Wieder einmal nach einer schweren Krise mit einem Alkoholabsturz, landete ich in einer Psychiatrie. Selten wusste ich, wie ich dort gelandet war. Natürlich wurde es mir dann in allen Details von meinen Eltern, Freunden und dem Klinikpersonal erzählt, sodass ich mich vor Scham am liebsten weit weg wünschte. Dies war nach fünf Jahren meiner Sucht der dritte Aufenthalt in einer Psychiatrischen Klinik, der zwischen jeweils sieben und zehn Tagen dauerte. Ja, ich war da 28 Jahre alt und sah keinen Sinn mehr in meinem Leben. Sicher wollte ich von der Abhängigkeit befreit sein, nur wusste ich absolut nicht, wie ich das je schaffen könnte. Natürlich gelang es mir nach einem Entzug in einer Psychiatrie immer, ein paar Monate trocken zu bleiben. Doch bei der kleinsten Überforderung steckte ich wieder im Schlamassel.
Bei diesem dritten Aufenthalt in der Psychiatrie wurde mir eine externe Suchtberaterin vorgestellt namens Astrid. Die gegenseitige Sympathie hielt sich in Grenzen. Trotzdem führten wir noch mit einem Pfleger der Psychiatrie ein Gespräch. Es blieb mir auch nichts anderes übrig, als mich darauf einzulassen. Beide nahmen mich ins Visier und drängten mich regelrecht zu einer Entwöhnungstherapie. Ansonsten hätte ich null Chance auf ein vernünftiges Leben. Mir standen die Haare zu Berge, ich hatte unendlich Angst und ich fühlte mich dieser Situation ausgeliefert. Ich wusste, wenn ich mich dagegen stellte, würde die Behörde eingeschaltet. Meine Selbstgefährdung war zu gross, so wäre es dann ein leichtes für fremde Menschen gewesen, über mich zu bestimmen. Okay, ich fügte mich meinem Schicksal und ging für sechs Monate in eine Entwöhnungskur. Astrid kam mich in der Therapie besuchen und langsam wuchs die gegenseitige Sympathie. Gegenüber dem, was ich zuvor in meinem Leben erlebt hatte, empfand ich die Zeit dort als recht gut und die sechs Monate gingen sehr schnell vorbei.
Also, nun war ich entwöhnt, aber welche Perspektiven hatte ich in meinem Leben? Als gelernte Pflegefachfrau war ich auf jeden Fall noch nicht bereit, meinen Beruf wieder auszuüben. Doch irgendwie musste ich Geld verdienen, wenn ich nicht vom Arbeitsamt oder Sozialamt abhängig sein wollte. Sehr schnell hatte ich eine eigene Wohnung und einen Job, nicht im Sozialwesen. Nun konnte ich wieder mein Leben geniessen. Der Höhepunkt war dann meine Tochter, die ein Jahr später auf die Welt kam. Der richtige Partner für ein Familienleben fehlte mir noch, aber das war kein Problem für mich.
Zu dieser Zeit gründete Astrid eine Frauen- Sucht-Gruppe, die einmal in der Woche in der Suchtberatungsstelle war.
Diese Gruppe besuchte ich 15 Jahre lang regelmässig. Das erste Jahr holte Astrid mich und mein Baby von zu Hause ab und brachte uns nach der Gruppe wieder heim. Meine Tochter war ein ausgesprochen zufriedenes Kind und wanderte, wenn sie nicht gerade schlief, von einer Frau zur andern und wurde liebkost. Die Gespräche wurden so nie gestört und alle Kolleginnen akzeptierten die Kleine. Die Gruppe bestand aus zehn Frauen und über die Hälfte waren Co-Abhängige. Wir hatten einen guten Zusammenhalt und trafen uns auch privat. Alle fühlten sich bei Astrid gut aufgehoben.
Nach 15 Jahren übernahm das Blaue Kreuz die Suchtberatungsstelle und Astrid ging in ihren wohlverdienten Ruhestand.
Einige andere Mitarbeiter der Suchtberatungsstelle blieben noch während einer gewissen Zeit dort und führten weiterhin Einzelgespräche mit den Betroffenen. Die Therapeuten dieser Beratungsstelle haben danach an einem anderen Ort weiter gearbeitet. Allmählich löste sich auch dieses Verhältnis auf und die Leute, die noch weiterhin Betreuung brauchten, stiegen beim Blauen Kreuz ein.
Auch ich benötigte unbedingt noch eine Therapie, denn nach fünf Jahren Abstinenz hatte ich wieder gelegentlich einen Alkoholrückfall. Ich kann mich noch sehr gut erinnern, wie ich das erste Mal von dem Angebot des Blauen Kreuzes hörte. Ich war sehr skeptisch und innerlich gar nicht bereit, dort mitzumachen. Meine Vorurteile gegenüber einer christlich geführten Beratungsstelle waren sehr stark. Doch welche Alternative bestand, Hilfe zu bekommen?
Mir fehlte auch die nötige Zeit, mich kundig zu machen, welche anderen Therapieangebote es noch gab. Ich war alleinerziehende Mutter und musste für mich und mein Kind den Unterhalt verdienen. Drei Monate nach der Geburt meines Töchterleins ging ich wieder 70% in die Pflege als Nachtwache in einem Behindertenheim arbeiten. Diese Stelle war für mich passend, denn ich konnte meine Kleine bis sie in den Kindergarten kam zur Arbeit mitnehmen. Der Betrieb war zu dieser Zeit erst im Aufbau und hatte nur wenig Bewohner, daher war es ein relativ lockerer Job.
Verschiedene AA-Gruppen hatte ich auch besucht, doch fühlte ich mich nie richtig wohl in einem Meeting. Die Angst, dass mich jemand erkannte, war sehr gross. Falls ja, hätte ich mir sagen können: „Was spielt das für eine Rolle, die oder der ist ja im gleichen Spittel krank!“ Doch war es mir ein grosses Anliegen, mit meinen Problemen in der Gesellschaft anonym zu sein. Was mir jeweils nach einem Meeting vor allem auffiel: Wenn ein Abend nur über das Saufen geredet wurde, verspürte ich jedes Mal den Druck, etwas einzunehmen, das mich erleichtern könnte. Trotz alledem konnte ich auch viel profitieren und die zwölf Schritte der Anonymen Alkoholiker sind mir immer noch präsent.
Einige Grundgedanken, um auch in der angespannten Situation abstinent zu bleiben:
Das AA-Akronym, HALT steht für hungrig (hungry), ärgerlich (angry), einsam (lonely) und müde (tired), die vier wichtigsten Situationen, die Verlangen auslösen und verstärken. Diesen vier Situationen versuchte ich aus dem Wege zu gehen. Auch die Schritte 8, 9, 10 setzte ich in die Tat um.
Wir machten eine Liste aller Personen, denen wir Schaden zu gefügt hatten und wurden willig, ihn bei allen wieder gutzumachen.
Wir machten bei diesen Menschen alles wieder gut – wo immer es möglich war –, es sei denn, wir hätten sie oder andere verletzt.
Wir setzten die Inventur bei uns fort, und wenn wir Unrecht hatten, gaben wir es sofort zu.
Mit dieser Forschung und dem Willen zum Gutmachen konnte ich am Anfang meiner Abstinenz wirklich etwas anfangen. Gehirnforscher haben zudem noch herausgefunden, dass die Region für Hunger und Sucht im Gehirn zusammen liegen.
Da wurde mir auch klar, warum das Essen bei einer Abstinenz plötzlich einen hohen Stellenwert hat. Wie man masslos trinken kann, kann man auch masslos essen und schon haben wir eine Suchtverlagerung. Als ich mit diesem Wissen starken Druck nach Alkohol verspürte, trank ich extrem viel Wasser, sodass ich das Gefühl hatte: noch ein Schluck, dann kommt alles wieder nach oben. Meistens verschwand dann für eine gewisse Zeit der Druck, denn ich konnte nichts mehr schlucken, also auch keinen Alkohol mehr zu mir nehmen.
Ich versuchte und wünschte mir in dieser Zeit, dass ich die Verbundenheit zu Gott finden würde, doch das ist mir bis heute nicht gelungen. Obwohl ich überzeugt bin, dass der Glaube mir die Kraft geben könnte und ich dann innerlich nicht so alleine gewesen wäre, habe ich das nicht geschafft. Auf dieser spirituellen Ebene konnte ich mich nicht bewegen. Ich bin einfach zu rational und was ich nicht sehen, verstehen und anfassen kann, lässt mich zweifeln.
Ohne sentimental zu werden, fühlte ich mich schon als Kind von Gott verlassen. Ich wurde streng katholisch erzogen und hatte fürchterliche Angst vor dem Teufel und dem Fegefeuer. Wenn ich mich im Spiegel betrachtete und meine Mutter mich dabei ertappte, beschimpfte sie mich und sagte, ich stecke mit dem Teufel unter einer Decke. Solche Episoden gab es mehrere in meiner Kindheit, und im späteren Erwachsenenalter habe ich mich aus Eigenschutz vom Glauben abgewandt. Mehrmals versuchte ich es wieder, mit Beten, Kirchenbesuchen, kirchlicher Trauung mit meinem Exmann und verbrachte sogar mehrere Tage in einem Kloster und mehrmals einige Tage im Haus der Stille. Es tat mir sehr gut, ich konnte mich erholen und es war mir wohl. Aber es blieb ohne Auswirkungen auf meinen Glauben.
Nun, wie dem auch sei, habe ich meinen Weg gefunden und bin seit meiner Abstinenz wirklich glücklich in meinem Leben. In einem anderen Kapitel meines Buches stelle ich Euch vor, wie ich mit Hilfe der Meditation und einem Training der emotionalen Kompetenzen gearbeitet habe.
Nun zum Blauen Kreuz: Mit Vorbehalt wagte ich mich in die Höhle des Löwen und traf mich mit einer Beraterin der Fachstelle im Blauen Kreuz. Schon nach dem ersten Gespräch spürte ich, dass diese Frau mich versteht und ging erleichtert aus der ersten Sitzung. Wir trafen uns dann regelmässig und mein Vertrauen steigerte sich. Bis dorthin hatte ich noch nie eine Therapeutin getroffen, die sich so mit meinem Problem auseinander gesetzt hatte. Helga steckte so viele Gefühle in unsere Gespräche hinein und versteckte sich nicht hinter den theoretischen Fakten der Sucht. Der Fokus unserer Gespräche richtete sich selten auf meine Rückfälle, sondern wir suchten einen Weg, wie ich mir Gutes tun konnte, damit es mir psychisch besser ging. Natürlich wurden ein Rückfall oder ein zwischenzeitliches starkes Suchtverlangen thematisiert.
Leider verliess Helga schon nach wenigen Monaten das Blaue Kreuz und arbeitet heute in der Beratung für und mit Kindern.
Unregelmässig besuchte ich auch eine gemischte Gruppe im Blauen Kreuz mit Männern und Frauen. Doch dort fühlte ich mich nie richtig wohl. Wie das Wort Sucht schon heisst, sind in solchen Gruppen beiden Geschlechts die betroffenen Menschen am Suchen nach Bestätigung und Liebe. Beides tut ja im Moment gut, aber ehrlich gesagt habe ich noch nie ein Paar kennen gelernt, das wirklich trocken miteinander über lange Zeit leben konnte.
Ich habe so eine Beziehung auch schon versucht. Wir waren glücklich und liebten uns. Hatte einer von uns einen Rückfall, stand der andere aufrecht da und unterstützte den Partner. Mir gefiel das natürlich am Anfang sehr, vor allem wenn ich einen Rückfall hatte. Es war schön, wenn sich der eigene Partner so rührend um mich kümmerte ohne Vorwürfe und Abwertung. Aber jedes Mal, wenn sich der Rückfallkandidat erholt hatte, war der Andere innerlich ausgelaugt und es ging nicht lange, musste er sich auch gehen lassen und unbedingt absacken. Da war die Sucht viel stärker. Ich bin mir sicher, dass ich nie in der Lage sein werde, einen Partner mit einem Suchtproblem zu haben. Vorausgesetzt, ich möchte trocken bleiben, und das möchte ich. Dies trifft natürlich hauptsächlich für mich zu. Was aber auch sein kann: Wenn ein Paar seine nasse Zeit schon länger hinter sich gelassen hat und sich beide voll konzentriert auf ein Leben zum Trockensein entschieden haben, ist es möglich, eine suchtfreie Beziehung zu führen.
Vor vielen Jahren hatte einmal ein Therapeut in der Psychiatrischen Klinik im Hinblick auf die Beziehung eines Alkoholikerpaars geäussert: „zwei nasse Säcke werden nie trocken.“
Zu dieser Zeit machte mir der plumpe Satz echt zu schaffen und dieser Therapeut war dann für mich gestorben. Ich dachte dort, der theoretische Oberguru nimmt uns noch das wenige, das wir haben: die Hoffnung, mit einem anderen Betroffenen, der uns versteht, eine Paarbeziehung leben zu können und gemeinsam trocken zu werden.
Mit den Therapeuten vom Blauen Kreuz habe ich immer noch regelmässigen Kontakt und der Glaube wurde in meinen Gesprächen dort noch nie zum Thema.
Vor etwa zehn Jahren war ich in der Trennungszeit mit meinem Exmann und hatte wieder extreme Alkoholrückfälle. Ich verlor nach 16 Jahren meine Arbeitsstelle. Die nächste Stelle konnte ich dann drei Jahre halten, aber dann erhielt ich wieder die Kündigung. An dieser Stelle war meine Abhängigkeit nicht bekannt, sondern wurde unter Burnout verbucht. Der Arbeitgeber machte mir dann das Angebot, mich gerne wieder zu nehmen, wenn ich ein halbes Jahr krisenfrei leben könnte. Er verlangte eine ärztliche Bescheinigung.
Ein halbes Jahr konnten ich und meine beiden Kinder ohne Einkommen natürlich nicht leben und so nahm ich mich zusammen und bewarb mich für eine neue Stelle.
Aus meiner 13-jährigen Ehe hatte ich noch einen Sohn, der zu dieser Zeit auch bei mir lebte. Also war mir klar, dass ich an meiner Situation der Alkoholabhängigkeit etwas ändern musste. Mit meinem Hausarzt und dem Blauen Kreuz kam ich zu dem Entschluss, Antabus zu nehmen.
Doch da kamen dann schon die ersten Probleme mit der Einnahme des Medikamentes. Ich hatte ja wieder sehr schnell eine Arbeitsstelle in der Pflege im Schichtund Wechseldienst. Meine Freizeiten überschnitten sich mit den Öffnungszeiten der Fachstelle, des Arztes und der Apotheken. Das Antabus muss dreimal wöchentlich unter Aufsicht eingenommen werden.
Wie schon so oft, hatte das Blaue Kreuz die Lösung. Sie stellten mir eine Frau namens Lisa vor, die freiwillige Helferin der Fachstelle war und als pensionierte Krankenschwester weiterhin ihre Dienste im Blauen Kreuz machte. Sie betreute zu dieser Zeit und schon mehrere Jahre zuvor einen Alkoholiker, der an den Spätfolgen des Konsums leidet. Lisa war sofort bereit mir beizustehen. Sie war so lieb und menschlich und ich hatte sie richtig gerne. Sie richtete sich nach meinem Arbeitsplan und kam dann sogar zu mir nach Hause und kontrollierte meine Antabuseinnahme. Dies ging dann wieder drei bis vier Monate gut, bis zu meinem nächsten Rückfall. Übrigens hatte ich immer wieder in den gleichen Abständen einen Absturz. Also war ich eine so genannte „Quartal-Trinkerin.“
Ich wusste als Süchtige, wie ich die Wirkung des Medikamentes umgehen konnte, wenn der Druck zu gross war. Es war mir zwar klar, wie gefährlich das ist, doch die Sucht war stärker. Jeder Absturz, den ich nach der Trennung von meinem Mann hatte, war jeweils so schlimm, ...