Der Narr in Christo Emanuel Quint
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Der Narr in Christo Emanuel Quint

  1. 497 Seiten
  2. German
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Der Narr in Christo Emanuel Quint

Über dieses Buch

Gerhart Johann Robert Hauptmann (geboren 15. November 1862 in Ober Salzbrunn (Szczawno-Zdrój) in Schlesien; gestorben 6. Juni 1946 in Agnetendorf (Agnieszków) in Schlesien) war ein deutscher Dramatiker und Schriftsteller. Er gilt als der bedeutendste deutsche Vertreter des Naturalismus, hat aber auch andere Stilrichtungen in sein Schaffen integriert. 1912 erhielt er den Nobelpreis für Literatur.

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Information

Fünftes Kapitel

Man hat erlebt, wie ein gewisser Wahnsinn wie Brand oder Meltau im Korn oder wie physische Ansteckung in weiten Distrikten um sich greift, und so hatte auch hier in dieser entlegenen Gegend sich bald das Gerücht verbreitet, daß, wenn nicht der Heiland selbst, so zum mindesten ein Apostel, wenn kein Apostel, so doch mindestens ein heiliger Mann, wenn kein heiliger Mann, so doch mindestens ein Wunderdoktor erschienen wäre – und so fand Emanuel am dritten Morgen das Haus von einem Gewimmel bresthafter Menschen umlagert. Um das aber glaubhaft zu finden, muß man in Rücksicht ziehen, welche Bedeutung der Laienarzt, der Schäfer, die weise Frau mit den Sympathiemitteln noch immer im Bereich des gemeinen Mannes hat.
Zufälligerweise war es der erste Pfingstfeiertag, der die Versammlung so vieler lahmer und blinder, hustender, fiebernder und ächzender Menschen sah. Es waren Männer wie Weiber, Kinder, Leute bei guten Jahren und Greise darunter. Die Sonne schien warm auf das kahle, steinige Feld herab, und da Martha, die den seltsamen Zustrom zuerst bemerkte, die an sich nicht ungeduldigen Leute ruhig zu warten veranlaßt hatte, saßen sie ganz gesittet auf den zerstreuten Blöcken Granits umher und harrten des wundertätigen Arztes.
Es führte aber in nächster Nähe einer jener Pfade vorbei, die angelegt sind, um wanderlustigen Bewohnern der Täler und Ebenen, Städte und Dörfer die herrliche Bergwelt zu erschließen, und heute, als am ersten Pfingstfeiertage, waren alle diese Pfade schon früh von heiteren, frühlings- und wanderfrohen Menschen belebt. Einige dieser Leute blieben nun auf dem nahen Wege verwundert stehen, um das seltsame Lager zu betrachten. Nach einiger Zeit bemerkten sie, wie jemand aus der windschiefen Hütte ins Freie trat, und gleich darauf eine allgemeine Bewegung unter den Wartenden.
Emanuel Quint hatte mit äußerer Ruhe und heimlichem Herzklopfen durchs Fenster die Menge der Hilfebedürftigen wahrgenommen und schließlich den Weber Schubert hinausgesandt, damit er den Leuten sagen sollte, Quint sei nur ein armer Mann wie sie und durchaus nichts weniger als etwa ein Wundertäter. Und als nun die Leute den ihnen bekannten Weber umringten, tat er, wie ihm befohlen war, aber doch nicht auf eine so überzeugende Art, daß es den festen Glauben der ihn Bestürmenden irgend beirrt hätte. Sie traten vielmehr in dichten Schwärmen bis an die Fenster des Hauses heran: Weiber hoben mit viel Geschrei ihre Säuglinge vor die Scheiben, Männer zeigten ihr hinkendes Bein, und viele Zeigefinger waren gleichzeitig auf die Augen von Blinden gerichtet, deren Heilung zugleich mit wilden Schreien erbeten ward.
Da trat der Narr mit einem stillen und festen Entschluß plötzlich in den Andrang der Mühseligen und Beladenen mutig hinaus, die sogleich die Falten seines zerschlissenen Rockes sowie seine Hände und nackten Füße mit Küssen bedeckten. Die Fremden sahen, wie der lange, groteske Mensch eine Zeitlang hilflos wie auf einer Woge des Elends schwamm. Dann aber gelang es den Brüdern Scharf, einen Raum zwischen ihrem Idol und der sinnlosen Menge frei zu machen. Es war nun für Quint kein anderer Ausweg möglich, als daß er mit lauter Stimme das Wort ergriff und zu der ganzen Versammlung redete.
Was aber der Inhalt seiner Predigt war, wird von denen, die sie gehört haben wollen, nicht einhellig dargestellt. Auch mengte der Narr im Feuer des Augenblicks wohl allerlei widersprechende Dinge zusammen, wie sie aus eigenem Denken und Bibelerinnerungen auf seiner Zunge zusammenströmten. »Was seid ihr gekommen zu sehen?« fing er etwa zu rufen an. »Wollt ihr einen Arzt sehen? Ich bin ein Kranker und nicht ein Arzt! Wollt ihr einen Menschen in schönen Kleidern sehen? In besseren Kleidern, als jene sind, die eure kranken Glieder bedecken? Wahrlich, ich bin so schlecht bekleidet wie ihr. Die aber in guten und weichen Kleidern gehen, wohnen geruhig in ihren Palästen! Wollt ihr einen Propheten sehen, der die Sünden der Welt verflucht? Ich bin nicht gekommen, um zu verfluchen! Wollt ihr einen Menschen sehen, der mehr ist denn ihr: ein Meister der Kunst, ein Meister der Schrift? Wisset, ich bin ganz ungelehrt und bin weniger denn ihr! Ich kann weder Kranke heilen noch Tote erwecken, außer von geistlicher Krankheit und geistlicher Not, und wenn ihr dergleichen wünscht und erbittet, so wird euch vielleicht geholfen sein. Ich habe eine Taufe empfangen, eine Taufe mit Wasser! Ich aber kann nicht mit Wasser taufen, meine Taufe geschieht durch den Geist.« – Die Brüder Scharf und den Weber Schubert anblickend, fuhr er fort: »Des Menschen Sohn ist nicht in die Welt gekommen, die Seelen der Menschen zu vernichten. Er ist auch nicht in die Welt gekommen, das Joch von diesen Schultern auf jene, die Last vom Rücken der Guten auf die Rücken der Bösen zu tun, sondern er selber will alle Lasten auf sich nehmen. Wer Ohren hat zu hören, der höre: Jesus der Heiland, ihr nennt ihn wahrhaftig mit Fug den Gottessohn. Gott aber ist Geist! Jesus ward aus dem Geist geboren! Es sei ferne von uns und von euch, etwa anzunehmen, Gott sei ein Leib und es habe ein irdischer Leib seinen leiblichen Sohn hervorgebracht. Was aus dem Geist geboren ist, das ist Geist. Tretet in die Geburt des Geistes, so seid ihr in der Wiedergeburt! Geist ist der Vater, Geist der Sohn, und auch ich bin vom Geist wiedergeboren! Wohlan, ich zögere nicht, euch dies zu verkünden: wer aus dem Geiste wiedergeboren ist, der ist Gottes Sohn. Ich bin Gottes Sohn, so verstanden. Aber auch ihr: ein jeder von euch kann durch die Wiedergeburt eben das werden, was ich bin, ihr alle könnt Gottes Kinder werden.«
Im Innern der Hütte hatten das kranke Weib und die kleine Martha durchs offene Fenster die Predigt des blinden Blindenleiters mit angehört und hatten sie ebensowenig verstanden als irgendeiner unter denen, die ihr dort draußen andächtig zuhörten. Sie hatten, vom Klange der lauten und innigen Stimme Emanuels ergriffen und aufgeregt, der Worte wenig geachtet, die er hervorbrachte, noch weniger ahnten sie etwas von ihrem Zusammenhang. Alle, und auch die Brüder Scharf, fanden sich nur an das, was sie aus der Bibel wußten und kannten, erinnert, und diese, die Brüder, lebten durchaus nur in ihrem eigenen Wahn, den sie durch das gefährliche Wort Emanuels: »Ich bin Gottes Sohn« auf unerhörte Weise bestätigt fanden. Wie Quint, das heißt, in welchem Sinne er eine Gotteskindschaft behauptet hatte, vermochten sie nicht in Rücksicht zu ziehen.
Als Quint seine Predigt beendet hatte, stürmte die Menge heulend und flehend auf ihn ein, einer immer den andern zurückstoßend. Der Blinde ward zum Stolpern gebracht. Säuglinge schrien, während die Mütter unflätig aufeinander loskeiften. Nahe vor den Augen des Narren fuchtelten Stümpfe von Armen, verkrüppelte Hände, Stöcke und Krücken minutenlang; es begann ein entsetzliches Katzbalgen, wobei das immer wieder versuchte Zurschaustellen ekelhafter Gebresten besonders entsetzlich zu sehen war. Der Narr erschrak. Was waren hier Worte?
Nachdem er eine Zeitlang vergebens versucht hatte, Ordnung in die entfesselte Menge zu bringen, zog er sich in die Hütte zurück, wo er aber von der Frau seines Wirtes auf eine Weise empfangen wurde, die ihn noch mehr als der Ansturm der Menge hilflos fand. Mitten im Zimmer kniete das Weib. Sie hob die Arme empor und betete. Sie sah ihn, Gebete murmelnd, mit irrsinnig leuchtenden, gläubigen Augen an, während Martha mit zitternden Lippen am Ofen stand und sichtlich ergriffen die Hände faltete. Bei alledem fühlte der Narr eine schwere Verwirrung in sich aufsteigen, verbunden mit einer Versuchung, die schwerer als irgendeine der früheren war. Um ihn her erhob sich ein Wahn, der, einem gewaltigen, aus der Erde dringenden Sturme gleich, etwas Unwiderstehliches an sich hatte. Es wuchs eine schreckliche Macht um ihn, von der er nicht wußte, ob er sie selbst oder wer sonst sie entfesselt hatte, eine Glaubensgewalt, die ihn, wie die Welle eines Bergbachs das dünne Reis, erhob und unaufhaltsam mit sich riß. Nun, wird man sagen, er war ein Narr, und also nahm er sich wohl ohne erheblichen Widerstand für das, wofür ihn die Leute in ihrer Torheit hielten: nämlich, wenn nicht für Gottes Sohn, so doch für einen mit übermenschlichen Kräften ausgestatteten Wundermann. – Gewiß, er faßte sich an die Stirn, er stellte sich in der Stille Fragen, ob er nicht etwa wirklich mehr, als er selber wisse, sei: aber dann stieß er doch mutig alles aus dem Bereich seines Geistes hinaus, was ihn zu einem überheblichen Selbstbewußtsein bereden wollte.
Und also wandte er sich mit Schmerzen, wenn nicht mit Abscheu, von dem fast nackten Körper zu seinen Füßen und den verzückten Blicken ab, die ihn lästerlich anbeteten, und entfernte sich durch die Hintertüre des kleinen Hauses eiligen Schrittes, fluchtartig über die Bergwiesen, so daß er der lärmenden Menge und denen im Haus, die nach ihm suchten, plötzlich unauffindbar entschwunden blieb.
Zwei junge Männer, jugendliche Touristen, hatten Emanuel Quint davonlaufen sehen und waren ihm, da sie von allem, was sie erblickt und gehört hatten, wie durch etwas ungeheuer Abenteuerliches sich berührt fanden, nachgefolgt. In ziemlicher Ferne gelang es den beiden, ihn einzuholen. Sie grüßten freundlich und sprachen ihn an.
Es waren zwei Brüder Hassenpflug aus dem Münsterschen, zwei »Zigeuner«, im Anfang der zwanziger Jahre stehend, die meist von geborgten Groschen lebten, in Berlin eine Zeitschrift herausgaben, die niemand las, kurz: Schwärmer, Dichter und Sozialisten. Sie sahen in Quint einen guten Fang.
Die Menge Fragen, mit denen sie ihn im Anfang belästigten, ließ er, sie dagegen nur groß und forschend betrachtend, vorübergehen. Es wäre ihm auch meist nicht leicht geworden zu antworten. Was war zum Beispiel ein Sozialist? Er wußte nicht, ob er ein Sozialist wäre!
Er hatte auch nichts von Anarchismus und russischem Nihilismus gehört. Auch nichts von einem Buche des Herrn von Egidy: »Ernste Gedanken«. Zuweilen überzog, aus Scham über seine Unwissenheit, dunkle Röte sein Angesicht.
Aber nachdem alle drei eine halbe Stunde und länger in der dünnen Luft der Kammhöhe miteinander gewandert waren, hatte sich zwischen ihnen eine Art von Vertraulichkeit erzeugt. Mit lebhafter Neugier erkannte Quint in dem, was seine Begleiter nach und nach auf eine sektiererisch eifrige Weise vorbrachten, eine ihm völlig neue Welt, die er mit hungrigem Geiste auffaßte und mit scharfem Blick zu durchdringen sich Mühe gab.
Das äußere Wesen der Brüder Hassenpflug behagte ihm nicht. Der eine und ältere von den beiden gefiel sich in einer spöttischen Lustigkeit, womit er die Äußerungen des jüngeren Bruders meist begleitete. Wenn dieser von Freiheit, von Recht auf Glückseligkeit, von einem allgemein harmonischen und sorgenlosen Dasein sprach, von der künftigen Vollkommenheit, zu der sich der Mensch entfalten würde, so hatte Quint den peinlichen Eindruck, der andere sei völlig beherrscht von Unglauben und bezweifle alles das. Aber wodurch die drei auf gleichem Boden standen, das war ihre Jugend, war die Liebe zu einer unbekannten und erst noch zu erobernden, wirklichen Welt, in die sie hineingesetzt waren und die den zur Mannesreife langsam erwachenden Jünglingen nun nach und nach ihre Wunder erschloß.
Seltsam, wie sehr der Geist einer geweckten Jugend in diesen Lebensaltern sich außer- und überweltlich dünkt und doch mit jeder Regung im Irdischen wurzelt. Sie selber zwar wußten nicht, wie über jeden Begriff köstlich und herrlich die Welt ihnen erschien, und würden, hätte man ihnen das vorgestellt, geleugnet haben. Die Brüder Hassenpflug hätten sicherlich Schopenhauer zitiert und mit Marx und Engels Kritik geübt an den verrotteten menschlichen Zuständen. Sie hätten vielleicht mit Bellamy oder anderen hingewiesen auf einen sozialistischen Zukunftsstaat, auf zu erstrebende paradiesische Zustände, ohne zu ahnen, daß irgendein höheres Glück sich auszudenken als das der Jugend, in der sie lebten, ihnen unmöglich gewesen wäre.
Emanuel Quint, der unter Verachtung, Not und Entbehrung ganz anders als seine Begleiter gelitten hatte und älter war, stand doch, wie diese, in einem schäumenden Jugendrausch. Und wenn wir den ganzen Ernst seines sonderbaren Geschicks und den fest bestimmten kurzen Weg seines arg verfehlten Lebens bis an sein Ende in Rücksicht ziehen, so müssen wir dennoch sagen, es war der Reichtum an junger, überwallender Liebe, den auszugießen, und sei es mit seinem Blute zugleich, unstillbar heißes Verlangen ihn zwang.
Als Karl, der jüngere Hassenpflug, die Bemerkung gemacht hatte, wie er dem eigentümlich würdevollen Wesen des Narren nur selten eine karge Äußerung abringen konnte, gab er sich seine Antworten selbst. Und so erfuhr Emanuel Quint nach und nach etwa dieses:
Es habe sich, und zwar in fast allen Ländern der Erde, die ganz bestimmte Überzeugung verbreitet, die ungerechte Gesellschaftsordnung, wo ein kleiner Teil der genießende, der weitaus größere aber der leidende sei, stehe unmittelbar vor dem Untergang. Auch ihm sei keineswegs zweifelhaft, daß die große soziale Revolution in kurzer Zeit, die vielleicht nur nach Monaten zähle, bestimmt zu erwarten sei. Der vierte Stand, der Stand der Arbeiter, der Stand der sogenannten Proletarier, werde die Revolution hervorrufen. Er bilde bereits durch fast alle Staaten des Erdballs hindurch eine große Partei. Der Wahlspruch dieser Partei aber heiße: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Sie werde, sobald sie zur Herrschaft gelange, zunächst einen schlimmen Götzen zertrümmern: nämlich den Moloch des Kapitals! und die Folge davon werde diese sein: daß jeder die Frucht seiner redlichen Arbeit genießen, statt sie durch Räuberhände der Reichen einbüßen werde.
Dieser große Augenblick der Befreiung werde die Folge eines natürlichen sozialen Prozesses sein, eine Art Zerfall der modernen Gesellschaft, naturgemäß, wie eine überreife Frucht verfault und zerfällt. Nun gäbe es aber Leute, die wollten nicht warten, und diese arbeiteten mit gewaltsamen Mitteln, Revolver und Dynamit, auf das Ende hin. In diesen Leuten, sagte Karl Hassenpflug, nehme die Wut des Unterdrückten entsetzliche Formen an. Ihr Wahlspruch laute: Krieg bis aufs Messer! Der Ordnungsbestie kein Pardon! Und er las Emanuel Quint einen anarchistischen Aufruf vor, der förmlich vom blutigen Atem der Rachsucht rauchte.
In diesem Aufruf, der die Hinrichtung eines Anarchisten auf der Place de la Roquette zu Paris als Mittel zur Aufreizung verwertete, wurden die Vertreter der gesetzlichen Mächte Ordnungsbande, Schweinebande, Hunde- und Mörderbande, Halunken und Schufte genannt, so daß, mit diesen Ausbrüchen verglichen, dem Narren die feindlichen Äußerungen der Brüder Scharf gegen die Wohlhabenden und Besitzenden wie ein lindes Säuseln der Güte erschienen. Aber ihn kam ein Grausen an. Und indem er sich ruhig dem Sprecher zuwandte, sagte er, so daß es die Brüder Hassenpflug wie etwas unendlich Naives berührte: »So gewiß ich ein Armer unter den Armen bin, diese sind ferne vom Gottesreich.«
Von nun an waren die Brüder bemüht, den originellen Landstreicher nach seinen geheimen Marotten auszuforschen. Sie waren ungeheuer erstaunt gewesen, bei einer Pfingstwanderung auf einen solchen Menschen und einen Vorgang zu stoßen, der wie aus dem Neuen Testamente herausgenommen erschien. Sie wußten recht gut, wie überhaupt die Kreise der jugendlich Intellektuellen von damals es wußten, daß im Volke der Mutterboden für alles ursprünglich Junge und Neue ist. Und hier, in einer Gegend, die, von den großen Verkehrswegen des neuen Eurasiens abgelegen, fremd für sie war, trat ihnen überall ein ganz unberührtes Volkstum entgegen. Sie gehörten zu jenen, denen die europäische Einheitsbildung Verflachung war. Mit Spannung aber und Wissensdurst suchten sie überall in das abgeschlossene Kastenbereich der niederen Stände einzudringen, als müßten dort Quellen der Offenbarung fließen, die im Bereiche des kultivierten Geistes versiegt waren.
Sie brachten nun das Gespräch auf ein anderes Gebiet. Sie sagten sich, weil dieser Mensch einen solchen Zulauf von Kranken hatte, so müsse ein Wundertäterwahn oder der hypochondrische Glaube an irgendein Heilmittel, das er vielleicht ererbt hatte, in ihm sein. Aber sein Vater war nicht Schäfer gewesen, noch hatte er irgendein Büchelchen mit Rezepten geerbt, vielmehr hörte man hinter den wenigen, schlichten Worten, die er sprach, nur immer wieder die Blätter des Buches der Bücher rauschen. Und es war nicht die Rede von irgendeiner wenn auch noch so geringen therapeutischen Einbildung.
Er sagte: »Ich habe nichts mit den Leiden des Körpers zu schaffen. Wessen Körper leidet, den mache ich nicht gesund. Wessen Körper gestorben ist, den kann ich nicht aufwecken; ich bin nur ein Arzt der Seele, die nie stirbt. Ich sehe, die Menschen leiden Not. Ich sehe, sie wollen die Not überwinden. Ich kenne die Hoffnung, von der sie zehren, auf endliche Überwindung der Lebensnot. Ich selbst bin in Not. Ich weiß auch, wie bitter es ist, das tägliche Brot zu entbehren, Hunger zu leiden. Aber der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern er lebt von solchen Worten, die durch den Mund Gottes gegangen sind. Ihr sagt«, fuhr er fort, »daß die Arbeiter auf der ganzen Erde einen Zustand erstreben und nahe voraussehen, wo jeder die Frucht seiner Arbeit genießen wird. Ich aber sage: genießet jetzt, genießet in jedem Augenblick das lebendig...

Inhaltsverzeichnis

  1. Erstes Kapitel
  2. Zweites Kapitel
  3. Drittes Kapitel
  4. Viertes Kapitel
  5. Fünftes Kapitel
  6. Sechstes Kapitel
  7. Siebentes Kapitel
  8. Achtes Kapitel
  9. Neuntes Kapitel
  10. Zehntes Kapitel
  11. Elftes Kapitel
  12. Zwölftes Kapitel
  13. Dreizehntes Kapitel
  14. Vierzehntes Kapitel
  15. Fünfzehntes Kapitel
  16. Sechzehntes Kapitel
  17. Siebzehntes Kapitel
  18. Achtzehntes Kapitel
  19. Neunzehntes Kapitel
  20. Zwanzigstes Kapitel
  21. Einundzwanzigstes Kapitel
  22. Zweiundzwanzigstes Kapitel
  23. Dreiundzwanzigstes Kapitel
  24. Vierundzwanzigstes Kapitel
  25. Fünfundzwanzigstes Kapitel
  26. Sechsundzwanzigstes Kapitel
  27. Siebenundzwanzigstes Kapitel
  28. Achtundzwanzigstes Kapitel
  29. Neunundzwanzigstes Kapitel
  30. Dreißigstes Kapitel
  31. Impressum