VERGLEICH 1: TEXT
Das Bild, das im geschlossenen Zustand auf der Werktagsseite des Isenheimer Altars zu sehen ist, zeigt – so die als selbstverständlich angenommene These – die Kreuzigung Jesu Christi.
Am Beginn der zweiten Stufe der Analyse des Vierstufenmodells der Beschreibung und Deutung von Werken der bildenden Kunst steht der Versuch der Identifizierung der dargestellten Szene, um auf diese Weise an eine entsprechende Textvorlage zu gelangen. Dabei ist es selbst bei der obigen These – einer scheinbar unzweifelhaften Annahme – sinnvoll, aufmerksam zu sein. Je selbstverständlicher etwas erscheint, desto achtloser sind wir gewöhnlich bei seiner Untersuchung. Wissenschaftliche Genauigkeit aber sollte auch und gerade vor dem scheinbar Selbstverständlichen nicht haltmachen. Schon häufig hat sich das scheinbar Selbstverständliche bei genauerem Hinsehen als Irrtum erwiesen. – Tatsächlich wird sich am Ende dieses Kapitels zeigen, dass unsere These gleich in mehrfacher Hinsicht unrichtig ist.
Textquellen zur Kreuzigung Christi
Die Geschichte der Kreuzigung Jesu Christi, neben der Auferstehung die zentrale Schlüsselszene des Neuen Testaments und damit der Bibel überhaupt, wird nicht nur in allen vier Evangelien erzählt,24 um sie ranken sich auch zahllose Legenden und Deutungen, die vor allem in der Legenda aurea des Jacobus de Voragine (1228–1298) aufgezeichnet sind. Diese Legendensammlung aus dem 13. Jahrhundert repräsentiert gewissermaßen das christliche Allgemeinwissen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, als die in der Legenda gesammelten Geschichten noch überwiegend mündlich kursierten. Da in der Legenda aurea neben den eigentlichen Geschichten auch zugehörige Deutungen aufgezeichnet sind,25 haben wir durch sie Anhaltspunkte für die Art und Weise, wie die Geschichten in dieser Zeit auch in den Kreisen der ‚einfachen‘ Gläubigen verstanden wurden.
Diesen Quellen zufolge26 lässt sich der Hergang der Kreuzigung Christi wie folgt rekonstruieren:
Kreuzigung
Nachdem Jesus auf Beschluss des Hohen Rats, der obersten religiösen und politischen Instanz des Jüdischen Volks, durch den römischen Statthalter in Jerusalem, Pontius Pilatus, verspottet und mit der Dornenkrone bekrönt, gegeißelt, dem Volk vorgeführt („ecce homo“) und schließlich zum Tod am Kreuz verurteilt worden ist, muss er sein Kreuz vom Palast des Statthalters zur ‚Schädelhöhe‘, auf Hebräisch ‚Golgota‘, auf einem Hügel vor den Toren Jerusalems tragen.
Von der Legenda aurea wird ‚Golgota‘ „Calvaria“ genannt und ausdrücklich als ein Ort der Schande gedeutet, „da man die Übeltäter [dort] peinigte“ und weil Christus dort „den schmählichen Tod der Schächer mußte leiden.“ Auch das Kreuz selbst wird in diesem Sinn als „die Strafe der Mörder und Räuber“ und als „höchste Schmach“ bezeichnet.27 Allerdings wird wenig später den vier Teilen des Kreuzes eine ganz andere Deutung zuteil. Demnach wird es „gezieret“ durch die vier Tugenden Geduld, Demut, Gehorsam und Liebe: der obere Kreuzstamm verkörpere die göttliche Liebe, der rechte Teil des Kreuzbalkens den Gehorsam, der linke die Geduld und der untere Teil des Kreuzstamms die Demut als die „Wurzel aller Tugend.“28
An der ‚Schädelstätte‘ wird Jesus von römischen Soldaten empfangen. Sie entkleiden ihn, schlagen ihn ans Kreuz und richten dieses zwischen den Kreuzen zweier Verbrecher auf, die der Legenda aurea zufolge Dismas und Gesmas heißen. Dismas, der an der rechten Seite Christi hängt, werde, so erzählt es die Legende, „bekehrt und gerettet“, Gesmas aber „ward verdammt“.29
Pilatus lässt am Kreuz Christi eine Tafel anbringen, auf der in hebräischer, lateinischer und griechischer Sprache der Grund der Verurteilung Jesu zu lesen ist:
„Jesus von Nazaret, der König der Juden“ (Jesus Nazarenus Rex Iudaeorum; Joh 19,19).
In der Legenda aurea wird diese Inschrift unter Berufung auf den Kirchenvater Augustinus († 430) ausführlich gedeutet.
Anders als der Bericht in den Evangelien, verweilt Jacobus de Voragine lange bei der Bedeutung dieses Augenblicks. Dazu wendet er sich dem Verständnis der Kreuzigung als Ganze zu. Mit ihr habe Christus, wie bei Anselm von Canterbury († 1109) zu lesen sei, den Zorn Gottes besänftigt und ihn mit den Menschen versöhnt.
„Er aber, der der Mittler ist zwischen Gott und Mensch, hat uns durch das Opfer des Friedens mit Gott versöhnt, da er doch eins mit dem war, dem er opferte, und sich eins mit denen machte, für die er sich opferte, und derselbe war, der geopfert ward und opferte.“30
Doch Jacobus geht noch weiter: Unter den zahlreichen Interpretationen des Geschehens deutet er das Leiden Christi am Kreuz nicht zuletzt als
„die würdigste Arznei […] wider unser Leiden und Gebrechen“, die den Menschen „geheilt“ habe.
Das ‚Gebrechen‘, an dem der Mensch leidet, ist in seinem Verständnis die durch den Sündenfall in die Welt gekommene (Erb-)Sünde. Und während der Baum mit den verbotenen Früchten im Garten Eden den Tod gebracht habe, bringe das Kreuz, das auf diese Weise zum Gegenbild des Baums des Sündenfalls wird, das Leben. Das Kreuz wird zum „Gegenmittel“ gegen das „Gebrechen“ der Erbsünde.31
An dieser Stelle zitiert Jacobus den großen Mystiker Bernhard von Clairvaux (1090–1153), wenn er diesen die Wirkung auf den in die Betrachtung dieses Geheimnisses versunkenen, frommen Christen beschreiben lässt:
„Wer ist der Mensch, der nicht eine tröstliche Hoffnung und Zuversicht empfindet, so er Christi Leib anschauet an dem Kreuz: da ist das Haupt geneigt zu einem friedsamen Kuß, die Arme ausgebreitet zum Umfahen [zur Umarmung], die Hände durchbohrt um ihre Schätze auszuteilen, die Seite geöffnet zur Liebe, die Füße festgenagelt zu einem Bleiben bei uns, der ganze Leib gedehnt zu einer Gabe für uns.“32
Am Kreuz
In den Berichten der Evangelien teilen die Soldaten, nachdem sie Christus ans Kreuz geschlagen haben, die Kleider Jesu unter sich; um seinen Rock, der aus einem einzigen Stück gewebt ist und beim Zerteilen zerstört würde, würfeln sie.
Mit den Verurteilten ist eine große Menschenmenge zur Richtstätte vor den Toren Jerusalems gezogen, die das Geschehen verfolgt und kommentiert. Vor allem Jesus wird von den Zuschauern verspottet: Er habe doch angekündigt, den Tempel niederzureißen und in drei Tagen wieder aufzurichten; nun solle er erst einmal sich selbst helfen. Er solle vom Kreuz herabsteigen, dann werde man ihm glauben, dass er der Messias sei. Auch die Hohepriester, die Schriftgelehrten und Ältesten beteiligen sich an der Verspottung. Matthäus und Markus berichten, dass sogar die beiden Verbrecher, die man zusammen mit ihm gekreuzigt hat, in die Beschimpfungen einstimmen (Mt 27,44; Mk 15,32b). Im Lukas-Evangelium dagegen ist zu lesen, dass sich zwischen dem einen der beiden, der Legenda aurea zufolge Dismas, und Jesus ein Dialog entwickelt. In dessen Verlauf erklärt Dismas dem Gesmas, dass sie beide die Strafe, die sie erlitten, immerhin verdient hätten, während dieser Jesus unschuldig sei. Dann wendet er sich an Jesus und bittet ihn, seiner zu gedenken, wenn er in sein Reich komme. Daraufhin versichert Jesus dem bekehrten Verbrecher:
„Amen, ich sage dir: Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein.“ (Lk 23,43)
Tod Jesu
Bevor Christus stirbt, spricht er mehrmals vom Kreuz herab.
Unmittelbar, nachdem er ans Kreuz geschlagen worden ist, betet er für die, die ihn gekreuzigt haben:
„Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ (Lk 23,34)
Matthäus zufolge sind viele Frauen aus Jesu Gefolgschaft anwesend, darunter neben Maria Magdalena zwei weitere Frauen mit dem Namen Maria. (Mt 27,55f) Das Johannes-Evangelium berichtet, dass außer den Frauen auch „der Jünger, den er liebte“, unter dem Kreuz stand. Als Jesus diesen Jünger und seine Mutter sieht, sagt er
„zu seiner Mutter: Frau, siehe, dein Sohn! Dann sagte er zu dem Jünger: Siehe, deine Mutter! Und von jener Stunde an nahm sie der Jünger zu sich.“ (Joh 19,26f)
Nach einiger Zeit bekundet Jesus, dass ihn dürste. Daraufhin reicht man ihm auf einem Ysopzweig einen Schwamm, der in ein Gefäß mit Essig getaucht worden ist. Er wird ihm an den Mund gehalten, so dass Jesus die Flüssigkeit aufsaugen kann.
„Um die sechste Stunde“ bricht eine tiefe Finsternis über das ganze Land herein, die bis zur neunten Stunde andauert; Matthäus, Markus und Lukas erwähnen, dass der Vorhang im Tempel zerreißt. Damit beginnt gewissermaßen die letzte Phase des Leidens Christi, die mit seinem Tod am Kreuz endet.
Kurz vor seinem Tod in der neunten Stunde ruft Jesus:
„Eli, Eli, lema sabachtani?, das heißt: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Mt 27,46; Mk 15,34)
Von den Umstehenden werden diese Worte für einen Hilferuf an den Propheten Elija gehalten; gespannt warten sie, ob der Prophet erscheinen und dem Gekreuzigten helfen wird.
Im Lukas-Evangelium ruft Jesus außerdem:
„Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist“ (Lk 23,46a),
während im Johannes-Evangelium Jesu letztes Wort am Kreuz lautet:
„Es ist vollbracht!“ (Joh 19,30b)
Danach neigt er das Haupt und stirbt; bei Matthäus und Markus schreit er vorher noch einmal laut auf. (Mt 27,50a; Mk 15,37)
Im Augenblick des Todes Jesu geschehen eine Reihe von Wundern: Die Erde bebt
„und die Felsen spalteten sich. Die Gräber öffneten sich und die Leiber vieler Heiligen, die entschlafen waren, wurden auferweckt.“ (Mt 27,51f)
Die Soldaten, die unter der Leitung eines Hauptmanns mit der Kreuzigung betraut gewesen sind, erschrecken angesichts dieser Wunder. Eigens erwähnt wird die Reaktion des Hauptmanns, der weder in den Evangelien, noch in der Legenda aurea namentlich bezeichnet wird. Er ist von den Zeichen so erschüttert, dass er bekennt:
„Wahrhaftig, dieser Mensch war Gottes Sohn.“ (Mk 15,39b; vgl. Lk 23,47)
Begräbnis Jesu
An verschiedenen Stellen wird immer wieder die große Menschenmenge genannt, die die Kreuze umsteht und auf ganz unterschiedliche Weise auf die Ereignisse reagiert.
In der Menschenmenge steht auch ein nur heimlicher Anhänger Jesu, der sich aus Furcht bis zu diesem Zeitpunkt nicht öffentlich zu ihm bekannt hat. Denn er ist Mitglied des Hohen Rats. Sein Name ist Joseph und er stammt aus Arimathäa. Nachdem Jesus verstorben ist, bittet er Pilatus um den Leichnam. Daraufhin werden, wie nur das Johannesevangelium berichtet, den beiden mit Christus Gekreuzigten die Beine zerschlagen.33 Da Jesus zu diesem Zeitpunkt schon tot ist, bleiben seine Beine unversehrt. Stattdessen sticht ihm ein Soldat34 mit einer Lanze in die Seite
„und sogleich floss Blut und Wasser heraus.“ (Joh 19,34)
Das Hervorfließen von Wasser ist der Beweis dafür, dass Jesus tatsächlich bereits verstorben ist.
Nun darf Joseph von Arimathäa den Leichnam vom Kreuz nehmen. Er begräbt ihn in einem nahegelegenen Felsengrab. (Lk 23,50–53) Vor den Augen der trauernden Frauen wälzt er einen großen Stein vor dessen Eingang. (Mk 15,46b) Zuvor hat ein weiterer Anhänger Jesu, Nikodemus, „der früher einmal Jesus bei Nacht aufgesucht hatte“, den Leichnam mit einer Mischung aus Myrrhe und Aloe gesalbt. (Joh 19,39)
Die Bibel erzählt hier wie fast überall sehr nüchtern. Sie beschränkt sich auf das reine Konstatieren der Geschehnisse, ohne sie auszuschmücken oder zu deuten. Sie stellt die Fakten unkommentiert nebeneinander. Die Erzählweise hat etwas Archaisches.
Gedeutet wird ausschließlich in der Legenda aurea, hier indessen in reicher Fülle. Viele dieser Deutungen führt Jacobus de Voragine auf Kirchenväter oder andere Theologen zurück. Offenbar in dem Bemühen, nicht ohnehin Bekanntes, geistiges Allgemeingut zu wiederholen, erzählt er die eigentliche Geschichte der Kreuzigung so gut wie nicht, konzentriert sich stattdessen fast vollständig auf das spirituelle und theologische Verständnis ihrer einzelnen Teile.
Text und Bild
Nach der Lektüre der Texte überrascht das Bild, das Meister Mathis für den Altar der Isenheimer Spitalkirche geschaffen hat. Einige im Text beschriebene Motive sind im Bild wiederzufinden, doch im Allgemeinen hätte man sich die Szene anders vorge...