Das Doku-Traktat
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Eberhard Gebauer, Manager in Excellence,
schreibt an den Schwellenfinder Karl Niemann
Lieber Karl.
Wir wissen doch: Keiner wird als Stadtkind oder Landkind geboren. Erst in dem Aufwachsen trennt sich die Landspreu vom Stadtweizen. Alles fließt. Stadt, Land, (im) Fluss – und schon mal durcheinander. Wenn wir unsere kleine Innenstadt in Benrath aufsuchen wollen, heißt es: „Wir gehen ins Dorf“. Oder: Die Zeitschrift Landlust wird vorwiegend von Städtern gelesen (von einer Zeitschrift Landfrust habe ich noch nie gehört).
Im Land lässt es sich gut leben, wenn das Städtische nah ist. Das Städtische kann auch der Landbewohner im Kopf haben. Schließlich trennen die Medien und das TV nicht ihre Inhalte oder Sendungen nach Stadt und Land.
Wer auf dem Land lebt, muss mehr fürs Leben tun. Dem Städter liegt das Städtische zu Füßen, er muss sich nur aufraffen, bücken und es aufheben. Der Ländler muss sein Leben selbst gestalten. Der Community-Geist weht dort viel stärker als der Wettbewerb der Stadt „wer kann am Besten unterhalten?“. IKEA fragt beide, Ländler und Städter: Wohnst du noch oder lebst du schon? Wenn im kleinen Ort abseits der Großstadt die Freiwillige Feuerwehr unterwegs ist, fährt der ganze Ort in Gedanken mit.
Künstler, Schriftsteller und Schauspieler wohnen auf dem Land als auch in der Stadt. Jeder Ort hat seine Lebensqualität.
Alles hat seinen Wert, ob Stadtleben oder Landleben.
Es wird deutlich, dass der Weg zur Weichenstellung zwischen Stadt und Land nicht nur ein akutes sondern auch ein gesellschaftspolitisches Beispiel für Wohnen und Leben aufzeigt.
Hierfür hast du mit dem „Schwellen-Quellen-Thema“ eine Check-Liste entwickelt. Sie nimmt die Menschen in ihren Entscheidungen an die Hand und führt sie Schritt für Schritt nachvollziehbar und transparent zu einer begründeten Erfüllung ihrer Wünsche. Auch andere Entscheidungslagen lassen sich mit dem Schwellen-Raster anpacken und mit der Kombination von Herz und Verstand lösen. Beispiele wären berufliche Veränderungen oder partnerschaftliche Schieflagen.
Im Ergebnis gehst du von deinen eigenen Erfahrungen aus und stellst dich damit auf Augen-, Herz- oder Bauchhöhe. Du bietest im Kern ein Dreierpaket von Schwellen-Lösungen an. Man erkennt darin Strukturen für ein oft sichtbares oder auch unsichtbar ausuferndes Netz von Entscheidungs-(verhinderungs)situationen.
Das Buch fällt auf durch seinen eigenwilligen und stringent durchgezogenen Aufbau. Es findet damit in der Tat eine interessante Lücke im unzählbar großen Teich der Lebensratgeber. Es liefert eben keine alt- oder neunmalklugen Ratschläge, sein Leben zu ändern, sich Zettelappelle an Kühlschränke oder Autocockpits zu kleben. Es vermittelt vielmehr Gedanken- und Entscheidungsraster. Es nimmt den Leser mit auf die Entscheidungsreise von Schwelle zu Schwelle und das ganz ohne Schwellenangst, die manche Bücher oder Berater gern aber meist wirkungslos vermitteln. Denn Ratschläge von oben aus der Sicht der Besserwisser finden beim Menschen keinen richtigen Zugang sondern nur oberflächliche schnell verfliegende Begeisterung.
Für den einen oder anderen Leser mag der Titelbegriff der Schwelle selbst zu einer Schwelle der Zugänglichkeit werden. Und in der Tat gehört der Begriff der Schwelle nicht zu den Rennern der angewandten Sprache. Nicht ohne Grund wird dieser Begriff historisch, philosophisch und literarisch beleuchtet. Je weiter man sich vertiefend fortliest, desto mehr tritt die Auffälligkeit des Begriffs in den Hintergrund und wird zu einem vertrauten Begleiter.
Bei Schwelle denken viele an die Schwellen der Eisenbahn, die Tragfähigkeit, Festigkeit und Stabilität vermittelt. Schwellen sind bei dieser Betrachtungsweise Grundlagen der Mobilität und zugleich auch eine Möglichkeit, die natürlichen Schwellen der Fortbewegung auf dem Boden durch eine klare Schiene auf den Schwellen zu überwinden. Man kennt den Begriff aus Worten wie mit stolzgeschwellter Brust, was auch noch gut in den Kontext passt, vor allem nach erfolgter und erfolgreicher Lektüre dieses Libellus.
Die Schwelle und die Quelle passen nicht nur wegen der phonetischen Verwandtschaft zusammen. Denn eine Quelle kann zwar versiegen, wenn der Nachschub ausbleibt. Aber in aller Regel wird eine Quelle immer stärker und kräftiger bis sie im übertragenen Sinne zu einem breiten fließenden Strom von Ideen und Entscheidungen anwächst und die sich entgegensetzenden Schwellen zur Lösung einsetzt.
Die meisten Entscheidungen sind trotz aller Digitalisierung keine ja-nein Lösungen. Eine Vielzahl von Einstellungen und Erfahrungen, von Wissen und Vermuten, von Hoffen und Träumen legt sich wie eine Mischung grauer und weißer Wolken über den Raum. Unter diesem Teppich gewebter und erlebter Geschichte ist es schwierig, rationale Entscheidungen auch in emotionalen Momenten zu treffen, weil jedes Argument schnell mit einem Gegenargument neutralisiert wird.
Dass du im Mittelpunkt der „Schwellen-Lehre“ die Waage zwischen Land und Stadt gewählt hast, ist kein Zufall.
Denn die Vorstellungen, Urteile und Vorurteile, was ist Stadt und was ist Land, sind auch durch subjektive Blickwinkel geprägt. Die Kinder werden schon früh an die Idyllen des Landes einerseits und die Wuseligkeit und Lautstärke an die mit Licht und Vielfalt gefüllten städtischen Räume herangeführt. Bei dem Vater der Wimmelbücher, Ali Mitgutsch, ist das Leben auf dem Land von Landwirtschaft, heimeligen Bauernhöfen, von Kirchen, Marktplätzen und Dorfteichen geprägt. Es wird im Verein gefeiert. Es gibt keine Probleme, die Tierärztin versorgt Pferde und Schweine vorbildlich. Trabantenviertel und Shopping-Parks im Speckgürtel der Städte würden ein solches Glanzbild stören.
In der Realität sind es aber häufig Bindemittel zwischen Land und Stadt – du sprichst von Zwischenstädten, ebenso die interviewten Experten für Raumplanung, in denen sich die Menschen aus beiden Richtungen treffen, vornehmlich zum Zwecke des Konsumierens. Auch Käfighaltung und Insektenvernichtungsmittel oder Gülle-probleme kommen in der heilen Welt des Landes nicht vor. Werden die Kinder älter, lernen sie das Land von Liedern, in denen der Bauer die Rosse anspannt, kein schöner Land in dieser Zeit zu finden ist, die Menschen hoch auf dem gelben Wagen die goldenen Ähren schauen und gern auf dem Land bleiben wollen, aber der Wagen weiterrollt, vielleicht sogar in die Stadt. In seinem Wimmelbuch preist Ali Mitgutsch die Vorteile der Stadt mit Flughafen, Tierpark, Einkaufszentrum, Markt, Freizeitpark, Kino, Café, Schwimmbad und abendlicher City-Szene mit Autoverkehr, U-Bahn und stimmungsvoller Lichtwerbung.
Auch Udo Jürgens könnte mit der Schwellenmethode seine Auswahl der noch für ihn unbesuchten Städte von New York, Hawai und San Francisco ohne viel Musik klären. Die Instrumente des Schwellenansatzes (von dir mit S1 , S2, S3 bezeichnet) bringen Klarheit in die sich teils überlagernden teils widersprechenden Argumentationsketten.
Und noch etwas macht eine notwendige und anstehende Entscheidung schwierig.
Denn Land und Stadt haben für die Urteilsbildung unterschiedliche Startbedingungen. Umfragen nach der besten Lebensqualität beziehen nur Großstädte mit ein aber keine Landregionen oder kleinere Städte. Da muss man schon selbst raus aufs Land, um sich ein eigenes Urteil bilden zu können.
Was ist Stadt, was ist Land? Was will ich wirklich? Welche Vorkenntnisse habe ich jeweils? Diesen Fragen gehst du Schwelle um Schwelle nach. Gleich einem Kinderspiel, dem vom Gänseblümchenzupfen, gelingt die Umwandlung „Ich lieb sie, ich lieb sie nicht, ich lieb sie…“.
Zum sogenannten guten Schluss zeigst du ein eindeutiges Entscheidungsergebnis auf und führst damit ein „gutes Ende“ herbei.
Diesen guten Weg wünscht dir für den vorliegenden Libellus
Eberhard
Eberhard Gebauer - Manager in Excellence
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Von der Schwelle zum Schwellenfinder
„Aller Anfang ist heiter, die Schwelle ist der Platz der Erwartung.“ Goethes Ausspruch in 'Wilhelm Meisters Lehrjahre' (1795) ist schon weit gefasst, weitergedacht.
Landläufig ist uns dieses Verständnis gemein: Auf Schwellen stösst man.
Es sind Hindernisse, zunächst einmal.
Von Einschnitten kann man sprechen, aber solche von denen es auf einer erhöhten Stufe weitergehen kann.
Das erklärt auch, dass ihnen eine besondere Tragfähigkeit zugesprochen wird. Da sind wir sogleich bei Johann Wolfgang von Goethe, ideell.
Materiell kennen wir es auch. Da reicht schon ein Blick in Wikipedia. Obenan steht die uns seit Kindheitstagen bekannte Bahnschwelle. Über die von Schwellen getragenen Gleise zu laufen war verboten und damit ein herrliches Tun. Und dann der Schwung den wir von Schwelle zu Schwelle mitnahmen – wir flogen gleichsam dahin!
Hier das Listing:
- Bahnschwelle, als Teil des Eisenbahnoberbaus
- Bremsschwelle, bauliche Erhebung auf der Fahrbahn
- Landeschwelle, Beginn der Landebahn auf einem Flugplatz
- Fachwerksschwelle, bestimmte Balken einer Fachwerkkonstruktion
- Türschwelle, Basis zwischen den senkrechten Teilen des Türrahmens
- Sohlschwelle, quer zur Strömungsrichtung eines Flusses verlaufendes Regelbauwerk
- Schwelle (Geomorphologie), Erhebungen der Erdoberfläche
- Reizschwelle, Grenzwert, ab dem ein äußerer Reiz wahrgenommen wird
Während die Schwellenbeispiele fast alle aus dem Bau- und Bodenbereich kommen, dem Arbeitsgebiet der Ingenieure und Architekten, so kennzeichnet die zuletzt genannte Reizschwelle eher das Arbeitsgebiet der Psychologen. Ich will's bei den Aufzählungen von Wikipedia belassen. Wenn mir nach und nach auch weitere Begriffe zu 'Schwelle' einfallen, so reichen diese für die Fortführung des Gedankens aus.
Ich möchte in diesem Doku-Traktat dem Schwellensucher oder noch richtiger, dem Schwellenfinder, das Wort geben.
Beide Herkunftsbereiche habe ich adaptiert und bewege mich da sehr frei. Schliesslich bin ich weder Architekt noch Psychologe.
Von Parteilichkeit also keine Spur!
Neben Johann Wolfgang von Goethe muss ich einen weiteren Vor-Denker mit Namen nennen, den Österreicher Peter Handke. Er lässt den Protagonisten in seinem Roman (von 1983) 'Der Chinese des Schmerzes' sagen:
„Ich bezeichne mich selber manchmal im Spiel als >Schwellenkundler< (oder auch >Schwellensucher<).“ Und an anderer Stelle: „Schwellen ausfindig zu machen und zu beschreiben, ist meine Leidenschaft geworden.“ Ein Bezug auf Goethe findet sich bei Handke nicht. Weit weg sind sie nicht voneinander.
Handke stellt die gefundene Bezeichnung und damit die Person des Protagonisten sehr konkret in eine Stadt-Land-Beziehung von Salzburg und seinem teils dörflichen tei...