Online-Sprech-(los)-stunden?
„Wie großzügig.“ feixte Romy, obwohl es sich ja um ein mehr als ernstes Thema handelte. Aber diesen albernen Tonfall schlug sie von Zeit zu Zeit an, um nicht an den „kriminellen“ Umständen zu verzweifeln. Emotionale Verdrängung brach sich da Bahn. Und auch ein Funke Hoffnung. So lange sie lachen, oder wenigstens noch schmunzeln konnte, würde dies ihr immer wieder vor Augen führen, wie schön es war, zu leben.
Natürlich freute sich Romy auch deshalb, weil Katharina sich zunehmend auf ihre gedanklichen Experimente und Ausflüge in die Geschichte oder die Philosophie einließ und nicht nur auf der „Abarbeitung“ eines imaginären „roten Konzern-Mobbing-Fadens“ bestand.
Voller Begeisterung setzte Romy deshalb fort:
„Ich frage mich ernsthaft, ob man mir mit diesem Projekt wenigstens zwei Alternativen und drei Feindbilder anbieten wollte? Klingt etwas verwirrend, ich weiß. Aber es hat einfach et was damit zu tun, dass jeder Mensch ständig Entscheidungen treffen muss. Und daraus ergeben sich Folgeschritte, Konsequenzen, die zu ganz unterschiedlichen Lebenswegen führen können, aber auch andere Zukunftsoptionen eröffnen, eben geschichtliche Abläufe beeinflussen.
Vielleicht hast du dich auch schon öfter gefragt: „Warum habe ich bloß nicht „DAS“ gemacht, dann wäre alles ganz anders gekommen. Aber man weiß es eben nicht. Und jeder muss sich in jedem Moment im Leben immer wieder aufs Neue entscheiden. Kaufe ich Brot oder Brötchen, esse ich Fisch oder werde ich Veganer, schlafe ich aus oder betrachte ich den Sonnenaufgang. Laut Verhaltensforschern trifft jeder von uns täglich 20.000 Entscheidungen. Die sind natürlich nicht alle kriegsentscheidend. Und die meisten davon werden aus dem „Bauch“ heraus getroffen oder besser im Unterbewusstsein entschieden. Dieses reagiert wiederum kontextabhängig und situationsbezogen. Und je nachdem, wie ich die Rahmenbedingungen „gestalte“, führe ich den Menschen in eine bestimmte Richtung. Selbst, wenn er annimmt, vermeintlich eine Entscheidungsfreiheit zu besitzen, führen alle Entscheidungen immer wieder zum selben Punkt. Und wenn ich ein solches geschlossenes System kreiiert habe, dann ist das genial, um totalitär Macht ausüben zu können.
Aber das führt jetzt wirklich zu weit.“
„Wenn du es jetzt aber angesprochen hast“, hakte Katharina ein, dann sag wenigstens noch einen Satz dazu, um den Gedanken zu verstehen.“
„Das hängt wieder mit dem Systemkampf zusammen. Es gibt eigentlich nur einen Handlungsstrang - Kapitalismus gegen Kommunismus. Möchte ich sicherstellen, dass der Kapitalismus siegt, nutze ich vor allem die Mittel der Marktwirtschaft, in derem Zentrum das „Angebot“ steht. Durch eine Übersättigung mit Angeboten lenke ich vom wesentlichen Kern der Strategie ab. Alle schauen links oder rechts am eigntlichen roten Faden vorbei. Dies gilt für wirtschaftliche Angebote, aber auch für politische. Wenn die Menschen sich darauf konzentrieren, ob sie jetzt rot, gelb, grün, schwarz oder blau wählen, ob die Steuern hier oder dort ein bisschen runtergehen, ob hier ein Gesetz oder dort eine Maßnahme nachgebessert werden kann, sehen sie den Wald oder besser den Kern vor lauter Bäumen oder Angeboten nicht mehr.
Also konkret auf das Projekt bezogen bedeutet das, wenn ich vom strategischen Langzeitziel ausgehe, ein Rollback im neoliberalen Sinne weltweit durchsetzen zu wollen, dann muss ich Akteure so an Schnittstellen der Macht positionieren, dass sie im Sinne meiner Interessen agieren. Natürlich in der Annahme, dies selbstbestimmt zu tun und nicht als Opfer einer „entfremdeten“ Leistungserbringung oder Meinungsbeeinflussung.
Dabei nutze ich die Erkenntnisse über Entscheidungsverhalten. Dieses bestimmt die Handlungsalgorithmen und ermöglicht damit die Einflussnahme auf gesellschaftspolitische Entwicklungen. Der Einfachheit halber stelle ich zwei Hauptalternativen zur Auswahl, die beide natürlich das gleiche Ziel, nur auf einem anderen Weg erreichen sollen.
Außerdem kann ich über das Szenario, das mir „offenbart“ wurde gleich drei Feindbilder erzeugen, die wichtig sind, um als Voraussetzung notwendige Konflikte zu generieren, die als Handlungsmotivation beschleunigend wirken und eine innere Haltung fördern.
Mit den starken Antrieben aus einer inneren Überzeugung heraus, und dem eigenen Agieren entweder die Welt zu retten, gegen Ungerechtigkeiten zu kämpfen oder jemanden zu verteidigen, kommen kaum andere intrinsische Motivationen an.
Dies bedeutet auch, dass sich, bei unkontrolliertem Ausbruch solcher Emotionen, die Menschen dann die Köpfe einschlagen oder gleich ein totalitäres hierarchisches Machtgefüge akzeptieren.
Und das ist gegenwärtig natürlich genial konzipiert und macht diesen Thriller so spannend.
Mir entstand der Eindruck, als wenn ich mich nur in einem Labyrinth bewegen kann und immer wieder bei einem Ziel, einem gewollten Ergbnis herauskomme. Ob ich linksherum oder rechtsherum laufen würde, es wäre egal. „Alle Wege führen nach Rom“. Nicht umsonst hat sich dieser Spruch über die Jahrhunderte so fest in den Köpfen verankert.
Aber das ist ein neuer historischer Strang, den ich jetzt nun wirklich nicht aufmachen möchte, denn er führt uns direkt ins Heilige Römische Reich, zu Kaisern, Reichsständen wie Kurfürsten und Rittern und zu den Anfängen dieses, eigentlich gegenwärtig aktuellen Krimis.“
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„Und dieses Heilige Römische Reich hat etwas mit der Telekom und deinem Mobbing zu tun?“ Katharina schaute Romy verwirrt an. „Ich denke es geht eigentlich um Betrug und Wirtschaftskriminalität?“
„Das auch. Aber es hat daneben auch eine gesellschaftspolitische Ebene, weshalb sich die Diebe und Intriganten gegenseitig ein moralisches Zeugnis ausstellen, sich bestätigen, dass sie im Interesse der Welt handeln und dafür weder Geld noch den Einsatz von unsichtbaren Technologien oder ausgeklügelter psycho-physicher Waffensysteme scheuen.“
„Und diese Diebstähle haben, wenn ich mal deinen Sprachgebrauch aufgreife, ihre Wurzeln bereits in der Geschichte?“
Katharina hatte bisher eher weniger Interesse an geschichtlichen Zusammenhängen gezeigt. Irgendwie war ihr dieser Stoff eher langweilig erschienen. Wozu musste man wissen, wann und warum welche Revolutionen stattgefunden hatten oder welcher Monarch wann über wen regierte. Sie beschäftigte sich mit High-Tech, mit Innovationen, mit spannenden Zukunftsthemen. Sie berichtete über neuste Trends oder internationale Wissenschaftskonferenzen. Warum sollte sie sich nun Geschichten von Romy über das Heilige Römische Reich anhören?
„Weil Diskussionen in der Vergangenheit oft daran gescheitert sind, weil sie zu allgemein gehalten wurde. So wie ich ja auch viel über „das“ System spreche. Aber für viele ist dies zu unkonkret. Es ist verständlich, dass man lieber Namen, Ross und Reiter erfahren möchte, als Allgemeinplätze. Aber nicht in jedem Fall ist es einfach, diesen so konkreten Bezug herzustellen. Und dann ist man schon froh, wenn man die Tätergruppe irgendwie einschränken, clustern und erst einmal als solche definieren kann. Auch wenn sich auch hier wieder dann jedem klar ist, dass es nicht eine Massenverurteilung geben kann, so wie sie im Zweiten Weltkrieg erfolgte, sondern das es gegenwärtig um eine ganz klare Differenzierung gehen muss. Für mich war in dem historischen Zusammenhang vor allem wichtig zu erfahren, dass man Monarchie und Aristokratie historisch nicht in einen Topf werfen darf, denn auch diese Kreise wirkten lange Zeit gegeneinander.
Das „Heilige Reich64“ vereinte zwar letztendlich beide Staatsformen in sich, wollte Frieden schaffen, wobei es trotzdem weiter unter dem Deckmantel der „Fassade“ heftig brodelte. Samuel Pufendorf bezeichnete das Reich als „irreguläres Monstrum65“ eigener Art66.
Durch das Entstehen von Universitäten und die steigende Anzahl ausgebildeter Juristen verschärften sich die Auseinandersetzungen und Voltaire67 schrieb darüber „Dieser Korpus, der sich immer noch Heiliges Römisches Reich nennt, ist in keiner Weise heilig, noch römisch, noch ein Reich.“68
Und dann mischte in Rom auch noch der Kirchenstaat (bis 1870) mit, der bis heute als Machtzentrum, jetzt als Vatikanstadt, in die Welt hinein regierte. Also ein weites Feld.
„Aber warum ist das für die Diskussion um die Telekom und die online-Sprechstunde so wichtig?“, hakte Katharina nun doch noch einmal leicht verzweifelt klingend dazwischen.
„Weil eben alles mit einem Machtanspruch zusammenhängt, was es dadurch so schwierig macht. Macht und Geld regieren die Welt. Und wenn du weißt, welche Ziele jemand warum verfolgt, welche Motive ihn treiben, dann kannst du auch besser aktuelle Prozesse verstehen.“ Romy wusste, dass sie Katharina viel zumutete, gleichzeitig aber auch, dass ihre Gedanken im Sande verlaufen würden, wenn sie nicht notwendige Bezüge herstellte.
„Schau dir einfach die Nachrichten an. Gegenwärtig ist es wieder wichtiger geworden, von der Geburt eines potentiellen britischen Thronfolgers zu berichten, als von der Entdeckung eines Ersatzmaterials für Mikroplastik69, die Einführung einer Datenbrille zur Ferndiagnose70 oder einen aufklärenden Bericht über das „Warum?“ der Sterblichkeit von afrikanischen Kindern in heutiger Zeit zu verfassen. Sagt das nicht viel über den Zustand unserer Gesellschaft aus?
Dass die Herzogin Kate und Prinz William ein Kind zur Welt gebracht haben, dass die britische Thronfolge ändert und dieser Junge nun Platz „fünf“ in der Regentenliste einnimmt, wird zu „dem“ zentralen Erlebnis der Gegenwart hochstilisiert.
Überall starrt man voller Entzücken auf dieses Kind, wo doch weltweit tausende solcher niedlichen Weltneubürger zu begrüßen sind, und auf der anderen Seite tausende sterben.
So, als würden wir heute noch in einer Monarchie leben und nicht in einer freiheitlich demokratischen Grundordnung.
So als hätte sich die Welt nicht weitergedreht. Und natürlich auch suggerierend, dass dieser „Zustand“, angezeigt durch die Diskussionen um die Thronfolge, eben auch die nächsten hundert Jahre so anhalten würde.
Was macht diesen „königlichen“ Jungen für den Fortschritt in unserer Welt so viel wertvoller als Millionen Arbeiter- und Bauernkinder, die die Gesellschaft „am Laufen“ halten? Warum schauen so viele fasziniert in das Königshaus und auf Adelstitel?
Was hat die „Marketingmaschine“ zur Systemerhaltung mit den Bürgern gemacht, dass sie diesem komplexen psychophysiologischen Spiel, dem tollen Konstrukt aus ganz vielen narrativen Geschichten, eben diesen modernen Märchen so begeistert folgen?
So wie mich ja auch meine Kollegin aufforderte, nach meinen Psychoterrorerlebnissen doch ein Märchen darüber zu schreiben.
Eben noch eins.
Dabei gibt es bereits so viele.
Als neuester märchenhafter, geopolitischer, hochemotionaler und finanziell lukrativ verwertbarer Marketingcoup stellt sich die Hochzeit zwischen Prinz Harry und Meghan Markle dar, über die die Medien nun zu berichten wissen. Durch diese Vermählung zeigt die Monarchie, wie es ihr gelungen ist, dem Rassismus die Stirn zu bieten, die Bürgerlichkeit gleichwertig zu integrieren, Scheidungen als tolerierbar und gesellschaftsfähig zu positionieren, die Integration einer amerikanischen Soap-Opera zu akzeptieren und damit viele Bevölkerungsgruppen neu für die Monarchie zu begeistern sozusagen als dauerhafte Kunden zu akquirieren.
Und für die Etablierung eines neuen Britischen Empire ist dies auch dringend notwendig. Umso mehr zeugt es von einer wirtschaftspolitischen Einsicht des Königshauses sowie dem tiefen Verständnis, durch emotionale Zustände des Volkes, politische Entscheidungen nachhaltig beeinflussen zu können und die Traumochzeit mit einem afrikanischen Essen als Höhepunkt abschließen zu lassen. Wie könnte die Königsfamile besser signalisieren, dass man doch eigentlich schon immer Afrika als gleichwertigen Kontinent betrachtet hatte? Wenn auch nicht begeistert, kam sie damit den Planungen der „Zukunftsstrategen“ nach, dem Bedürfnis des Volkes und des Geldes nach Märchen und ihrer Rolle als Traumweltgestalter nachzukommen. Wie könnte man augenscheinlicher vom Rassismus Abstand demonstrieren, indem man eine Braut mit afroamerikanischen Wurzeln in der Familie akzeptierte und damit untermauerte, dass man sich selbst nicht wirklich erklären konnte, woher der Rassismus der vergangenen Jahrhunderte entsprang. Bei den Business Case-Szenarien, die Romy diesbezüglich vor Augen hatte, konnte es auch keinen anderen Plan geben.
Und das man den nicht vorzeigbaren Vater vorsichtshalber einer Herz-OP unterzog, wodurch ein Fernbleiben an der Hochzeit gesichert wurde, gehört wiederum zu dem medizinischen Teil dieses Politthrillers.
Das all diese Aktionen natürlich nur das wahre Ziel verschleiern, den Kolonialismus der Vergangenheit wiederzubeleben, nur etwas schöngefärbter, als High-Tech-Ausgabe, steht dabei auf einem ganz anderen Blatt und wird natürlich nicht in der Presse vermeldet.
Ob Prinzen und Prinzessinnen, die Auferstehung eines Mannes nach dem er blutig ans Kreuz geschlagen wurde, ob esoterische Wunder, Geisterstimmen, Ritterlogen, Mönche oder Magier - letztendlich sollte sich für jeden Menschen etwas finden lassen, was ihn emotional berührte.
Und Hauptsache es gab dabei für jeden auch ausreichend S...