Zur Dialektik und Phänomenologie der Natur- und Kulturidyllen
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Zur Dialektik und Phänomenologie der Natur- und Kulturidyllen

Philosophische Untersuchungen zu Arkadia statt Utopia

  1. 120 Seiten
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Zur Dialektik und Phänomenologie der Natur- und Kulturidyllen

Philosophische Untersuchungen zu Arkadia statt Utopia

Über dieses Buch

Chesterton hat daran erinnert: Nur zwei europäische Traditionen haben ganze zweitausend Jahre bis zur Neuzeit überdauert: die katholische Kirche und die Literaturgattung der bukolischen Idylle. Das wird viele Zeitgenossen überraschen, denen die Welt sich viel zu schnell oder gar nicht schnell genug ändert. Und beide "Pastoralen" weideten ihre Lämmer.Die Idylle ist seit etwa einem Jahrhundert die unpopulärste aller Kunstgattungen und Lebensideale geworden. Spätestens seit der industriellen Revolution und den zwei Weltkriegen wagt man nur noch von "giftigen" oder "verlogenen" Idyllen zu sprechen, als wären sie für aufgeklärte Zeitgenossen zu märchenhaft unrealistisch. Aber gerade das unaufgeklärte Zeitalter der Aufklärung hatte das Idyll rehabilitiert und reaktiviert als ästhetisches und sozialutopisches Widerstandspotenzial gegen die Häßlichkeiten neuzeitlicher Hochzivilisationen. Die Aufklärung maß die soziale Realität am idyllischen Ideal – und ließ sie satirisch durchfallen: Zarte Idyllen sind harte Gesellschaftssatiren.Die Hirtenidylle vom Griechen Theokrit und Römer Vergil bis zum Schweizer Geßner und Deutschen Jean Paul ist keine schönfärberische und betrügerische Ideologie, sondern selber kritische Aufklärung, solange die Gesellschaft kein arkadisches Paradies von müßigen Nomaden (der Beine und des Geistes) ist, sondern ein Sklavenhaus sesshafter Besitzbürger, das "stählerne Gehäuse" (Soziologe Max Weber) ausdifferenzierter Institutionen der "verwalteten Welt".Denkströmungen zur JahrtausendwendeSpekulatives Denken oder kommunikatives Handeln?Hegel als Idylliker?Kulturrelativismus kontra NaturabsolutismusDie Seele des historischen Materialismus: War der Geschlechterkrieg die Wahrheit des Klassenkampfes?Äußere und menschliche Natur zwischen Dialektik und PhänomenologieZarte Idyllen, harte Satiren Grundzüge einer Ästhetik der Passionen ohne Interaktionen

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Zarte Idyllen, harte Satiren

Grundzüge einer Ästhetik der Passionen ohne Interaktionen

Denken lebt von lebendiger Konkurrenz ausgewählter Antagonisten, z. B. von versöhnlich weicher Einbettung und kritisch harter Abgrenzung, die literarisch ihre atmosphärisch bevorzugten Medien in der Bukolik und der (gnomisch zuspitzbaren) Satire haben. Legt man die "empirisch ernüchterte" Neue Phänomenologie von Hermann Schmitz terminologisch zu Grunde, könnte authentisches Leben auch verstanden werden als ein Versuch, sich affektiven Ergriffenheiten auszusetzen, ohne objektive Begrifflichkeit opfern zu müssen, und umgekehrt "emanzipierte" Gedanken zu fassen, ohne sich der Bewährungsprobe der "regressiven" Gefühle verweigern zu müssen. Das philosophisches Denken würde den alten Seelenfrieden inmitten von Affektstürmen zu bewahren helfen, wie eine metaphysische Sprache die idyllische Ruhe, also Stille und Stillstand, inmitten aphoristisch pointierter Überraschungen und Verwirrungen gestaltet. "Protopathisch verschwimmende" Idyllik sucht nicht anders als eine eher "epikritisch zuspitzende" Aphoristik das "leibhaftige Weite", um nicht ausweglos in die "leibliche Enge" von Angst und Schrecken, Schock und Rührung getrieben zu werden. Philosophie verliere vor lauter Betroffenheit nicht die Besinnung, aber vor lauter Begrifflichkeit auch nicht ihre Ergriffenheiten. Ihre "entfaltete" Geistesgegenwart sucht ständig sich zu behaupten gegen die "chaotischen Verhältnisse", die in der "primitiven Gegenwart" jeder affektiven Überwältigung herrschen. Durch idyllisch strömende Gefühle erzeugt sie "privative Weitung", die von der leiblichen Einengung losgekoppelt ist, durch aphoristisch pointierte Gedanken schafft sie aber eine "ästhetische Distanzierung" oder "personale Emanzipation" von dieser "personalen Regression".
Der satirische "Epikritiker" arbeitet mit "spielerischer Identifizierung" von unvereinbaren Vorstellungen, die im "Kapieren des Witzes" dann aber wieder eindeutig getrennt werden. Sein eher idyllischer Konkurrent in Gedanken arbeitet stattdessen mit "Ausleibung", die laut Schmitz besonders empfänglich mache für phänomenologisch impressionistische "Wesensschau" absoluter, d.h. von den Dingen losgelöster Sinnesqualitäten. Diese "Ausleibung", die sich ausgieße in objektfrei "prädimensionale Tiefe", bilde ein "protopathisch dumpfes" Dauerkontinuum "entspannten Dahinlebens", das nicht nur von Schrecken und Weinen unterbrochen werden könne, sondern auch von epikritischen Nadelstichen aphoristischer Überraschungen etwa. Gegen Affektbedrohungen fährt die Gnomik eher personale Emanzipationsniveaus als leibliche Schwellungszustände auf, während die Idyllik eher "privativ" und "protopathisch" das Weite sucht, als objektivierend von den Affektverwirrungen intellektual zu abstrahieren. Ein idyllischer Impressionismus und ein aphoristischer Pointillismus in "Simultankonkurrenz", bald mit Dominanz übereinander, bald im rhythmischen Wechsel miteinander, bilden den philosophischen Gehalt in seiner literarischen Gestalt. Von eigenleiblichen Spannungen entlasten sowohl die idyllisch schwebende Schönheit "zart schimmernder Fernen" als auch die "ästhetische Überlegenheit" epikritischer Sentenzenklugheit und Weltgewandtheit.
Gedanken erheben sich im Wechselspiel von pointierter Witzweisheit und idyllisch entrückender Heiterkeit. Beides, die aphoristische Pointe und das idyllische Kontinuum, verhält sich psychologisch vielleicht nicht schlicht wie das Männliche zum rein Weiblichen, aber doch wie die patriarchalisch triangulierte zu der „primärnarzißtisch“ dual-unionistischen Mutter-Kind-Symbiose der frühen, philosophisch rekonstruierbaren Kindheit.
"Totale Kommunikation wäre ein Ersticken an der Gemeinsamkeit des kulturellen Horizonts." (Martin Seel: „Eine Ästhetik der Natur“, Frankfurt am Main 1991, S. 325) "Der primäre Charakter von Kontemplation und Imagination, gerade soweit es sich um selbstzweckhafte Vollzüge handelt, ist der eines nichtkommunikativen Tätigseins..." (351) Interesse am interesselosen "Heraustreten" in die Natur sei ein "unmerklicher Übergang von einem ästhetischen zu einem moralischen Interesse" (365). "Zur Anerkennung des ästhetischen Werts "freier" Natur brauche es auch nicht das Programm einer "Befreiung" der Natur ("als Mittel der Befreiung des Menschen"), das Marcuse dem Emanzipationsideal der Ausklärung zur Seite gestellt habe. Die "Anerkennung" der Natur "als Subjekt" ist die falsche Anerkennung der Natur." (S. 366) Natur ist eben nicht nur eine Hexe oder gute Mutter.
M. Seel wirft Adorno nicht weniger als Schopenhauer die metaphysische Überhöhung des rein Ästhetischen vor, als würden beide das sinnfremd kontingente und vergänglich vereinzelte Naturschöne nicht einfach lediglich kontemplieren wollen. Schopenhauer hebe es auf in zeitlos idyllische Ideen, Adorno in anti-idyllische Kunstwerke. In der Tat ist Kunstgenuß für Adorno die imaginierte Antizipation besserer Welten, für Schopenhauer hingegen schon die (zweit)beste der denkmöglichen Welten selbst (gleich nach Nirwana-Askese), für diesen also eo ipso eine geschichtslose Idylle, für jenen aber eine ferne Zukunftsutopie. Alle drei jedoch, ob sie nun Ideen, Sprachen oder Sinnentlastung darin suchen, haben doch gemeinsam, das Naturschöne - anders als Hegel - leider nicht länger als sinnfälligen Widerschein überlegener göttlicher Schöpfungsintelligenz zu apperzipieren.
Gegen Hegel wäre das "Buch der Natur" aber über die anderen Bücher zu stellen, gegen Adorno die Naturkontingenz keineswegs artistisch aufzuheben, gegen Seel Naturschönheit als ein sinnlicher Sinn aufzufassen, gegen Schopenhauer aber ästhetische von theoretischer Kontemplation zu trennen. "Die dem interesselosen Wohlgefallen zu Grunde liegende Bewußtseinshaltung ist die Kontemplation. Sie ist charakterisiert durch die Distanz zum Wollen und Handeln." ("Schönheit" in: Metzler Philosophie Lexikon, Stuttgart 1996)
"Protopathisch ist die Tendenz zum Dumpfen, Diffusen, Ausstrahlenden, wenn die Umrisse verschwimmen, epikritisch die schärfende, spitze, Punkte und Umrisse setzende Tendenz." (Hermann Schmitz: "Der unerschöpfliche Gegenstand", Bonn 1995, Kap. 3.1.4) Nicht materialistische, doch leibhaftige Philosophie wäre denkbar als Widerspiel von "epikritischen" Zuspitzungen eines Aphoristikers und "privativer Weitung" eines ("von Spannungen entlasteten") Idyllikers in "sanfter, schmelzender, zärtlicher Wollust", "wenn ihm in friedlich schöner, freier Natur das Herz aufgeht" oder "ein Stein vom Herzen fällt". Die Philosophie könnte sich hier entfalten als ein Rhythmus zwischen protopathischer "Ausleibung" in phänomenologischer "Wesensschau" und epikritischer "Emanzipation von leiblicher Enge". Auch die Realontologin H. Conrad-Martius erwähnt "sinnliche Ichhaltung" "durch vollständige Gelöstheit, Inaktivität und Entspanntheit", die in einer rezeptiven "Wesensschau" die absoluten Sinnesqualitäten als Dinge an sich erfaßt.
In den Termini von H. Schmitz lebt Aphoristik von "instabiler Mannigfaltigkeit" abzählbarer "Witzgehalte", Idyllik aber von der unabzählbar "chaotischen Mannigfaltigkeit" in "Unentschiedenheit" zwischen Identität und Differenz. Das Feld numerisch eindeutiger Mannigfaltigkeiten bleibt allen Wissenschaftlern überlassen. Hegels oberster "Grundsatz der Identität von Identität und Nichtidentität" nimmt dann die selber idyllische Gestalt einer Philosophie idyllischer Kongruenz und satirischer Inkongruenz von Begriff und Realität an. In Schillers Aufsatz "Über naive und sentimentalische Dichtung" (1795) bilden Satiren und Idyllen weniger literarische Gattungsbezeichnungen als typologisch sinnreiche "Empfindungsweisen". Idylle "besteht also darin, daß aller Gegensatz der Wirklichkeit mit dem Ideale, der den Stoff zu der satirischen und elegischen Darstellung hergegeben hatte, vollkommen aufgehoben sei und mit ihm auch aller Streit der Empfindungen aufhöre." (Stuttgart 1989, S. 73 f.) Dichter "werden entweder Natur sein, oder sie werden die verlorene suchen." (25) Utopien figurieren dann als künftige und Elegien als verlorene Idyllen. Schiller verbindet Schopenhauers Ideenästhetik mit Seels Kontingenzästhetik: "So wie nach und nach die Natur anfing, aus dem menschlichen Leben als Erfahrung und als das (handelnde und empfindende) Subjekt zu verschwinden, so sehen wir sie in der Dichterwelt als Idee und als Gegenstand aufgehen." (25) Dieses ästhetische Verhältnis zwischen dem Einzelobjekt und seiner platonischen Idee ist ein satirischer Konflikt oder idyllischer Konsens. "Satirisch ist der Dichter, wenn er die Entfernung von der Natur und den Widerspruch der Wirklichkeit mit dem Ideale ... zu seinem Gegenstande macht." (37) Der Idylliker handele würdiger, als seine Theorie zugibt, während der Aphoristiker erhabener denke, als er handelt.
"Entweder ist es der Widerspruch des wirklichen Zustandes, oder es ist die Übereinstimmung desselben mit dem Ideal, welches vorzugsweise das Gemüt beschäftigt, oder dieses ist zwischen beiden geteilt." (66) Satirische Aphoristik sei "energische Bewegung", "Kraft des inneren Streits", (utopische oder realistische) Idyllik sei eine "energische Ruhe", "Harmonie des inneren Lebens", und die Elegien wechseln wehmütig zwischen Stille und Streit.
Dies behauptet es zu sein, doch das ist es wirklich! Für nur einen Moment sieht es so aus, als ob etwas seinem eigenen Begriff gemäß sei und genüge, bis man kapiert, daß das gar nicht der Fall ist, gleichgültig ob es sich nun um Irrtum oder um Vortäuschung handelt. Mindestens zwei eigentlich unvereinbare Vorstellungen, wie H. Schmitz schreibt, schieben sich bis zur Verwechslung verwirrend ineinander, bis ihre Unverträglichkeit schon im so gut wie selben Augenblick sich offenbart. Das Gefühl verschmilzt, was der Verstand unterscheidet, und der Intellekt trennt, was der Affekt vermischt. Dieses instabile Flackern von "Witzgehalten" zwischen eindeutigen und mehrdeutigen Bestimmungen läßt sich gerade als ein Oszillieren z. B. aphoristisch fixieren. Es scheint, als beuge sich der Affekt den Konventionen, die er tatsächlich im selben Moment bricht. Diese anarchische Triebregung überlistet laut Freud die soziale Zensurinstanz, die sie doch gleichzeitig zu erfüllen scheint, und der "Hemmungsaufwand" entpuppe sich als ablachbar überflüssig.
Der individuelle Trieb widerspreche der Überich-Zensur, der verinnerlichten Stimme sozialer Allgemeinheit, ja gerade dort, wo er ihr demonstrativ entspreche. Die Begierde blamiert das Gewissen wie die Sinnesempfindung das Verstandesurteil. Das Menschenkind tut auch vor sich selbst so, als folge es dem Inzestverbot, und folgt doch seinem Inzestwunsch — hinter seinem eigenen Rücken. Dieser ödipale Konflikt mit dem Vater, der die Mutter-Kind-Idylle erst einmal nachhaltig stört, ist sozusagen der psychoanalytische Witz bei der Sache (und ihrer Ursache).
Nun gibt es eine prä-ödipale und eine post-ödipale Mutter-Kind-Idylle, je nachdem, ob das Menschenkind noch ohne eine kastrationsdrohende Vaterfigur mit Mutter Natur allein und all-eins ist oder ob der dem Vater gehorchende Sohn den ödipalen Triebwunsch tatsächlich aufgibt und nicht nur verdrängt. Entweder also darf das Kleinstkind die Mutter wirklich noch ganz für sich haben oder das etwas älter gewordene Kind beteuert später, sie nicht mehr gegen den Vater für sich allein zu wollen — ohne daß seine bewußten Worte von seinen unbewußten Wünschen Lügen gestraft werden, was das Familienidyll wieder stören würde.
Der idyllisch anmutende Schluß-Konsens will alle satirisch darstellbaren Konflikte immer in sich aufheben und hat sie deshalb nicht noch vor sich, sondern schon hinter sich — wie ihrerseits jede Satire das paradiesische Ursprungsidyll immer schon unwiederbringlich hinter sich gelassen hat. Bloße Idyllen gibt es nur als "giftige Idyllen", die nur noch nicht wissen, daß sie im Grunde schon Satiren auf sich selber sind. Aber die satirisch bloßstellbaren Zustände treiben über sich hinaus wie die giftidyllischen selber. Satiriker, welche Widersprüche zwischen Anspruch und Realität bloßstellen, sind ebenso oft nur verkappte Idylliker, wie die Idylliker die künftigen und fälligen Satiriker nur oft noch in sich abgewehrt halten.
Elegische Trauer über verlorene Idyllen wie utopische Sehnsucht nach künftigen Idyllen bleibe hierbei einmal außer Betracht, da die zeitlichen Modalisierungen des künftigen, gegenwärtigen und vergangenen Idylls dem Bukolischen als solchem nichts hinzufügen, weil sie "Kategorumena" und "Existenz-Inductiva" und keine Attribute sind. (Herm. Schmitz : "Der unerschöpfliche Gegenstand", Bonn 1995, Kapitel 2.2.2.2)
Die "Schäfer-Idylle" wollte ursprünglich keine höfische Stilisierung des einfachen Landmanns sein, sondern eine literarische Idealisierung des bürgerschrecklichen Hirtennomaden. Satiren reflektieren die seit dem Sündenfall galoppierende Depravationsgeschichte der Hochkulturen, während Idyllen das verlorene Paradies nicht in dem von Gott verfluchten Acker(n) suchen, sondern im Garten Eden, der ursprünglichen "Kulturlandschaft Gottes" noch vor jeder menschlichen Naturbearbeitung.
Die Geburt der Dialektik aus dem Geiste der romantischen Ironie, um den hegemonialen Singularismus diskreter Körper zu vermeiden? "Der absolute Unterschied seiner von sich selbst, das Gegenteil seiner selbst zu sein, - diese Grundform der zweipoligen Dialektik, selbst schon eine Formalisierung der romantischen Ironie von Selbstschöpfung und Selbstvernichtung - wird für Hegel also gleichsam zum Gegenzauber gegen den Zauber der romantischen Ironie, der sich als das Absolute behauptenden Subjektivität, indem die übergreifende Subjektivität als negative Einheit der Idee, die Subjektivität und Objektivität versöhnend in sich aufgehen läßt, gegen die einseitige Subjektivität ausgespielt wird."
(Hermann Schmitz: "Selbstdarstellung als Philosophie. Metamorphosen der entfremdeten Subjektivität", Bonn 1995, Kapitel 2.4, S. 58 f.)
Wenn Hegels Dialektik die "rezessive und produktive Ironie" Schlegels, eine Radikalisierung von Fichtes "transzendentalem Zirkel" von Ich und Nicht-Ich, nur rationalisieren, also nur überbietend einfangen wollte, dann dürfen die totalen Abstraktionen und Selbstinvestitionen keine puren Willkürakte mehr sein wie bei den Romantikern, sondern müssen Gründe in der jeweiligen Sache haben, in die sich das Subjekt hineinentfremdet, um sich jederzeit wieder daraus lösen zu können.
Produktive Selbstbeschränkung und rezessive Selbstentgrenzung, Individualisierungen und Verallgemeinerungen, Selbstspezifikation und Abstraktionsvermögen, Abhängigkeit und Selbstbefreiung, Selbstsetzung und Selbstaufhebung, produktive Identifizierung und Distanzierung, Immanenz und Transzendierung, müssen dann laut Hegel ihr fundamentum in re bekommen in den inneren Unvereinbarkeiten und Widersprüchlichkeiten aller Standpunkte, die sie über sich selbst hinaustreiben.
Die laut Hermann Schmitz "dreipolige Dialektik" im "Solidarbegriff der Vernunft" zwischen selbstbewußten Menschen würde eher der versöhnlichen Idylle nahe stehen, da der dritte Pol nach Hegel das Ganze der beiden Gegenteile repräsentiert und doch noch in jedem von ihnen ganz enthalten sein soll, während die "zweipolige" Dialektik jeder Bestimmung, ihr Gegenteil (und das Ganze beider) an sich selbst zu haben, der literarisch-philosophischen Gattung des aphoristischen Fragments näher stünde, die gegen jede Hegemonie dogmatischer Bestimmtheiten aufsteht.
Wenn Schmitz Recht hat mit seiner Hypothese und "Hegels Logik" (Bonn 1992) etwa seit der "Phänomenologie des Geistes" die dreipolige Solidar-Dialektik der "übergreifenden Subjektivität" als überlegen ausgezeichnet habe, aber im weiteren doch inkonsequent stets wieder auf die zweipolige Wesensdialektik der „romantischen Ironie“ zurückgefallen sei, dann hat Hegel, gleichsam wider Willen und besseren Wissens, gegen seine eigene idyllische Systematik am Ende nur die Fragmentalität der frühromantischen Aphoristik spekulativ abgesegnet.
H. Schmitz sieht im romantisierenden Novalis einen Bruder Hegels, um "das Ewige und Unendliche, allem Fortschritt zuvorkommend, in den gegenwärtigen Augenblick einzuholen", eine "Raffung der romantischen Ironie" in die unerschöpfliche "Rose im Kreuz der Gegenwart" zwischen Dichter und Denker.
Ist es so, wie es zu sein beansprucht? Soweit Wahrheit eine Entsprechung von Sache und Sprache meint, bedeutet sie eine nicht unbedeutende Form des Idylls, und das Nichtidyllische wäre dann nur das Falsche. Hegels Idee, als endgültige Einheit von Begriff und Realität, von Natur und Geist, ist eben die wahre Kultur-Idylle in Kunst, Religion und absoluter Wissensphilosophie, welche alle nicht-idyllischen Un(ter)wahrheiten gut in sich aufgehoben hat. Jede Theorie in ihrem Geltungsanspruch will somit, ob ausdrücklich oder uneingestanden, auch eine Kultur-Idylle sein in Kongruenz mit Natur und Realität, als ewiger Einstand von Verstand und Gegenstand. Also nicht erst die Identitätsphilosophien, sondern auch bereits die bloßen Theorien als solche beanspruchen idyllische Kongruenz mit der Wirklichkeit und sind in ihrer "Weltfremdheit" oft doch eher Objekte möglicher Satiren. Man spricht oft und gern von "trügerischen Idyllen", doch Satiren können ebenso über Idyllen hinwegtäuschen, weil sie die Wirklichkeit allzu oft an geschichtlich überholten oder widerlegten Normen messen, wie Adorno in "Juvenals Irrtum" („Minima moralia“) zeigte.
Hegels Staatssystem fällt immer in die Fragmente der frühromantischen Ironie, in die "Freiheit der Leere" zurück und auseinander, ebenso wie die „dreipolige“ in die „zweipolige“ Dialektik. Das Unendliche begrenzt sich fragmentarisch, und das Fragment entgrenzt sich romantisch. ...

Inhaltsverzeichnis

  1. Motto
  2. Widmung
  3. Inhaltsverzeichnis
  4. Denkströmungen zur Jahrtausendwende
  5. Spekulatives Denken oder kommunikatives Handeln?
  6. Hegel als Idylliker?
  7. Kulturrelativismus kontra Naturabsolutismus
  8. Die Seele des historischen Materialismus: War der Geschlechterkrieg die Wahrheit des Klassenkampfes?
  9. Äußere und menschliche Natur zwischen Dialektik und Phänomenologie
  10. Zarte Idyllen, harte Satiren: Grundzüge einer Ästhetik der Passionen ohne Interaktionen
  11. Weiterführendes vom Autor
  12. Impressum