Ohne festen Job
"Beschäftigungsrekord" - den Nachrichtensprechern müsste das Wort im Halse stecken bleiben. Wir haben laut Deutschem Gewerkschaftsbund den größten Niedriglohnsektor in ganz Europa. Jeder fünfte Arbeitnehmer im reichen Deutschland ist laut DGB-Chef Reiner Hoffmann davon betroffen (der Mindestlohn ist nicht flächendeckend). Über siebeneinhalb Millionen Menschen sind auf staatliche Hilfe angewiesen. Adam Smith, der bekannteste Ökonom der Aufklärung, setzte zwar auf eine "unsichtbare Hand", die alles regelt. Die traurige Wahrheit ist: Sie zeigt immer mehr Menschen den Stinkefinger! Der amerikanische Politologe Benjamin Barber hat kurz vor der Jahrtausendwende davor gewarnt, dass neben dem religiösen oder nationalistisch geprägten Fundamentalismus der hemmungslose Turbo-Kapitalismus die zweite große Gefahr für Demokratien ist. Vermutlich kann man auch sagen: Letzterer begünstigt die beiden erstgenannten. "Noch nie war der Tanz um das goldene Kalb so entfesselt", behauptete Stéphane Hessel 93-jährig in seiner Streitschrift "Empört Euch!" Und auch ein liberaler Denker wie Ralf Dahrendorf kam 2009 zu dem Urteil, dass der Glaube, der Markt werde das regeln, sich unter den Politikern zum fundamentalistischen Irrglauben ausgewachsen hat. Der Terminus "freier Markt" ist eine Nebelkerze. Es gibt eine ungeheure Macht-Konzentration (die Big Five im Lebensmittel-Handel zum Beispiel beherrschen fast 90 % des Marktes).
Das duale Ausbildungssystem in Deutschland sei ein Erfolgsmodell, hört man immer wieder. Schön und gut, doch die Zahl der Zeitgenossen, die keinen unbefristeten Vollzeit-Job haben, ist binnen 20 Jahren von knapp viereinhalb Millionen auf über siebeneinhalb Millionen Menschen gestiegen (Stand 2013). Obwohl diese unsicheren Arbeitsverhältnisse nach und nach die Regel zu werden scheinen, nennt man sie noch immer "atypisch". Selbst Piloten erfasst diese Management-Tendenz mittlerweile (die Kostenstrukturen seien andernfalls nicht mehr konkurrenzfähig, so das Argument der Unternehmen, die die Verantwortlichen im Cockpit nötigen, als Ich-AG und zu schlechteren Konditionen den Flieger zu besteigen). Und dort, wo der geistige Zustand des Landes mit entschieden wird, an den Universitäten, erhalten viele Wissenschaftler nur einjährige Arbeitsverträge - das Etikett "Exzellenz" ist zumindest vor diesem Hintergrund Augenwischerei. Zeitarbeitsfirmen soweit das Auge reicht. Die Bereiche, in denen Schutzmechanismen wegfallen, werden größer, so Günther Warsewa, der Direktor des Instituts Arbeit und Wirtschaft an der Universität Bremen. Wenn Unternehmen sich nicht mehr an Arbeitskräfte binden wollen, nimmt deren Bindungs-Verlangen irgendwann ebenfalls ab und Flatterhaftigkeit wird auch in beruflichen Kontexten zum Gemütszustand einer Gesellschaft. Nur noch die Hälfte der Arbeitnehmer in Deutschland hat einen Tarifvertrag. Während einige wenige im Geld schwimmen, schwimmen einer immer größer werdenden Gruppe die Felle davon.
Katholiken und Protestanten in Deutschland haben 2014 in einer ökumenischen Sozialinitiative unter anderem verlangt: "Gemeinsame Verantwortung heißt, ordnungspolitische und ethische Maßstäbe für die Wirtschaft zu erneuern". Das Phänomen der Rekommunalisierung offenbart, dass dieser Wunsch nicht nur in Kirchenkreisen verbreitet ist. Dort, wo ein freier Markt herrscht, werden - darauf weist Nachhaltigkeits-Fachmann Jorgen Randers in seinem jüngsten Bericht an den Club of Rome hin - "Lösungen viel später, als es optimal wäre, auf den Weg gebracht". Regelmäßig erreichen den Bürger Meldungen über nächtliche Beratungen der Politiker, die Tatkraft suggerieren sollen ("17-stündige Verhandlungen in Brüssel"). Sie gaukeln diese nur vor.
Nicht zuletzt die Skandale in der Bankenbranche zeigen: Auch Deutschland braucht ein Unternehmensstrafrecht. Nur die Sorge vor einer Bestrafung der gesamten Firma kann dazu führen, dass die Moral nicht der Profitgier geopfert wird. Ein Unternehmensstrafrecht würde dem "ehrbaren Kaufmann" zu einer längst überfälligen Renaissance verhelfen. Ein früherer Steuerfahnder verlangt, dass Banken Gelder aus sittenwidrigen Geschäften einfrieren. Die Frage ist nur: Was ist heute noch allgemein anerkannt sittenwidrig? Der frühere Erfolgs-Reeder Niels Stolberg sagte als Angeklagter vor dem Bremer Landgericht Anfang 2016, solange die Banker ausgezeichnet verdienten, interessierten sie sich nicht für Regeln. Die Finanzkrise von 2007/2008 hat den deutschen Steuerzahler ca. 53,5 Milliarden Euro gekostet. "Die Feststellung, dass die Gewinne privatisiert und die Verluste sozialisiert werden, könnte als Überschrift über die letzten 20 Jahre geschrieben werden", bilanzierte Schriftsteller Ingo Schulze 2012. Dabei hatte der Ökonom Walter Eucken schon 1952 den Grundsatz empfohlen: "Wer den Nutzen hat, muss auch den Schaden tragen."
Vergangenheitsvergötzung entbehrt jeglicher Grundlage, wie Gerhard Henschel in seinem Buch "Menetekel" quellenvoll für die zurückliegenden 3000 Jahre belegt. Und doch gab es in den drei Nachkriegs-Dekaden, also nach 1945, in unseren Breitengraden Rahmenbedingungen, die den heutigen utilitaristisch betrachtet qualitativ überlegen waren. Man kann natürlich den Standpunkt vertreten, dass die Zeit zwischen 1950 und 1980 unrealistisch gerecht war. An dieser Stelle ist Genügsamkeit jedoch nicht empfehlenswert. Der Markt wurde gezügelt, soziale Reformen und kultureller Konservatismus prägten den Alltag. Der Staatsinterventionismus war - daran erinnern Gegenwartskritiker wie Colin Crouch oder Tony Judt - ein Grund dafür, dass in Kontinentaleuropa die Kluft zwischen reich und arm reduziert wurde (deshalb kam der Soziologe Karl Martin Bolte Mitte der 60er bei der Betrachtung der BRD-Sozialstruktur auf die Zwiebel). Auch Wirtschaftswunder-Ikone Ludwig Erhard meinte, die Verbindung zwischen Freiheit und Verantwortung bedürfe der Ordnung. Heute brauchen die Ärmeren trotz Vollzeitarbeit einen Zweitjob, während diejenigen, die von ihren Kapitaleinkünften leben, weniger Steuern zahlen als die zerfallende Mittelschicht (die sich so langsam fragt, warum man noch rechtschaffen sein soll). Nicht die, die ihr Geld für sich arbeiten lassen, brauchen mehr Netto vom Brutto, sondern die, die fünfmal die Woche (oder häufiger) ihre Geistes- und/ oder Körperkraft einsetzen. Ein Gärtner erzählte, seine Freundin verdiene für 32 Stunden wöchentliche Arbeit als Zahnarzthelferin 920 Euro netto. Von denen muss nicht nur sie leben, sondern auch ihr Kind. Um zum Arbeitsplatz zu kommen, braucht die Frau ein Auto. So stellen sich die Rahmenbedingungen der Menschen in unserem Land zunehmend dar. Die "relative Stabilität", die der US-Soziologe Richard Sennett vor einigen Jahrzehnten feststellte, ist passé. "Glücklichere Zeiten gab es in Deutschland nie!" Das hat Bundestagspräsident Norbert Lammert am 3. Oktober 2015 gesagt. Wie kommt er darauf? Laut Deutschem Gewerkschaftsbund haben die Fehlzeiten mit psychischer Ursache (von Arbeitnehmern generell) in den ersten zehn Jahren des neuen Jahrhunderts um 80 % zugenommen.
Ein "gelenkter Kapitalismus" scheint unvermeidbar, soll nicht auch bei uns die Gefahr von sozialen Unruhen wachsen, wie es die UN-Arbeitsorganisation ILO für diverse Staaten Europas diagnostiziert hat. Die Politik muss mehr als derzeit die Spielregeln festlegen. Wir haben es mit einem menschenfeindlichen Wirtschaftssystem zu tun, das Arbeitskräfte ausbeutet (hier zeigt sich die Janusköpfigkeit der Arbeitnehmerfreizügigkeit in Europa). "Qualität hat ihren Preis" heißt es. Doch wir erleben in fast allen Bereichen des täglichen Bedarfs einen Preiskampf nach unten. Wenn die Ware billiger wird, bekommen auch die Menschen, die sie herstellen, weniger Geld - eine fatale Spirale mit volkswirtschaftlichen und volkspsychologischen Folgen.
In seinem mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichneten Buch "Wem gehört die Zukunft?" weist Jaron Lanier darauf hin, dass eine starke Mittelschicht mehr als alles andere für Stabilität und Erfolg in einem Land sorgt. Der US-Politikwissenschaftler Francis Fukuyama, der nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion überzeugt war, liberale Demokratien hätten den Ideenwettbewerb der Geschichte für immer und ewig gewonnen, meinte 2012 in einem Interview mit dem "Spiegel": "Unsere westlichen Gesellschaftsmodelle geraten durch die Erosion der Mittelklasse massiv unter Druck." Die Bremer Arbeitnehmerkammer moniert, dass es immer weniger gut bezahlte Vollzeitarbeitsplätze in der Industrie gibt und immer mehr schlecht bezahlte Teilzeitjobs im Dienstleistungsbereich.
Unsichere und schlecht bezahlte Jobs und Eltern, die weder genügend Geld noch Zeit haben (alleinerziehende Arbeitnehmer!), um ihre Kinder zu selbstbewussten, rücksichtsvollen, fleißigen, friedfertigen und demokratisch orientierten Menschen zu erziehen - dieses Szenario greift um sich. Die Vorbilder findet der Nachwuchs daher in Computerspielen und Filmen (ob im Fernseher oder www). Und diese Helden sind - auch das ist Fakt - überwiegend gewaltbereite Einzelgänger. Wenn dann auch noch die personelle Ausstattung der Kindergärten und Schulen mangelhaft ist und Krankenhäuser sowie Pflegeheime ausschließlich nach ökonomischen Prinzipien geführt werden, darf man sich nicht über gravierende soziale Probleme wundern. Vermarktlichung nahezu aller Wertschöpfungsprozesse bedeutet eben auch omnipräsente Kurzfristigkeit.
Die bundesweite Armutsgefährdungsquote lag 2014 bei 16,7 %. Der Paritätische spricht im Unterschied zum Statistischen Bundesamt nicht von Gefährdung, sondern von tatsächlicher Armut, die 12,5 Millionen Menschen betrifft. Die unfreiwillige Kundschaft der Tafeln wächst. Jens Berger verweist in seinem Buch "Wem gehört Deutschland?" darauf, dass die 16 reichsten Deutschen über das gleiche Vermögen verfügen wie die 20 Millionen Haushalte am unteren Ende der Skala. Den reichsten 0,1 % der Deutschen gehört fast 1/4 des Privatvermögens. "VIP-Logen-Gesellschaft" nennt der Philosoph Michael J. Sandel das aktuelle Auseinanderdriften. Pegida spalte, heißt es nachvollziehbarerweise. Die Protestbewegung ist aber zunächst einmal eine Reaktion auf die Spaltung in unserem Land (dass dort Leute mit marschieren, die unerträgliche Meinungen artikulieren, steht außer Frage, die große Mehrheit ist aber nicht gegen das Demokratie-Prinzip, wie eine Anfang 2016 veröffentlichte Studie der TU Dresden ergab). Die Ungleichheit im freiheitlichen System wiegt bald so schwer wie die Unfreiheit im auf Gleichheit bedachten System, das es seit 1990 nicht mehr gibt. Der frühere Generalsekretär der CDU und Gesundheits- und Familienminister im ersten Kabinett Kohl, Heiner Geißler sagt: "Wir haben Geld wie Dreck. Es haben nur die falschen Leute!" Den Spitzensteuersatz hat mit Gerhard Schröder übrigens ein sozialdemokratischer Kanzler reduziert. Sein Genosse Peer Steinbrück hat 2002 erstmals die "Fliehkräfte" in unserer Gesellschaft kritisiert.
Wenn man Managergehälter begrenzt, muss man auch die zum Teil astronomischen Fußballer-Einkünfte deckeln (in der Saison 1993/94 zahlte ein Verein der ersten Bundesliga im Durchschnitt seinen Spielern zusammen zehneinhalb Millionen Mark, 2015/16 waren es fast 50 Millionen Euro). Eine höhere Belastung der besonders Wohlhabenden ist jedenfalls unvermeidbar. Das empfiehlt nicht nur Wirtschafts-Nobelpreisträger Joseph Stiglitz, sondern auch das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung: "Unter Gesichtspunkten der inter- und intragenerativen Steuergerechtigkeit spricht einiges für vermögensbezogene Abgaben, um übermäßige Staatsschulden zu reduzieren." Die entsprechenden Instrumente könnten laut DIW "auch dann noch ein erhebliches Aufkommen erzielen, wenn man durch höhere Freibeträge den Großteil der Bevölkerung freistellt." Autorin Julia Friedrichs macht darauf aufmerksam, dass in unserem Land jedes Jahr rund 250 Milliarden Euro vererbt werden. "Anstrengungsloser Wohlstand", wie Sozialforscher Christoph Butterwegge ergänzt.
Deutschland sorgt sogar für eine Expansion des Neoliberalismus, dieser "politischen Zivilreligion", wie Butterwegge es nennt. Wenn eine demokratisch gewählte linke Regierung wie in Griechenland versucht, von Oligarchen ausstehende Steuern einzutreiben (nach Angaben des deutsch-griechischen Politikers Jorgo Chatzimarkakis handelte es sich im Frühling 2015 um 76 Milliarden Euro), kann sie nicht mit der Unterstützung ihrer Kreditgeber rechnen. EU, EZB und IWF verlangen stattdessen, den Mindestlohn zu reduzieren, den Kündigungsschutz zu lockern und Staatsbetriebe zu privatisieren (auf dass deutsche Unternehmen zuschnappen können). Austerität geht in erster Linie zu Lasten von Otto-Normal-Verdiener. Nicht die Ausgaben müssen reduziert, sondern die Einnahmen erhöht werden.
Natürlich sind die neoliberalen Demokratien ein kleineres Übel als die sozialistischen Diktaturen. Ein Übel sind sie trotzdem. Der real existiert habende Sozialismus hat die Gier der Masse in Schach gehalten, während die Mächtigen ihr frönten. Der individualistische Neoliberalismus sagt: "Was die können, darfst du auch - selbst wenn es nicht mit rechten Dingen zugeht!". Die Reichen müssen mehr abgeben ("UMfairTEILEN"), aber diejenigen, die am Rande stehen, müssen ebenfalls bereit sein, sich für diese Gesellschaft einzubringen. Eigentlich will der Mensch gebraucht werden, sich nützlich fühlen. Einer Sache zu dienen, bringe Erlösung vom ewigen Suchen nach sich selbst, schrieb der Soziologe Max Weber 1915 in einem Brief an seine Mutter. Das Solidarprinzip impliziert Reziprozität. Es kann nicht sein, dass das Bremer Jobcenter unter 23.000 Hartz IV-Empfängern keine acht Personen findet, die Interesse an einem Job in der Pflege haben. Ein Projekt, dessen Finanzierung geregelt war, scheiterte deshalb. Wer auf ein bedingungsloses Grundeinkommen setzt, ist genauso asozial wie ein wohlhabender Kapitalist, der Steuerflucht begeht. Und wer meint, trotz sehr geringen Gehalts sich immer die neuesten technischen Produkte kaufen zu müssen, weil das in 33 monatlichen Raten und ohne Zinsen gar nicht so teuer wirkt, der macht sich zu einem kleinen Rädchen einer Konjunktur auf Pump, von der am Ende nur andere profitieren. Dass der European Consumer Payment Report 2015 zu dem Ergebnis kommt, dass 23 % der Deutschen befürchten, dass ihr Geld bis zum Monatsende nicht reicht, hat sicher zum Teil auch mit unnötigen Ausgaben zu tun.
Im perfekten Staat, wie ihn sich Vaclav Havel erträumte, der Mann, der in der CSSR vom Staatsfeind Nr.1 zum Staatsmann Nr.1 wurde, würde Kultur schwerer wiegen als Wirtschaft. Diese Hoffnung muss man angesichts der bisherigen Geschichte als illusorisch bezeichnen. Man wird aber erwarten dürfen, dass sich die Politik nicht von der Wirtschaft am Nasenring durch die Manege ziehen lässt, wie Colin Crouch allerorten beobachtet: "Ob Konservative, Sozialdemokraten oder Grüne - Politiker aller Parteien betrachten sich als Getriebene in einem vom global agierenden Kapital dominierten Machtspiel." Der Bundesfinanzminister warnt davor, dass die Märkte das Vertrauen in die handelnden Personen verlieren, statt die die Märkte prägenden Akteure davor zu warnen, dass die Politik das Vertrauen in sie verliert! Man gibt sich mit der eigenen Zahnlosigkeit zufrieden. Handelsabkommen, die Konzernen erlauben, Regierungen zu verklagen, sind der Bevölkerung nicht vermittelbar. Und wenn Energiekonzerne eine Entschädigung aus Steuergeldern erhalten, weil ihre Kohlekraftwerke abgeschaltet werden, obwohl der zuständige Minister zuvor von einer Zwangsabgabe der Firmen für alte Meiler gesprochen hat, dann darf man sich nicht über wachsenden Verdruss des Wählers wundern. Wenn Spitzenpolitiker von jetzt auf gleich Spitzenpositionen in der Wirtschaft übernehmen, ebenfalls nicht (die Zahl der Lobbyisten mit Zugang zum Bundestag ist vierstellig). Die Konstellation, dass der Kontrollierte die Kontrolleure bezahlt, ist ein weiteres No-Go.
Dringend ändern muss sich etwas an den exorbitanten Schulden von Bund, Ländern und Kommunen (Mitte 2015 waren es exakt 2025 Milliarden Euro). Nur dann sind lobenswerte Vorhaben wie aus dem Bundesverkehrsministerium, im Zusammenhang mit Großprojekten den Auftrag nicht mehr an den billigsten, sondern den besten Bewerber zu vergeben, glaubhaft. Wenn selbst ein Geldinstitut (die Sparkasse) in einem Kundenbrief schreibt, dass die westlichen Industrienationen an der Grenze der tragbaren Staatsverschuldung angekommen zu sein scheinen, sollte das nachdenklich stimmen (Dezember 2015). Bremen, obwohl fünftgrößter Industriestandort der Republik das Bundesland mit der höchsten Pro-Kopf-Verschuldung, zahlt jedes Jahr alleine 600 Millionen Euro an Zinsen. Diese Tatsache beeinflusst verständlicherweise die Denke der politisch Verantwortlichen bezüglich der Verpflichtung von Lehrern, Krankenschwestern und Polizisten. Immer mehr Kommunen können kaum noch die Daseinsvorsorge garantieren - Schulen und Straßen werden nicht saniert, Schwimmbäder geschlossen. So verrückt es auf den ersten Blick scheinen mag: Vielleicht sollte die Politik auch mal mit den inländischen Gläubigern über einen Schuldenschnitt für unsere Kommunen sprechen. Philosophie-Professor Dieter Thomä jedenfalls empfiehlt: "Lange Zeit waren radikale Gedanken und Taten als realitätsfremd verschrien. Statt dessen sollte man die sogenannte Realitätspolitik an den Pranger stellen." Wenn der Finanzminister sich über einen Haushaltsüberschuss von 12,1 Milliarden Euro freut, das Geld aber komplett in eine Rücklage zur Finanzierung der Flüchtlingsunterbringung und - betreuung stecken will, kann er - ungeachtet des "humanitären Imperativs" - nicht nur mit Beifall des Wahlvolks rechnen (selbst von den Parteifreunden kommt in diesem Fall nicht ausschließlich Zustimmung).
Dienstleistungen am Menschen (das beginnt bei den Familienhebammen, die sich weit über die Geburt hinaus im Nahkampf mit so genannten Multiproblemfamilien befinden) müssen signifikant aufgewertet werden, und zwar nicht nur imagemäßig, sondern auch in monetärer Hinsicht. Niedersachsens Sozialministerin Cornelia Rundt meint mit Recht, es könne nicht sein, dass wir für die Arbeit an und mit Maschinen mehr bezahlen. Der Verhandlungsführer der kommunalen Arbeitgeber lehnt eine deutliche Lohnsteigerung für Erzieherinnen ab ...