entfernt verwandt ist, hat sein Wort mehr und mehr Gewicht. Charles, die schießen sich auf dich ein!“ Paul hielt kurz inne, um seinen Worten mehr Gewicht zu verleihen. „Und wie mir ein Mädchen aus dem Haus von Madame Gabriele berichtet hat, hält sich das Gerücht, dass auch schon Spitzel unseres übereifrigen Polizeiministers Fouché über deine kritischen Artikel gestolpert sind.“
„Paul, ich bitte dich, Napoleon und Davout kümmern sich doch einen Dreck um einen einfachen Artilleriecapitaine. Außerdem, neidvolle Intrigen unter den Offizieren hat es schon immer gegeben. Und Hand aufs Herz, wie bedeutungsvoll sind die Worte eines Freudenmädchens während eines Schäferstündchens?“
Paul seufzte. „Ich habe befürchtet, dass meine Warnungen bei dir nicht auf fruchtbaren Boden fallen würden. Aber um eines bitte ich dich in aller Freundschaft. Sei vorsichtig! Da braut sich etwas zusammen.“
Es versprach ein milder Sommertag zu werden. Das nächtliche Gewitter hatte die Schwüle vertrieben. Ein leichter Wind ließ die Blätter der Pappeln vor dem Haus rauschen. Selbst die Seine schien an diesem Morgen zu neuem Leben erwacht zu sein. Ihr Wasser sprudelte, sprang und rauschte, als ob frische Quellen sie gefüttert hätten.
Charles de Villers öffnete schlaftrunken die Augen, als er ein lautes Klopfen an der Haustür vernahm. Träge wühlte er sich aus dem Bett, warf sich seinen Uniformmantel über und stolperte die Stiege hinunter, nachdem seine Wirtin, Madame Adele, den Lärm vor dem Haus nicht gehört oder das Haus für ihre morgendlichen Besorgungen bereits verlassen hatte. Als er die schwere Tür öffnete und in die Sonne blinzelte, streckte ihm ein Caporal seines Regiments ohne ein weiteres Wort ein gesiegeltes Kuvert entgegen, grüßte schneidig, machte kehrt und verschwand in der Gasse.
Charles schüttelte den Kopf, schloss die Haustür und stieg wieder die Treppe empor. Es war spät geworden am Abend zuvor, nachdem ihn Paul letztlich doch überredet hatte, den Tag nicht ohne weibliche Begleitung ausklingen zu lassen. Auch wenn Charles anfangs gezögert hatte, so konnte er sich der unbändigen Lebensfreude seines Freundes nicht entziehen. Sie hatten getrunken und getanzt. Er war erst in den frühen Morgenstunden ins Bett gefallen. Mit dem festen Vorsatz, mindestens bis zum Mittag zu schlafen, da er erst in drei Tagen wieder seinen Dienst antreten musste.
Charles warf seinen Mantel auf das Bett und erbrach das Siegel. Kopfschüttelnd überflog er die wenigen Zeilen. Der Adjutant des Regimentskommandeurs, Major Debussy, wies ihn an, heute um zwölf Uhr zum Rapport im Generalstab zu erscheinen. Keine weiteren Erklärungen. Keine Begründung. Er zuckte resignierend mit den Schultern. Einerseits war er es gewohnt, dass die Befehle beim Militär nicht immer logischen Regeln unterworfen waren. Andererseits war es ungewöhnlich, Offiziere während ihres Urlaubs zum Rapport zu bestellen. Es sei denn, das Regiment musste kurzfristig zu neuen Kriegseinsätzen ausrücken. Doch zu solchen Anlässen hatte es bisher nie eine schriftliche Einladung gegeben. Er blickte auf die Uhr. In vier Stunden würde er mehr wissen.
Charles de Villers war pünktlich. Kurz vor zwölf meldete er sich beim Adjutanten des Generals. „Ganz im Vertrauen, Major, wissen Sie, was der General von mir will?“
„Das werden Sie noch früh genug erfahren, de Villers.“
Charles wunderte sich über die schroffe Antwort. Bisher hatte er zu dem Adjutanten des Generals stets ein kameradschaftliches Verhältnis gehabt.
„Sie können sich ruhig zunächst ins Casino begeben. Der General hat noch keine Zeit für Sie. Ich lasse Sie rufen, wenn es so weit ist.“ Der Adjutant widmete sich wieder den Papieren auf seinem Schreibtisch.
Charles konnte sich das eigenartige Verhalten des Adjutanten immer noch nicht erklären. Oder sollten seine kritischen Artikel im Journal de Paris einigen Offizieren doch missfallen haben, wie Paul berichtet hatte? Er wollte sich nicht den Tag durch die schlechte Laune eines frustrierten Offiziers verderben lassen. Warum sollte er also nicht ins Casino gehen? Dort hätte er zumindest die Chance, um diese Zeit einige seiner Kameraden zu treffen. Vielleicht hatte auch Paul schon aus dem Bett gefunden.
Mit Verwunderung registrierte er wenig später die bunte Collage der Kopfbedeckungen in der Garderobe des Regimentscasinos, als er seinen Tschako abgeben wollte.
„Habe ich etwas versäumt?“, fragte er die Ordonnanz.
„Ich weiß es auch nicht, Mon Capitaine. Es sind nicht nur die Offiziere unseres Regiments hier. Schauen Sie nur. Ich habe heute fast alle Waffengattungen im Angebot.“ Der Soldat zeigte auf die verschiedenen Mützen, Tschakos und Helme.
Als Charles das Kaminzimmer des Casinos betrat, blieb er verwundert in der Tür stehen. Hohe Offiziere, nicht nur des Artillerieregiments, standen in Gruppen zusammen und unterhielten sich angeregt. Dieser Aufmarsch erschien ihm ungewöhnlich. Während das Bild im Casino sonst zumeist von den blauen Uniformen der Artillerie bestimmt wurde, waren heute neben den grünen Waffenröcken der Elitejäger auch die Dragoner in ihren weißen Hosen und die Husaren mit ihren über die Schulter gehängten Jacken anwesend. Unter ihnen sogar mehrere Generäle.
Zu seiner Erleichterung entdeckte Charles in der hintersten Ecke des Raumes einige jüngere Offiziere, die er kannte. Auch seinen Freund Paul. Zügig ging er auf sie zu. Dabei blieb ihm nicht verborgen, dass ihn hier und da kritische Blicke verfolgten. Die Offiziere rund um Paul, zwei Capitaine und drei Leutnants, begrüßten Charles freundlich.
„Sagt einm...

Inhaltsverzeichnis

  1. Der Autor
  2. Hinweise
  3. Motto
  4. Inhaltsverzeichnis
  5. Kapitel 1
  6. Kapitel 2
  7. Kapitel 3
  8. Kapitel 4
  9. Kapitel 5
  10. Kapitel 6
  11. Kapitel 7
  12. Kapitel 8
  13. Kapitel 9
  14. Kapitel 10
  15. Kapitel 11
  16. Kapitel 12
  17. Kapitel 13
  18. Kapitel 14
  19. Kapitel 15
  20. Kapitel 16
  21. Kapitel 17
  22. Kapitel 18
  23. Kapitel 19
  24. Kapitel 20
  25. Kapitel 21
  26. Kapitel 22
  27. Kapitel 23
  28. Kapitel 24
  29. Dichtung und Wahrheit
  30. Weitere Informationen
  31. Impressum