„Das gibt’s doch nicht!! Du verdammter Bengel! Wie oft soll ich dir das noch sagen, hm??!!“ Mein Vater stand im Flur mir gegenüber. Es war zehn nach 18 Uhr. Ich hatte nicht damit gerechnet, das er so früh zurück kam. Ich ging gerade von der Küche ins Wohnzimmer, nur mit Windel an, und da kam er zur Tür rein. Er hatte mich völlig überrascht. Wütend kam er auf mich zu, packte meine rechte Hand und sah meinen verschrumpelten Daumen. Wieder war er fast den ganzen Tag im Mund. „Und genuckelt hast du auch wieder!! Mir reicht´s jetzt langsam, Kai!“ Er holte aus und gab mir eine schallende Ohrfeige. So stark, das mir die Tränen in die Augen schossen. Er packte mich an den Schultern und schüttelte mich durch. Ich sah weinend auf den Boden. „Sieh mich gefälligst an, wenn ich mir dir rede!“ Aber ich konnte nicht. „Du sollst mich anschauen, verdammt!“ Und wieder holte er aus. Er traf fast dieselbe Stelle, ich verlor das Gleichgewicht und fiel auf den Teppich. Die Tränen liefen nur so über mein Gesicht. Ich hielt mir mit einer Hand die Wange. Sie brannte wie Feuer. „Jetzt heulst du auch noch, steh auf! Steh auf, sag ich!“ Völlig außer sich zerrte er mich am Arm hoch. Er packte mich so fest, das es wehtat. Ich ging ein wenig mit hoch, damit nicht mein ganzes Gewicht an dieser schmerzenden Stelle war, wo er mich festhielt. Und als ich wieder stand, sah ich ihn tränenüberströmt an. Die Augen und die rechte Backe knallrot, der Mund leicht geöffnet. „Ich mach das nicht mehr mit, hörst du! Mir langt´s jetzt, Kai. Ständig dieses Scheiss Babygetue. Du bist doch nicht mehr normal!“ Er hielt mich immer noch fest und starrte mich an. Nein, das war nicht mehr mein Vater. Das kann er nicht sein, dachte ich mir. Ich bin doch sein Sohn. Warum hat er mich nicht mehr lieb? Warum versteht er mich denn nicht?“ „Bitte, Papa“, schniefte ich kaum verständlich, „du tust mir weh.“ Aber er lockerte seinen Griff nicht. „Das wird gleich noch viel weher tun, wenn du nicht endlich mit damit aufhörst! Wird endlich erwachsen, Kai!“ „Aber… aber… ich bin doch erst 13.“ „Das ist mir egal, du hörst damit auf und basta. Hast du mich verstanden!?“ Ich sah auf den Boden und sagte nichts. „HAST DU MICH VERSTANDEN, KAI!“ Er schrie diese Worte förmlich heraus. Und dann machte ich einen Fehler. Warum hab ich nicht den Mund gehalten. Ich sah auf, ihn an und wischte mir die Tränen aus dem Gesicht. Mit allem Mut, den ich noch hatte sagte ich:“ Nein, Papa, ich hab nicht verstanden. Und ich werde es auch nicht. Ich mach was ich will. Und wenn ich Windeln anziehe, ist es meine Sache. Und wenn ich Daumen lutsche, dann auch. Was geht dich das an? Du bist doch sowieso nie da, wenn ich dich brauch. Also, was kümmert es dich? Und lieb hast du mich sowieso nicht mehr. Weißt du was? Du kannst mich mal. Ich wünschte, Mama wäre noch hier.“ Oh Gott. Hab ich das wirklich gesagt? Respekt Kai. Hätte ich dir gar nicht zugetraut. Aber dieser Anfall von Selbstbewusstsein dauerte nicht mal 5 Sekunden. Denn genau diese Zeit brauchte mein Vater, um entsetzt seine Aktentasche fallen zu lassen, seinen Gürtel zu öffnen und aus den Hosenschlaufen zu ziehen. Ich kapierte natürlich, was das zu bedeuten hatte, obwohl es das erste Mal war, aber ich konnte nicht mehr rechtzeitig weglaufen. Und selbst wenn ich es geschafft hätte, wohin hätte ich rennen sollen? Wieder in die Küche? Ja, und dann? Sie hat nur eine Tür. Das Beste wäre, in mein Zimmer, aber dazu müsste ich leider an ihm vorbei, denn das liegt gleich neben der Eingangstüre links. Tja, weglaufen war also nicht, das heißt, ich versuchte es natürlich trotzdem, aber da hatte er mich schon am Arm gepackt. Und noch während er mich mit seiner linken Hand am meinem linken Arm festhielt, schlug er mit der rechten zu. Er traf meinen Nacken, meinen Rücken, meine Arme. Ich schrie vor Schmerzen. Meine Augen fest zusammen gepresst, schrie ich nur. Zuerst stand ich noch, zappelte an seiner Hand, die wie ein Schraubstock meinem Arm umschloss, aber dann ging ich in die Knie, er ließ mich los und ich versuchte mich so gut es ging, mit den Händen und Armen vor den Schlägen zu schützen. Aber es gelang mir kaum. Ich vernahm so was wie „Dir werde ich´s zeigen, wer hier das sagen hat“ oder „Du undankbarer Hund“ oder „Haufen Scheisse“. Er drosch weiter auf mich ein. Immer weiter und weiter. Das Ende des Gürtels (wenn man hier von Glück reden kann, war es nicht die Schnalle) klatschte ich weiß nicht wie oft auf meine nackte Haut und hinterließ roten Striemen. Ich konnte nichts tun. Ich war völlig hilflos. Ich konnte nur hoffen, dass er endlich aufhörte, mich zu schlagen…
Ja, er hörte auf. Es kam mir wie eine Ewigkeit vor, aber in Wirklichkeit waren es nur vielleicht nicht mal 2 Minuten. Ich lag mit der rechten Körperseite auf dem Boden und krümmte mich vor Schmerzen. Mein Rücken war ein einziger Feuerball, die Arme brannten bei jeder Bewegung. Ich hatte immer noch die Augen geschlossen und wimmerte vor mich hin. Mein Vater stand schnaufend im Flur und ließ den Gürtel fallen. Er fasste sich an die Stirn. Schweißperlen waren dort zu sehen. Er atmete sehr schnell, sein Puls musste rasen vor Erregung. Ich weiß nicht genau, was ich mir jetzt erhoffte. Das er mich nun in den Arm nimmt und mich irgendwie tröstet oder so was, oder das er einfach geht. Das er einfach verschwindet. Und das tat er auch. Er hob seinen Gürtel auf und stolperte aus der Wohnung. Laut fiel die Tür ins Schloss. Mich ließ er einfach liegen. Ganz alleine liegen.
Es dauerte schon ein wenig, bis ich traute, mich zu bewegen. Die Schmerzen der brennenden Haut, die meinen Rücken erstarren ließen, waren zu groß. Bei jeder noch so kleinen Bewegung durchfuhr mich ein bisher noch nie gekannter Stich, der mich aufschreien ließ. Nicht laut, aber heftig. Ein kurzes „AH“ mit zusammengekniffenen Augen. Und danach wieder leises Wimmern. Ich konnte es nicht fassen, was so eben passiert. Mein Vater hatte mich tatsächlich verprügelt. Ich hätte nie gedacht, dass es mal so weit kommen würde. Und wieder fragte ich mich, ob ich an allem schuld war. War ich es, der ihn so provoziert hatte? Das er so austickte? Naja, in gewisser Weise schon, denn hätte ich getan, was er gesagt hat, beziehungsweise es unterlassen, mich wie ein “Baby“ aufzuführen, wäre es wohl nicht so passiert. Das leuchtete mir ein. Aber gab es ihm auch das Recht, mich deswegen zu schlagen? Wieder durchzuckte mich ein schmerzender Blitz. Ich versuchte, mich aufzurichten, ließ es aber dann sofort. Stattdessen krabbelte ich auf allen vieren in mein Zimmer und auf mein Bett. Sich auf den Rücken zu legen war undenkbar, also ließ ich mich erschöpft auf den Bauch fallen. Die Matratze federte leicht nach. Eigentlich konnte ich es kaum fassen, was soeben passiert war. So was war für mich einfach unvorstellbar. Ich meine, ich habe schön öfter mal was hinter die Ohren auf den Arsch gekriegt, aber noch nie so fest und schmerzhaft. Und auch nur mit der flachen Hand und nicht mit einem Gürtel. Auch meine Mutter hat mir schon mal eine geknallt, aber auch nur dann, wenn ich wirklich besonders frech zu ihr war. Und dann, nach kurzer Zeit, kam sie immer zu mir und nahm mich in den Arm zum trösten. Ja, dann wusste ich, das alles wieder gut war und ich verstand auch, das ich eine Strafe verdient hatte. Aber diesmal? Ich fing wieder an, zu weinen. Und je mehr ich darüber nachdachte, umso schlechter ging’s mir. Denn ich kam nur zur einer einzigen Erklärung: Dein Papa hat dich nicht mehr lieb. Anders kann es nicht sein. Er hat dich sehr fest geschlagen. Er hat dich beschimpft. Schlimme Worte hat er zu dir gesagt. Und das allerschlimmste, er kommt nicht zum trösten. Er ist einfach gegangen. So, als wenn nichts wäre. Er kann dich nicht mehr lieb haben, Kai, dachte ich. Das ist aus und vorbei. Sonst wäre das nicht passiert.
Es tat unvorstellbar weh. Nicht nur der Rücken oder die Arme. Es war tiefer. In mir drin. Ich fühlte mich so allein, so im Stich gelassen. Ich fühlte mich plötzlich ungeliebt und wertlos. So „im Weg“. Deinem Papa in der Quere. Aber ich habe doch nur ihn. Ich habe ihn doch lieb. Oder doch nicht? Jetzt nicht mehr? Ich wusste es nicht. Ich musste plötzlich laut aufschreien und bekam einen immensen Heulkrampf. Die Tränen liefen wie Bäche über mein Gesicht, meine Finger krallten sich in das Betttuch. Mein ganzer Körper erzitterte. Ja, du hast Recht. Du bist nichts wert, Kai. Du bist nichts weiter als ein kleiner, dummer Junge, er jedem im Weg steht. Vor allem deinem Vater. Kein Wunder, das er dich geschlagen hat. Du hast es verdient. Diese Gedanken sausten wie ein Sturm durch mein Gehirn. Und sie waren tausendmal schlimmer wie das Brennen auf meinem Rücken…
Es muss eine Stunde vergangen sein, vielleicht sogar noch mehr, als ich mich wieder einkriegte. Die Tränen versiegten, vermutlich hatte ich keine mehr, die Krämpfe in meinen Muskeln ließen nach. Langsam wurden auch die Schmerzen weniger und ich atmete ein paar Mal tief durch. Ich konnte mich nun aufrichten. Vorsichtig aber stetig bewegte ich mich, bis ich endlich auf der Bettkante saß. Wieder kurzes Durchatmen und ich stand auf. Ich grinste ganz leicht, wohl deswegen, weil mein Rücken nicht mehr so schmerzte, wie noch vor etwa einer Stunde. Ich beschloss, ins Bad zu gehen, um ihn im Spiegel zu betrachten. Schon auf dem Weg dorthin stellte ich ihn mir knallrot und blutig vor, aber dem war nicht so. Ich entdeckte „nur“ die roten Striemen. Keine Wunde blutete. Vorsichtig tastete ich mich zu einem erreichbaren Streifen vor und zuckte sofort zusammen, als ich ihn berührte. Mann, tat das weh. Wie Feuer brannte das. Hoffentlich wird das bald besser, dachte ich. Sonst kannst du dich morgen in der Schule nicht mal anlehnen. Ich drehte mich wieder um und sah in den Spiegel. Deutlich erkannte ich die leicht geschwollenen, Augen, die vom vielen Weinen immer noch gerötet waren. Außerdem war mein ganzes Gesicht irgendwie rot. Ich hatte mich noch nie so gesehen. Das erschrak mich. Ich sah so… so traurig aus. Und auch so hilflos. So fremd. Und während ich mich so ansah, fühlte ich mich wieder so unglaublich einsam. So allein. Wenn ich doch nur jemanden zum Reden hätte. Jemanden, der mir zuhört. Aber ich war ja allein. Die Wohnung war völlig leer. Mit hängendem Kopf ging ich in mein Zimmer zurück, setzte mich aufs Bett und drückte meinen Teddy fest an mich. Seine, mit braunem Plüsch bedeckten Arme streiften leicht die meinigen und trafen eine gerötete Stelle. Wieder jagte ein brennender Schmerz durch mich und ließ mich zusammenfahren. Doch ich drückte ihn noch fester an mich und nahm noch zusätzlich meinen Daumen in dem Mund. Einige Minuten saß ich so da. Der Teddy und der Daumen trösteten mich ein wenig. Und gleichzeitig ängstigten sie mich. Denn gerade das machte ja meinen Vater so wütend. Dieses Babygetue. Und ich kann ihm nicht beweisen, das ich das trotzdem brauche. Das ist das Problem. Aber selbst wenn, ich glaube, er würde es nicht verstehen. „Werde erwachsen, Kai. Und zwar schnell!“ Das ist sein Lieblingssatz. Und: „Nimm den Daumen raus und die Windel ab. Werde endlich ein Mann!“ Ich will aber nicht. Ich brauch das. Das hilft mir. Ehrlich. Warum verstehst du mich denn nicht, Papa…
Schließlich stand ich wieder auf und schaltete den Computer ein. Immer noch daumenlutschend beobachtete ich den Bootvorgang. Mein Teddy saß auf meinem Schoß. Nach erfolgreicher Anmeldung verband ich mich mit dem Internet und dem Chat-Messenger. Vielleicht war Stefan ja on. Ich hoffte es nicht nur, ich wünschte mir es sogar. Wie schon erwähnt, war Stefan mit bester Chatfreund. Wir kannten uns zwar erst seit September, ...