1. Einwanderung und erste Eindrücke im neuen Land
Die Gründe für den Umzug
Mein Profil als Einwanderer in die USA ist eher untypisch. Ich bin 2010 aus der Schweiz übersiedelt, kurz nachdem ich pensioniert worden war. Ich wollte in der Nähe von Mary Ann, meiner amerikanischen Gattin sein, die an der Alzheimer Krankheit litt. Sie hatte einige Monate in einem Pflegeheim in Zürich verbringen müssen, bevor sie, auf eigenen Wunsch und in gemeinsamer Absprache, in ein Heim in Colorado verlegt werden konnte, dorthin, wo sie zu Hause war, bevor wir geheiratet haben. Hier konnte sie ihre eigene Sprache sprechen. Ich wollte ihr kurz darauf nach Colorado folgen. Unsere wunderbare Ehe wurde durch die sich schnell entfaltende Krankheit und das Leiden zerrissen. Es war ein kleiner Trost, dass wir diese Massnahme noch durchführen konnten, bevor es zu spät war.
Ich habe mich darauf gefreut, den Ruhestand mit meiner Ehepartnerin zu erleben. Wenn auch die Umstände nicht mehr als glücklich bezeichnet werden konnten, entschied ich mich, das Beste daraus zu machen, und freute mich auf mein neues Leben in den USA. Tage vor meiner Pensionierung liess ich meine Sachen in einen Container packen und an meine neue Adresse verschiffen.
Um etwa gleichzeitig mit dem Container an meinem neuen Wohnort anzukommen, unternahm ich eine lange Zugreise mit Amtrak1 durch das grosse Land; ich bin ein begeisterter Bahnfahrer. Es war eine schöne Abwechslung im Vergleich zu den vielen eiligen Kurzreisen in die USA, die ich im Jahr zuvor unternommen hatte.
Als ich meiner Familie und den Freunden in der Schweiz mitteilte, dass ich in die Vereinigten Staaten umziehen und mich verabschieden wolle, waren alle überrascht. Zehn oder mehr Jahre früher wäre jedermann erfreut gewesen und hätte mich um meine Entscheidung beneidet, aber 2010 war die Sache anders. Warum sollte ich in ein verarmtes Land mit täglichen Skandalen in Wirtschaft und Showbusiness ziehen? Wollte ich wirklich in einem Land sein, das nach wie vor in Kriege engagiert ist, die die Bush/Cheney-Regierung begonnen hatte? Wollte ich in einem Land leben, das sich nicht um die Armen kümmert? Die Verwüstungen des Hurrikans Katrina in New Orleans hatten nur einen kleinen Teil des grossen und schönen Landes erfasst, aber jeder hatte noch die Bilder von Tod und Zerstörung und die erschreckend mangelhafte Reaktion von offizieller Seite darauf vor Augen.
Was ich hörte, war eine Liste von negativen Geschichten über die USA, die in europäischen Köpfen vorherrschend sind. Alle Argumente waren richtig, kein Punkt war erfunden oder boshaft. Es waren lediglich Erinnerungen an die Nachrichten, die man in Europa über die USA hört und die sich weitgehend auf das Negative beschränken. In der Schweiz waren individuelle Gründe und Eindrücke mit einer negativen Einstellung gegenüber den USA und ihrer internationalen Politik verschmolzen.
Trotz aller Kommentare und Bedenken gab es für mich keine Gründe, die mich von meiner Auswanderung hätten abhalten können; ich zog zu meiner Gemahlin nach Colorado.
Das Einreiseprozedere der USA ist einzigartig in der Welt. Es wird von den meisten Ausländern als streng und kompliziert wahrgenommen. Die Ankunft des Fluges von Zürich nach Washington Dulles fällt mit rund 30 anderen Flügen zusammen, die von zahlreichen Städten in Europa herkommen. Bevor man an der Reihe ist, um überprüft zu werden, vergeht oft eine Stunde. Der Einreisebeamte kontrolliert den Pass und den Fragebogen, macht ein Porträtfoto und nimmt Fingerabdrücke, erst dann wird er – hoffentlich – die Einreise mit einem Stempel in den Pass gutheissen. Manchmal wird der Beamte zusätzlich Fragen haben oder Bemerkungen machen.
Es scheint für die Beamten schwierig zu sein, zwischen Tourist und Terrorist zu unterscheiden. Tatsache ist, dass einer meiner Freunde nur noch nach Kanada in die Ferien geht, um die Einreise in die USA zu vermeiden. Es gibt andere Wege, um einen Bogen um die langen Warteschlangen bei der Einreise in die USA zu machen: Ich wähle beispielsweise spezielle Flugzeiten (Flüge mit früher oder später Ankunft in New York oder Washington) oder kleinere Ankunftsorte, wie New York-Newark, Toronto, Denver, Boston oder Philadelphia, die oft mehr Beamte als Reisende zählen.
Im Vergleich dazu dauert die Einreise in Zürich oder Genf ungefähr zwei Minuten. Ein Beamter kontrolliert den Pass mithilfe eines Computersystems. Es gibt keine weiteren Fragen.
Das amerikanische Einreiseprozedere steht in grossem Gegensatz zur Zollkontrolle, die schnell und nur ansatzweise erfolgt. Die Zollfragekarte, die bereits auf dem Flug auszufüllen ist, wird nur überflogen. Allerdings kann es durchaus sein, dass das aufgegebene Gepäck durch die Transport Security Administration (TSA) geöffnet worden ist, die eine Visitenkarte in Form eines Informationsblattes im Innern des Koffers hinterlässt.
Warum machen die Vereinigten Staaten eine derart strikte Einreisekontrolle? Der Grund ist klar: Die USA kennen keine Einwohnerkontrolle. Wer die Grenzen des Landes überschritten hat, geniesst uneingeschränkte Freiheit, sich zu bewegen. Selbst wenn man von einem Ort zum anderen umzieht, sind die Behörden nicht involviert.
In Europa muss sich jeder Einwohner im Rathaus mit seinem Ausweis registrieren lassen und seine genaue Adresse angeben. Die Gemeinde weiss zu jeder Zeit, wie viele Einwohner sich legal in der Stadt aufhalten. Die Einwohnerkontrolle erlaubt es, Steuerunterlagen und Abstimmungs- und Wahldokumente zuzustellen, Einwohner zum Militärdienst einzuziehen oder die schulpflichtigen Kinder einzuschulen.
Ein vergleichbares, jedoch freiwilliges Vorgehen in den USA ist die Nachführung der Adresse bei der staatlichen Rentenbehörde (Social Security). Meistens hat man in den USA den ersten Kontakt mit den lokalen Behörden, wenn man den Führerschein machen will oder eine Autonummer beantragt. Die Amerikaner empfinden die Einrichtung der Einwohnerkontrolle als Bedrohung. Sie befürchten von der Regierung kontrolliert zu werden.
Das Prozedere bei der amerikanischen Botschaft in Bern, um die Aufenthaltsgenehmigung (Permanent Resident, bekannt als „Green Card“), war effizient und tadellos. Mit der „Green Card“ hat man Anspruch auf eine eigene Mitgliedernummer bei der Social Security (staatliche Rentenkasse). Und diese ist nötig um Versicherungs- und Krankenkassenpolicen abzuschliessen, das Nummernschild des eigenen Wagens zu lösen und den Führerschein abzulegen. Alle administrativen Schritte für Versicherungen und Auto konnte ich mühelos und schnell erledigen.
Kaum war ich angekommen, nahm ich die Regeln des Alltags der neuen Heimat an. Zu meiner Überraschung fühlte ich mich schon nach zwei Wochen wie ein Amerikaner. Leute, die ich im Supermarkt oder am Skilift traf, Freunde, Nachbarn oder Reisebekanntschaften, alle waren äusserst freundlich und hilfreich. Der Amerikaner begrüsst dich mit „Hello“, „Hi, how are you?“ oder „How are you doing today?“ und helfen dir, dich heimisch zu fühlen. Einwanderer, heute vor allem aus Asien oder Lateinamerika kommend, geniessen grossen Respekt, da sich die Amerikaner das Schicksal ihrer Eltern oder Grosseltern in diesen Personen vergegenwärtigen. Die Freundlichkeit, die man im ganzen Land antrifft, ist eindrücklich.
Das amerikanische Englisch und seine Besonderheiten
Die englische Sprache ist der Zugang zum Verständnis der Bewohner, der Kultur und der Gewohnheiten der neuen Heimat. Bücher, Zeitschriften und Zeitungen zu lesen sowie Fernsehsendungen und Hollywoodfilme anzusehen, waren gute Übungen für mich, um die Leute und die Politik in diesem grossen Land kennen und verstehen zu lernen. Ein Grundstock an Namen von Berühmtheiten oder politischen Figuren ist nötig, um Redewendungen und Anspielungen in der Presse zu verstehen. Eine grosse Anzahl von unterschiedlichen Büchern und Filmen half mir Namen und Zusammenhänge zu erkennen.
Viele Anspielungen haben mit historischen Figuren zu tun: Charles Ponzi (Erfinder des Schneeball-Zahlungssystems), Bugsy Siegel (Mitglied der Luciano Gangsterfamilie und Förderer der Las Vegas Kasinos), Harry Houdini (Verwandlungskünstler), J. P. Morgan (New Yorker Bankier), Molly Brown (Millionenerbin aus Colorado, Überlebende des Titanic-Unglücks), Alger Hiss (als Sowjetspion vom McCarthy-Tribunals angeklagt und wegen Meineid verurteilt) und vielen anderen. So wie in den USA niemand weiss, was es mit dem Soldaten Schwejk oder Max und Moritz auf sich hat, sind all diese Personen in Europa wenig bekannt.
Das Buch Ragtime2 von E. L. Doctorow möchte ich hier hervorheben, da es die Biografien von J. P. Morgan, Harry Houdini, dem Industriellen Henry Ford, der Schauspielerin Evelyn Nesbit und anderen in einem historischen Zusammenhang verbindet. Die darin beschriebene Tragik des afroamerikanischen Jazzsängers Coalhouse Walker will ich hier nicht verraten.
Formulierungen, die ich in Inseraten, in der Werbung und in Schaufenstern sah, wie „Start Saving Now“, „Thanksgivings3 Savings“ und „Plan Your Fall Heating Controll and SAVE “, haben mich zuerst stutzig gemacht. Ich dachte, dass der Ausdruck „Sparen“ gewählt wird, wenn man Geld auf die Seite legt. Heute wird „to save“ benutzt, um Leute zum Kaufen, also zum Geld Ausgeben, zu verleiten, sozusagen im genau gegenteiligen Sinn der ursprünglichen Aussage.
Meist erhält man irgend einen Rabatt, wenn man einkauft. Das wird als Sparen angesehen. Der lokale Supermarkt listet auf der Quittung die Einsparungen gleich neben der Summe der Ausgaben. Die Verkaufsperson an der Kasse sagt mir immer, wie viel ich bei meinem heutigen Einkauf gespart habe.
Als ich einmal mitten in Manhattan für meinen Haarschnitt zahlte, habe ich die dreissig Dollar hingelegt, wurde aber gleich darauf aufmerksam gemacht, dass der reguläre Preis vierzig Dollar wäre, aber Haareschneiden diese Woche im Angebot sei. Anstatt dass der Friseur mir für meinen Auftrag dankbar war, musste ich mich für den Preisnachlass bedanken. Eine verkehrte Welt in meinen Augen!
Andererseits fand ich es sehr amüsant zu erfahren, dass die Steuerbehörde ihre Steuerzahler derart erzogen hat, dass nur noch vom „Tax Return“, der Steuerrückerstattung, im Zusammenhang mit Steuerzahlungen die Rede ist. Dass zuerst ein Einkommen geschaffen werden muss, die Steuern deklariert und bezahlt werden müssen und erst am Schluss eventuell eine Steuerrückerstattung stattfindet, hat keine Bedeutung mehr. „Steuerrückerstattung“ oder „Rückerstattung“ haben das Wort für Steuern und das Steuerformular abgelöst.
Ich liebe es, wenn ich ein Schild sehe wie „Die beste Vorführung der Welt“. Es ist schwierig, zu vergleichen und das Beste zu ermitteln, da eine solche Wertung auf subjektiven Beobachtungen beruht. Mit dem Grössten ist es anders. Das ist quantifizier- und vergleichbar. Wenn mir erzählt wird, dass ich im besten Restaurant der Welt esse oder dass ich die grösste Darbietung („The Biggest Show“) der Welt sehe, so weiss ich, dass es sich vermutlich um eine Übertreibung handelt, aber das hindert mich nicht daran, mich zu amüsieren.
„Guys“ ist dem Wörterbuch nach das Wort für zwei oder mehrere Jungs. Für mich ist der Ausdruck klar männlich. In einer romanischen Sprache, das weiss ich, folgt nach einem männlichen und mehreren weiblichen Subjekten das Verb in der maskulinen Form. Wenn ich hier höre, dass das Wort „Guys“ für eine Gruppe von ausschliesslich Frauen benutzt wird, schmunzle ich immer.
Leute und Gepflogenheiten
Gute Umgangsformen in der Öffentlichkeit werden in den USA strikte befolgt. Sei es an Busstationen, am Kiosk, beim Betreten eines Restaurants oder beim Warten am Skilift, überall stellen sich die Leute ordentlich in eine Reihe. Das ist sehr angenehm und ich hoffe, dass dies so bleibt.
Wird man gestossen oder in einer Menschenmenge von jemandem berührt, so hört man gleich eine Entschuldigung, selbst in der Penn Station in Manhattan. Wenn ich daran denke, wie sich die Leute vor einem Tram oder einem Bus in der Schweiz drängeln, oder sich in den öffentlichen Verkehrsmitteln ihre Sitzplätze erkämpfen, wird mir leicht übel.
Auch Autofahren ist hier sehr angenehm. Die Achtung vor den Fussgängern, einschliesslich der Schulkinder, ist bemerkenswert hoch. Einige Verkehrsregeln wie etwa das Vortrittsrecht sind ein bisschen anders, sie sind aber leicht zu verstehen und werden von allen beachtet. Eine kluge Art, einen Unfall zu verhindern, ist auch die Warnung, die die Fahrradfahrer den Fussgängern gegenüber machen, indem sie, von hinten kommend, „zu Ihrer Rechten, zu Ihrer Rechten“ rufen. In der Schweiz wird man eine schrille Glocke hören und man weiss nicht, auf welche Seite man springen muss.
Die Leichtigkeit, mit der Amerikaner untereinander in Kontakt treten, ist eindrücklich. Sie sind redselig und offen für jede Konversation. „Wo kommen Sie her?“ kann in Kürze zu einer lebhaften Diskussion über das Skifahren, soziale Institutionen oder Erinnerungen an eine Europareise führen. Wo immer man sich befindet, man kann die unterschiedlichsten Themen mit Fremden aufgreifen und Ideen austauschen. Die wenigen Minuten Wartezeit beim Schlangestehen am Skilift oder im Einkaufszentrum werden für Gespräche über kleinsten Banalität bis zum heissen politischen Thema genutzt.
Die Höflichkeit der Leute zeigt sich auch in der Hilfsbereitschaft im Alltag. Wenn ich mich in einer Stadt verloren fühle, richte ich mich an die nächststehende Person mit der Anrede „Sir“ oder „Ma’am“. Selbst vorbeihuschende Leute halten an. Die angesprochene Person versucht zu helfen. Die Höflichkeit und der Respekt, die bei solchen Begegnungen spürbar werden, sind bemerkenswert. Es ist eine wunderbare Kombination von Formalität und Geselligkeit. Ich fühle mich sehr wohl in dieser Umgebung.
Wo immer man in diesem Land hingeht, es sind überall freundliche Leute anzutreffen – in der Arztpraxis, im Supermarkt oder jedem öffentlichen Ort. Es ist ein grosses Vergnügen, ins Restaurant zu gehen; man wird herzlich begrüsst und der Service ist ausgezeichnet und höflich. Sogar im Amtrak-Speisewagen wurde ich an den Tisch begleitet. Im ganzen Land sind die Tische immer aufgeräumt und innert Sekunden steht ein Glas Wasser vor dem Gast. Das Bedienungspersonal ist freundlich und erklärt den Gästen die vielen speziellen Tagesangebote. Üblicherweise stellt sich das Personal mit dem Vornamen vor. Es gibt bemerkenswert viele verschiedene Gastronomien. Viele gute und schön angerichtete Speisen finden den Weg zum Gast.
Kochunterricht ist im ganzen Land sehr beliebt. Weine aus dem Westteil des Landes – Kalifornien, Oregon, Washington und sogar Colorado – nehmen es mit den Weinen der Welt auf. In der Tat ist die weltweite Verbesserung in der Weinherstellung ab 1970 von Kalifornien ausgegangen.
Die offenen Kommunikationsformen im Land und der natürliche Umgang mit Problemen steigert die Kreativität, die zu vielen nützlichen und verblüffenden Erfindungen führt. Die grossen Erfolge von elektronisch gelenkten Produkten wie Personal Computer, Tablets und zu Kleincomputer ausgebauten Telefone konnten nur mit einer Einstellung geschaffen werden, keine Einschränkungen bei neuen Ideen zu machen und neue Vorgaben zu entwickeln und neue Begehren zu wecken.
Eine der spannendsten Begebenheiten unserer Zeit ist das Aufkommen von elektronischen Geräten, die vor 20 Jahren noch unbekannt waren. Wie sind die Erfindungen und die Akzeptanz der neuen Kommunikationsgeräte zustande gekommen? Was würden meine Grosseltern zu Internet, e-mail, Facebook, Twitter und PayPal sagen?
Die Offenheit und Unvoreingenommenheit in Amerika fördert die Kreativität. Und Kreativität fördert die Wirtschaft mit der Bildung neuartiger Produkte und Dienstleistungen und vielen neuen Nebenleistungen. Sie schafft aber auch Dominanz in den Standards. Die Erfindung eines neuen Produktes und deren Anwendung bestimmt Grundregeln und Prozesse. Die amerikanischen Vorgaben müssen daher oft weltweit übernommen werden.
Die ganze Welt bekommt die Auswirkungen der amerikanischen Sicherheitsvorschriften zu spüren. Das betrifft Dokumente wie Pässe oder Bestätigungen oder jede Art von Produkthaftung. Auch Reisevorschriften wie die Kontrollen an Flughäfen sind bekannt wie auch Verkaufsbeschränkungen für alles, was sich möglicherweise in Waffen umwandeln liesse. Und schliesslich die Verbote im Bereich Kundenbeziehungen (keine Eröffnung von Bankkonten wegen möglicher Steuerbetrügereien oder Terrorattacken). Seit dem Angriff im September 2001 sind die Bestim...