Der vergessene Maestro
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Der vergessene Maestro

Frieder Weissmann

  1. 432 Seiten
  2. German
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  4. Über iOS und Android verfügbar
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Der vergessene Maestro

Frieder Weissmann

Über dieses Buch

Eine Wiederentdeckung, zugleich die längst überfällige Würdigung eines zu Unrecht in Vergessenheit geratenen Dirigenten – die erste Biographie Frieder Weissmanns entwirft das faszinierende Porträt eines außergewöhnlichen Menschen und Musikers und erzählt eine berührende deutsch-jüdische Geschichte im 20. Jahrhundert.Der in Frankfurt a. M. aufgewachsene jüdische Kantorensohn Frieder Weissmann (1893-1984) war in den "Goldenen Zwanzigern" des vorigen Jahrhunderts einer der bedeutendsten deutschen Dirigenten der jüngeren Generation. Er arbeitete mit allen großen Stars aus Oper und Konzert zusammen und war ein Markenzeichen des damals größten europäischen Schallplattenkonzerns. 1933 von den Nazis zur Emigration gezwungen, gelang Frieder Weissmann im europäischen Ausland, in Süd- und Nordamerika eine zweite Karriere. Noch bis in die 1970er Jahre war er dort ein gesuchter Orchestererzieher und Gastdirigent. In seiner deutschen Heimat blieb der im "Dritten Reich" verfemte Dirigent nach 1945 weiter vergessen und für die Medien, die Musikwissenschaft und die Exilforschung bis heute ein unbeschriebenes Blatt.In jahrelanger Arbeit rekonstruierte der Autor die Biographie des verkannten Dirigenten Frieder Weissmann. Das gründlich recherchierte Buch entreißt das bewegte Schicksal des Künstlers, dessen Leben fast ein ganzes Jahrhundert umspannte, der Vergessenheit und erhellt ein bislang unbekanntes Kapitel deutscher Musik- und Exilgeschichte.

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Information

KAPITEL 1

Semy 1893-1916

Semy Weissmann im Alter von einem Jahr; rechts seine Geburtstagstasse.

Herkunft und Kindheit

Über seine Herkunft sprach er nur ungern. Wenn die Rede doch darauf kam, konnte der sonst stets Höfliche durchaus ungemütlich werden. Eine amerikanische Lokalreporterin sollte dies im Jahre 1968 zu spüren bekommen, als sie ein Interview mit dem damals 75jährigen Dirigenten damit beginnen wollte, dass sie nach seinem Geburtsort fragte. „Das interessiert doch niemand,“ fauchte er, „wo ich geboren wurde, hat absolut keine Bedeutung!“1
Im Grunde hatte er recht, denn von der hessischen Kleinstadt Langen, in der Frieder Weissmann am 23. Januar 1893 das Licht der Welt erblickte, dürfte wohl kaum ein Leser des im US-Staat Connecticut beheimateten Lokalblatts je gehört haben. Ganz abgesehen davon, dass er selbst von dem südlich von Frankfurt am Main auf halber Strecke nach Darmstadt gelegenen Geburtsort Langen nur eine vage Vorstellung hatte. Denn von der Stadt, die heute rund 37.000 Einwohner hat, damals aber nur 4.500 meist evangelische Bewohner zählte, dürfte er nicht mehr wahrgenommen haben, als ihm die Perspektive aus der Kinderwiege ermöglichte. Im November 1894, kaum dass er auf beiden Beinen stehen konnte, lebten er und seine Eltern schon nicht mehr in Langen, sondern in Frankfurt am Main. Hier verbrachte er seine Kindheit und Jugend, und weil ihn diese Stadt mehr als Langen prägte, hatte er auch kein schlechtes Gewissen, sie dem Herausgeber des 1929 erschienenen Deutschen Musiker-Lexikons als Geburtsort zu nennen.2
Bei gleicher Gelegenheit zögerte er auch nicht, sein Geburtsdatum zwei Jahre später anzusetzen, eine Verschleierungstaktik, die er bis ins hohe Alter praktizierte. Der bereits erwähnten amerikanischen Lokalreporterin machte er z. B. weis, er sei mit 21 Jahren promoviert worden und habe im Alter von 27 Jahren die Leitung des Berliner Sinfonie-Orchesters übernommen. Tatsächlich war er jedoch schon 27 Jahre alt, als er die Promotionsurkunde empfing, und gar 38, als er die Leitung des Berliner-Sinfonie Orchesters übernahm.
Nicht zuletzt wegen seines lange bewahrten jugendlichen, sportlichen Aussehens hatte er nie Hemmungen, sich mal um zwei, fünf oder sieben Jahre zu verjüngen. Selbst in seinen Pässen fummelte er am Geburtsjahr herum. Er kam damit stets durch alle Kontrollen, bis zwei Jahre vor seinem Tod ein – natürlich! – deutscher Grenzbeamter in München in seinem amerikanischen Pass die kleine Manipulation an der Endziffer des Geburtsjahrs entdeckte, durch die eine 3 in eine 8 verwandelt worden war. Ein deutscher Beamter konnte das natürlich nicht durchgehen lassen, und fast wäre der kleine alte Mann, der von seiner Freundin, der holländischen Malerin Sylvia Willink-Quiël, gestützt werden musste, als krimineller Urkundenfälscher festgenommen worden, hätte sie nicht durch gewaltige Überredungskünste und Bekundungen tiefster Reue den Grenzer so weit bringen können, dass er beide passieren ließ.
Kann man die Manipulationen am Geburtsjahr noch als eitlen Spleen abtun, so handelte es sich bei dem Vornamen Frieder bzw. Friedrich, den er sich ab etwa 1916 zulegte, doch um eine schwererwiegende Eigenmächtigkeit. Laut der am 25. Januar 1893 ausgefertigten Geburtsurkunde hatten ihm seine Eltern einen anderen Vornamen gegeben. Demnach war an diesem Tag der dem diensthabenden Standesbeamten Dröll „der Persönlichkeit nach“ bekannte „iraelitische Religionslehrer Isidor Weißmann, wohnhaft zu Langen, israelitischer Religion“ im Langener Rathaus erschienen und hatte zu Protokoll gegeben, „daß von der Auguste Weißmann, geborenen Löb, seiner Ehefrau, israelitischer Religion, wohnhaft bei ihm, zu Langen, in seiner Wohnung, am dreiundzwanzigsten Januar des Jahres tausend acht hundert neunzig und drei, Nachmittags um drei Uhr ein Kind männlichen Geschlechts geboren worden sei, welches den Vornamen Samuel, erhalten habe.“3
Den Vornamen Samuel wollte der neue Erdenbürger schon bald nach seiner Volljährigkeit nicht mehr beibehalten. Er hatte ihn zuvor auch kaum in der standesamtlichen Form, sondern meist in der Variante „Sem(m)y“ getragen. Zum „S.“ verkürzt, blieb er nach 1916 noch eine Weile als Mittelinitial bestehen, bis dieses um 1930 ganz verschwindet und gelegentlich einem dritten Vornamen „Peter“ Platz macht. Die Annahme des sehr „deutsch“ klingenden Vornamens Frieder war zweifellos eine Maske, die sich Weissmann in Zeiten wachsender antisemitischer Vorfälle zum eigenen Schutz aufsetzte, zum anderen aber auch eine Art Befreiungsschlag, der allen, die es anging, seine Emanzipation von dem Judentum, in dem er aufgewachsen war und das seine Eltern repräsentierten, signalisieren sollte.
Die Eltern: Isidor Ignatz Weissmann und Auguste Weissmann geb. Löb um 1935.
Die Eltern
Der Vater Isidor Weissmann stammte nicht aus Langen, sein Elternhaus stand auch nicht in Hessen oder in Deutschland, sondern in Klodawa, etwa achtzig Kilometer nordwestlich von Lodz. Heute der Woiwodschaft Großpolen zugeordnet, gehörte die Stadt damals mit ihren knapp 7.000 Einwohnern zu dem nach dem Wiener Kongress 1815 geschaffenen „Kongresspolen“, das zum Großteil aus dem früheren Herzogtum Warschau bestand. Von Beginn an durch Personalunion eng mit Russland verbunden, hatte „Kongresspolen“ 1832 nach einem gescheiterten Aufstand seine Autonomie verloren und war seitdem bis zum Untergang des Zarenreiches de facto ein russisches Protektorat oder „Gouvernement“. Die Bevölkerung von „Kongresspolen“ hatte infolgedessen nicht die polnische, sondern die russische Staatsbürgerschaft. Auch Isidor Ingnatz Weissmann – so sein voller Name – wurde ein Untertan des russischen Zaren, als er in Klodawa am 25. Januar 1863 geboren wurde.
In Klodawa gab es seit dem 15. Jahrhundert eine jüdische Gemeinde, die 1860 rund 600 Mitglieder hatte, darunter Isidor Weissmanns Vater Szmul Wajsman Wojtowicz, der in deutschen Dokumenten Samuel Weissmann heißt. Er entstammte keiner alteingesessenen Familie, sondern war aus Posen zugezogen. Sein Name taucht erstmals 1852 in Dokumenten der jüdischen Gemeinde Klodawa auf. Genannt wird der damals 41-jährige bei drei Ereignissen: der Geburt eines Sohnes Szlama Enuch und dem Tod einer Tochter Hanna sowie dem Tod seiner – möglicherweise im Kindbett verstorbenen – Ehefrau Ryfka. Aus der Ehe mit Ryfka ging noch ein weiterer Sohn Moziek Jeyec hervor, der 1856 verstarb. Szlama Enuchs weiteres Schicksal ist unbekannt.
Bereits 1853 war Samuel Weissmann eine zweite Ehe mit der vierundzwanzig Jahre jüngeren Brane Surah Neifeld eingegangen, die in deutschen Dokumenten Bertha Neufeld heißt und angeblich einer alten Rabbiner- und Gelehrtenfamilie entstammte. Aus dieser Ehe gingen sechs Kinder hervor, vier Söhne Lejzer (* 1856), Isidor Ignatz (* 1863), Moziek Aron (* 1866) und Jozek Dawid (* 1872) sowie zwei Töchter Estera Gitel (* 1858) und Gene Brama (* 1876). Während Lejzers und Gene Bramas weiteres Schicksal unbekannt ist, wissen wir, dass nicht nur Isidor, sondern auch die Geschwister Estera Gitel, Moziek Aron und Jozek Dawid heirateten.4 Samuel Weissmann starb 1877, seine Witwe Bertha geb. Neufeld lebte 1892, als Isidor heiratete, offenbar noch in Klodawa. Ihr weiteres Schicksal ist unbekannt.
Es waren eher einfache Verhältnisse, in denen die Weissmanns in Klodawa lebten. Aus Gemeindeunterlagen geht hervor, dass der um 1811 geborene Samuel Weissmann den Metzgerberuf ausübte, also zur Fleischversorgung Tiere nach den religionsgesetzlichen Vorschriften der koscheren Schächtung schlachtete. Möglicherweise diente er der jüdischen Gemeinde auch in der Funktion des Schächters, da er später das Amt des Kantors übernahm – eine Doppelfunktion, die in kleinen Gemeinden oft dieselbe Person ausübt.
Über Isidor Weissmanns Kindheit, Jugend und Ausbildung wissen wir nichts Genaues, doch ist anzunehmen, dass er eine höhere Schule besuchte, denn er beherrschte neben Deutsch und Russisch auch die französische Sprache. Spätestens nach dem Stimmbruch und der Herausbildung seiner klangvollen Bassbaritonstimme stand für ihn fest, dass er wie sein Vater Kantor werden würde. Auch sonst in musikalischer Hinsicht begabt, war er ein passabler Klavierspieler, der sich später sogar einen eigenen Flügel zulegte.5
Wohl Anfang der 1880er Jahre verließ Isidor Weissmann sein Elternhaus und seine Geburtsstadt Klodawa, um sein Glück in Deutschland zu suchen. Auslöser seines Entschlusses könnten die nach der fälschlicherweise Juden zugeschriebenen Ermordung des Zaren Alexander II. im März 1881 einsetzenden antijüdischen Repressalien und eine von Südrussland auch nach „Kongresspolen“ überschwappende Welle von Juden-Pogromen gewesen sein, in deren Folge eine regelrechte Massenflucht osteuropäischer Juden nach Westen einsetzte. Welchen Weg er einschlug und wo er in Deutschland Station machte, liegt im Dunkeln. Erst im März 1888 stoßen wir im Großherzogtum Hessen wieder auf seine Spuren und zwar in dem Dorf Erfelden, heute ein Ortsteil von Riedstadt im Kreis Groß-Gerau. Bei der dortigen jüdischen Gemeinde, der damals 50 der insgesamt 866 Dorfbewohner (5,8 Prozent) angehörten,6 versah Isidor Weissmann bis August 1889 die Ämter des Vorbeters und Religionslehrers. Als Religionslehrer bezog er dabei ein jährliches Gehalt von 244 Mark und 48 Pfennigen. Hinzu kamen 50 Mark für seine Dienste als Vorbeter. Außerdem musste ihm die Gemeinde pro Tag ein Kostgeld in Höhe von 70 Pfennigen zahlen. Gesondert abgerechnet wurden ferner gelegentliche „besondere Belohnungen“ für beispielsweise das „Vorlesen des Buchs Esther“ in Höhe von 2 Mark.7
Mit solch mageren Einkünften ließ sich freilich ein junger, gebildeter und aufstrebender Kantor nicht lange halten. Man hatte sich in Erfelden daran gewöhnt, dass die Kantoren in rascher Folge wechselten, und niemand war daher erstaunt, als Isidor Weissmann im September 1889 kündigte, um bei der jüdischen Gemeinde im dreißig Kilometer entfernten Langen die frei gewordene und mit einem jährlichen Gehalt von 600 Mark „bei bedeutendem Nebeneinkommen“ ausgestattete „Stelle eines Religionslehrers, Vorbeters u. Schächters“ zu übernehmen.8
In Langen hatten sich Juden schon im letzten Viertel des 17. Jahrhunderts niedergelassen. Ende des 19. Jahrhunderts zählte die Gemeinde achtzig Köpfe, was einem Bevölkerungsanteil von weniger als zwei Prozent entsprach. „Die Juden in Langen lebten allgemein in wirtschaftlich guten Verhältnissen und waren zum größten Teil angesehene Geschäftsleute.“9 Eine Synagoge konnte sich die Gemeinde erst Anfang des 20. Jahrhunderts leisten.10 Bis dahin begnügte man sich mit einem Betsaal in einem heute nicht mehr existierenden Gebäude (Borngasse 10) unweit des Ludwigsplatzes (heute Wilhelm-Leuschner-Platz), das der jüdischen Gemeinde gehörte. Diese besaß auch eine Religionsschule, ein rituelles Bad sowie seit 1876 einen eigenen Friedhof. Für die religiösen Aufgaben beschäftigte die Gemeinde einen Vorbeter bzw. Kantor, der zugleich als Religionslehrer und Schochet, d. h. als Schächter, fungierte. „Der Kantor, hebr. Chasan, ist der Vorbeter der Gemeinde. Er sollte eine gute Stimme haben, verheiratet, untadelig und vollkommen mit der Liturgie vertraut sein. Beim synagogalen Gottesdienst spielt der Kantor eine bedeutende Rolle. Er steht an einem Lesepult, das sich vor dem Toraschrein befindet. Von hier aus führt er durch den Gottesdienst. Bei den sehr langen Festtagsgottesdiensten teilen sich in den meisten Fällen zwei Kantoren diesen Dienst oder der Chasan wechselt sich mit dem Rabbiner ab. Größere und wohlhabende Gemeinden beschäftigen einen hauptberuflichen Kantor. Im Prinzip kann aber jedes fähige (männliche) Mitglied ab dreizehn Jahren gebeten werden, den Gottesdienst zu leiten. Der Kantor wirkt außer bei den Gottesdiensten bei allen Ereignissen mit, bei denen ein passender Gesang notwendig ist, wie bei Hochzeiten oder Beerdigungen.“11
1892 heiratete der mittlerweile 29jährige Isidor Weissmann die gerade volljährig gewordene Auguste Loeb (1871-1942). Sie stammte aus Monsheim, einem Dorf in der Nähe von Worms, das, heute in Rheinland-Pfalz gelegen, damals zu einem Gebiet gehörte, das „Rheinhessen“ genannt wurde und 1815 durch Beschluss des Wiener Kongresses dem (bis 1918 bestehenden) Großherzogtum Hessen zugeschlagen worden war. Die in Monsheim seit dem 18. Jahrhundert existierende jüdische Gemeinde zählte um 1890 knapp vierzig Mitglieder, was etwa vier Prozent der rund 900 Einwohner ausmachte.12 Eine der alteingesessenen jüdischen Familien war die Familie Löb, die sich seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts als Metzger und Viehhändler betätigte. Dies hatte auch der 1885 im Alter von 64 Jahren verstorbene Josef Loeb II. getan und zwar mit solchem Erfolg, dass er z. B. beim großen Viehmarkt in Grünstadt im September 1864 zwei „Ehrenpreise für Käufer von preiswürdigem Vieh“ erhielt.13 Josef Loeb II. war mit der Metzgertochter Johanna geb. Reinach (1834-1923) verheiratet, die aus dem pfälzischen Winzerdorf Essingen bei Landau stammte, wo sich Juden schon um die Mitte 16. Jahrhunderts niedergelassen hatten. Das Paar hatte sieben Kinder, zwei Söhne und fünf Töchter, von denen wohl nur der Sohn Ferdinand (1864-nach 1932), der das Metzgergeschäft weiterführte, und die Töchter Rosalie (1866-1918), Auguste (1871-1942) und Regina (1873-1942) das Erwachsenenalter erreichten.14 Da Rosalie bereits verheiratet war,15 sollte Auguste als nächste unter die Haube kommen. Isidor Weissmann war damit einverstanden, und so schloss er mit Auguste Löb den Bund fürs Leben.
Am 24. Oktober 1892 erschienen – laut Monsheimer Eheregister – der „israelitische Lehrer Isidor Weissmann, Sohn des verstorbenen Lehrers Samuel Weissmann, zuletzt wohnhaft zu Klodawa und seiner Ehefrau Bertha Weissmann geborene Neufeld wohnhaft zu Klodawa“ und die „Auguste Loeb, israelitischer Religion, Tochter des verstorbenen Metzgermeisters Josef Loeb des Zweiten, zuletzt wohnhaft zu Monsheim, und seiner Ehefrau Johanna Loeb, geborene Reinach wohnhaft zu Monsheim“ vor dem Monsheimer Standesbeamten Schäfer „zum Zwecke der Eheschließung“, bei welcher zwei Zeugen, der 28jährige Bruder der Braut, der Metzger Ferdinand Loeb aus Monsheim,16 und ihr 68jähriger Onkel, der Metzger Cornelius Mann (1825-1896) aus Pfiffligheim bei Worms,17 zugegen waren.18
Was das Monsheimer Eheregister nicht erwähnt, war die Tatsache, dass die Braut im sechsten Monat schwanger war. Eine sozusagen in letzter Minute erfolgte „Mussheirat“ war die Eheschließung wohl dennoch nicht. Höchstwahrscheinlich hatte eine – leider nicht überlieferte – Trauung des Paares nach jüdischem Ritus bereits sehr viel früher stattfgefunden. Im Judentum gilt nur das Paar als verheiratet, das die Ehe nach jüdischem Ritus geschlossen hat, indem es gemeinsam den Segen des Rabbiners unter dem Traubaldachin, der Chuppa, empfing. Eine zivile Trauung gilt aus jüdisch-religiöser Sicht nicht als Ehe...

Inhaltsverzeichnis

  1. Buch
  2. Autor
  3. Motto
  4. Widmung
  5. Inhaltsverzeichnis
  6. Vorwort
  7. Kapitel 1: Semy 1893-1916
  8. Kapitel 2: Debüt 1916-1920
  9. Kapitel 3: Bewährung 1921-1925
  10. Kapitel 4: Glück 1925-1929
  11. Kapitel 5: Erfolg 1930-1933
  12. Kapitel 6: Transit 1933-1939
  13. Kapitel 7: Amerika 1939-1958
  14. Kapitel 8: Europa 1953-1984
  15. Anhang
  16. Impressum